Im vollen Bauch von Flug 113 schlief Jason Bourne, aber in seinem Unterbewusstsein lief sein Leben — ein weit zurückliegendes Leben, das er längst begraben hatte — wieder vor ihm ab. Seine Träume waren übervoll von Bildern, Emotionen, Stimmen und Gerüchen, die er in den verstrichenen Jahren mit aller Kraft so tief ins Unbewusste hinabgestoßen hatte.
Was war an jenem heißen Sommertag in Phnom Penh geschehen? Das wusste niemand. Zumindest kein Lebender. Tatsache war jedoch: Während er im US-Diploma-tenkomplex gelangweilt und ruhelos bei einer Besprechung in seinem klimatisierten Büro gesessen hatte, war seine Frau Dao mit ihren beiden Kindern in dem breiten, schlammigen Fluss vor ihrem Haus schwimmen gegangen. Dann war wie aus dem Nichts ein feindliches Flugzeug auf sie herabgestoßen. Es hatte David Webbs Frau und Kinder, die im Fluss schwammen und planschten und spielten, im Tiefflug mit Bordwaffen angegriffen.
Wie viele Male hatte er sich diese Schreckensszene ausgemalt? Hatte Dao das Flugzeug noch gesehen? Aber es war so schnell auf sie herabgestoßen, hatte sie in lautlosem Sinkflug überrascht. Jedenfalls musste sie ihre Kinder bei einem vergeblichen Versuch, sie zu retten, an sich gezogen, unter Wasser gedrückt und mit dem eigenen Leib gedeckt haben, noch während ihre Schreie in ihren Ohren gellten und ihr Blut ihr Gesicht befleckte, noch während sie den Schmerz ihres eigenen Todes spürte. Das war zumindest, was er geglaubt, wovon er geträumt, was ihn fast zum Wahnsinn getrieben hatte. Denn die Schreie, die Dao seiner Vorstellung nach unmittelbar vor dem Ende gehört haben musste, waren dieselben Schreie, die er Nacht für Nacht hörte, bevor er in Schweiß gebadet mit Herzjagen hochfuhr. Diese Träume hatten ihn gezwungen, das Haus und alles, woran er hing, aufzugeben, weil der Anblick jedes vertrauten Gegenstands wie ein Stich ins Herz war. Er war aus Phnom Penh nach Saigon geflüchtet, wo Alexander Conklin sich seiner angenommen hatte.
Hätte er nur seine Albträume in Phnom Penh zurücklassen können! In den schwülheißen Dschungeln Vietnams hatten sie ihn heimgesucht, als seien sie Wunden, die er sich selbst wieder und wieder beibringen müsse. Denn eine Tatsache blieb unverändert wahr: Er konnte es sich nicht verzeihen, dass er nicht zu Hause gewesen war und seine Frau und seine Kinder beschützt hatte.
Jetzt schrie er in seinen gequälten Träumen zehntausend Meter über dem stürmischen Nordatlantik auf. Wozu taugt ein Ehemann und Familienvater, fragte er sich wie unzählige Male zuvor, wenn er es nicht schafft, seine Familie zu beschützen?
Um fünf Uhr morgens wurde der CIA-Direktor aus tiefem Schlaf durch einen dringenden Anruf der Nationalen Sicherheitsberaterin geweckt, die ihn in einer Stunde in ihr Büro beorderte. Wann schläft diese Hexe eigentlich? fragte er sich, als er den Hörer auflegte. Er saß auf der Bettkante und kehrte Madeleine den Rücken zu. Sie wacht von nichts mehr auf, dachte er säuerlich. Madeleine hatte sich längst angewöhnt, auch bei nächtlichen oder frühmorgendlichen Anrufen weiterzuschlafen.
«Aufwachen!«, sagte er und rüttelte sie wach.»Im Dienst geht’s wieder mal rund, und ich brauche Kaffee.«
Ohne sich mit einem Wort zu beschweren, stand sie auf, schlüpfte in Morgenrock und Pantoffeln und folgte dem Gang zur Küche.
Der Direktor rieb sich das Gesicht, patschte barfuß ins Bad und ließ die Tür hinter sich offen. Auf dem WC sitzend rief er seinen Stellvertreter an. Warum sollte Lindros schlafen, verdammt noch mal, wenn sein Vorgesetzter es nicht tat? Zu seinem Erstaunen war Martin Lindros jedoch hellwach.
«Ich habe die ganze Nacht im Vier-Null-Archiv verbracht. «Lindros sprach von den in einem Hochsicherheitstrakt gelagerten Personalakten aller CIA-Mitarbeiter.»Ich glaube, ich weiß jetzt alles, was es über Alex Conklin und Jason Bourne zu wissen gibt.«
«Klasse. Dann schaffen Sie mir Bourne her.«
«Sir, nachdem ich nun alles über die beiden weiß, wie eng sie zusammengearbeitet, wie oft sie verdammt viel für einander riskiert und sich gegenseitig das Leben gerettet haben, halte ich’s für äußert unwahrscheinlich, dass Bourne Alex Conklin ermordet haben soll.«
«Alonzo-Ortiz will mich sprechen«, sagte der Direktor gereizt.»Glauben Sie, ich sollte ihr nach dem Fiasko am Washington Circle diese Mitteilung machen?«
«Nein, vielleicht nicht, aber.«
«Da haben Sie gottverdammt Recht, Sonnyboy. Ich muss ihr Tatsachen berichten — Tatsachen, die zusammengenommen eine gute Nachricht ergeben.«
Lindros räusperte sich.»Im Augenblick weiß ich leider keine. Bourne ist verschwunden.«
«Verschwunden? Jesus, Martin, was für eine Art Geheimdienst führen Sie eigentlich?«
«Der Mann ist ein Zauberer.«
«Er besteht aus Fleisch und Blut, genau wie jeder andere«, donnerte der Alte.»Warum zum Teufel ist er Ihnen wieder durch die Lappen gegangen? Ich dachte, Sie hätten alle Schlupflöcher verstopft!«
«Das haben wir auch. Er ist einfach…«
«Verschwunden, ich weiß. Ist das alles, was Sie für mich haben? Dafür reißt Alonzo-Ortiz mir meinen gottverdammter Kopf ab, aber nicht bevor ich Sie einen Kopf kürzer gemacht habe!«
Der CIA-Direktor unterbrach die Verbindung und warf das schnurlose Telefon durch die offene Tür aufs Bett. Als er geduscht, sich angezogen und einen Schluck Kaffee aus dem Becher genommen hatte, den Madeleine ihm diensteifrig hinhielt, stand sein Wagen bereits vor der Tür.
Beim Wegfahren warf er noch einen Blick durch die dunkle Panzerglasscheibe auf die Fassade seines Hauses: dunkelroter Klinker mit helleren Ecksteinen, funktionierende Läden an allen Fenstern. Es hatte einst einem russischen Tenor, einem Maxim Wasweißich, gehört, aber dem Direktor gefiel es, weil es eine gewisse mathematische Eleganz, einen aristokratischen Stil besaß, den modernere Häuser nicht mehr hatten. Das Beste daran war seine private Atmosphäre wie in der Alten Welt, die es einem gepflasterten Innenhof verdankte, der von grün belaubten Pappeln und einem kunstvoll geschmiedeten Eisenzaun abgeschirmt wurde.
Er lehnte sich in die weichen Polster des Lincoln Town Cars zurück und beobachtete mürrisch, wie Washington um ihn herum weiterschlief. Jesus, um diese Zeit sind nur die gottverdammten Rotkehlchen auf, dachte er. Stehen mir nicht die Privilegien eines hohen Dienstalters zu? Habe ich’s nach so vielen Dienstjahren nicht verdient, länger als bis fünf Uhr schlafen zu dürfen?
Sie fuhren in raschem Tempo auf der Arlington Memorial Bridge über den Potomac, der bleigrau unter ihnen lag und hart und flach wie die Landebahn eines Flughafens wirkte. Jenseits des Flusses überragte das Washington Monument den dorisch anmutenden Tempel des Lincoln Memorials; der Obelisk war so dunkel und bedrohlich wie die Speere, die die Spartaner einst in die Herzen ihrer Feinde stießen.
Jedes Mal wenn das Wasser über ihm zusammenschlägt, hört er ein musikalisches Geräusch wie von den Glocken der Mönche, das in den bewaldeten Bergen von einem Grat zum anderen hallt — der Mönche, auf die er in seiner Zeit bei den Roten Khmer Jagd gemacht hat. Und er hat den Geruch nach — was ist das gleich wieder? — Zimt in der Nase. Das bösartig reißende Wasser ist voller Klänge und Gerüche, deren Herkunft ihm unklar bleibt. Es scheint ihn in die Tiefe zu reißen, und er versinkt erneut. Obwohl er mit aller Kraft kämpft, sich verzweifelt anstrengt, wieder an die Oberfläche zu gelangen, fühlt er sich, wie mit Blei belastet, in Spiralen in die Tiefe sinken. Seine Hände krallen nach dem dicken Tau, das um seinen linken Fußknöchel geknotet ist, aber es ist so schleimig, dass es ihm immer wieder durch die Finger gleitet. Was hängt am Ende dieses Taus? Er späht in die dämmrige Tiefe, in die er hinabgezogen wird. Er hat das Gefühl, unbedingt erfahren zu müssen, was ihn in den Tod zieht, als könnte dieses Wissen ihn vor einem namenlosen Schrecken bewahren. Er sinkt, sinkt, wird ins Dunkel hinabgezogen, ohne das Wesen seiner verzweifelten Notlage verstehen zu können. Unter sich, am Ende des straff gespannten Taus, sieht er Umrisse: das Ding, das seinen Tod bewirken wird. Emotionen stecken in seiner Kehle wie ein Mund voll Nesseln, und als er die Umrisse zu identifizieren versucht, hört er wieder das musikalische Geräusch, diesmal deutlicher; das sind keine Glocken, sondern ist etwas anderes, an das er sich kaum noch erinnert, obwohl es ihm einst vertraut war. Und dann erkennt er endlich das Ding, das ihn in die Tiefe zieht: Es ist ein Leichnam. Plötzlich beginnt er zu weinen…
Chan schrak auf, hatte noch ein Wimmern in der Kehle stecken. Er biss sich fest auf die Unterlippe, sah sich in der abgedunkelten Flugzeugkabine um. Vor den Fenstern herrschte noch pechschwarze Dunkelheit. Er war eingeschlafen, obwohl er sich vorgenommen hatte, das auf keinen Fall zu tun, weil er wusste, dass er dann in seinem wiederkehrenden Albtraum gefangen sein würde. Er stand auf und ging auf die Toilette, wo er Papierhandtücher benützte, um den Schweiß von Gesicht und Armen zu wischen. Er fühlte sich müder als beim Start des Flugzeugs. Während er sein Gesicht im Spiegel anstarrte, gab der Pilot die Restflugzeit durch: noch vier Stunden und fünfzig Minuten nach Paris-Orly. Für Chan eine
Als er die Toilette verließ, standen draußen mehrere Leute an. Er kehrte langsam an seinen Platz zurück. Jason Bourne hatte ein bestimmtes Ziel; das wusste er aus den
Informationen, die er von dem Schneider Fine erhalten hatte: Bourne war jetzt im Besitz eines Päckchens, das für Alex Conklin bestimmt gewesen war. War es denkbar, fragte er sich, dass Bourne jetzt Conklins Identität annahm? Das war etwas, worüber er an Bournes Stelle nachgedacht hätte.
Chan starrte aus dem Kabinenfenster in die schwarze Nacht hinaus. Bourne befand sich irgendwo in der weitläufigen Metropole vor ihm, das stand fest, aber er hatte keinen Zweifel daran, dass Paris nur ein Etappenziel war. Wo Bournes endgültiges Ziel lag, würde sich erst noch zeigen müssen.
Die Assistentin der Nationalen Sicherheitsberaterin räusperte sich diskret, und der CIA-Direktor sah auf seine Uhr. Roberta Alonzo-Ortiz, die Hexe, ließ ihn nun schon fast vierzig Minuten warten. Innerhalb des Beltways waren kleine Machtspiele an der Tagesordnung, aber Alonzo-Ortiz war eine Frau, verdammt noch mal. Und gehörten sie nicht beide dem Nationalen Sicherheitsrat an? Aber sie war vom Präsidenten direkt ernannt worden, auf sie hörte er mehr als auf alle anderen. Wo zum Teufel steckte Brent Scowcroft, wenn man ihn brauchte? Der Direktor setzte ein Lächeln auf, als er sich von dem Fenster abwandte, durch das er hinausgestarrt hatte, während er nachdachte.
«Sie hat jetzt Zeit für Sie«, gurrte die Assistentin zuckersüß.»Ihr Telefongespräch mit dem Präsidenten wurde soeben beendet.«
Die Hexe lässt keinen Trick aus, dachte der CIA-Direktor. Wie sie’s genießt, mir ihre Macht und ihren Einfluss zu demonstrieren!
Die Nationale Sicherheitsberaterin war hinter ihrem riesigen Schreibtisch verschanzt: einem antiken Möbel, das sie auf eigene Kosten hatte hertransportieren lassen. Der Direktor fand es lächerlich, zumal auf dem Schreibtisch außer einem Telefon nur die Schreibgarnitur aus Messing stand, die der Präsident ihr geschenkt hatte, als sie ihre Nominierung für diesen Posten akzeptiert hatte. Er traute Leuten mit aufgeräumten Schreibtischen grundsätzlich nicht. Hinter ihr standen in prächtigen goldenen Halterungen die Stars and Stripes und eine Fahne mit dem Wappen des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Dahinter ging der Blick in den Lafayette Park hinaus. Vor dem Schreibtisch standen zwei gepolsterte Besucherstühle mit hohen Lehnen. Der Alte betrachtete sie leicht sehnsüchtig.
Roberta Alonzo-Ortiz, die zu einem dunkelblauen Strickkostüm eine weiße Seidenbluse trug, wirkte hellwach und munter. Ihre Ohrstecker waren goldgeränderte Miniaturausgaben der US-Flagge in farbigem Email.
«Ich habe gerade mit dem Präsidenten telefoniert«, sagte sie ohne Einleitung, ohne auch nur» Guten Morgen «oder» Bitte nehmen Sie Platz «zu sagen.
«Ja, das weiß ich von Ihrer Assistentin.«
Alonzo-Ortiz funkelte ihn an, was ihn wieder daran erinnerte, dass sie es hasste, unterbrochen zu werden.»Bei dem Gespräch ist’s um Sie gegangen.«
Trotz aller guten Vorsätze fühlte der Direktor eine Hitzewelle durch seinen Körper fluten.»Dann hätte ich vielleicht dabei sein sollen.«
«Das wäre unpassend gewesen. «Die Nationale Sicherheitsberaterin sprach weiter, bevor er auf diesen verbalen Schlag ins Gesicht reagieren konnte.»Der Terrorismusgipfel beginnt in fünf Tagen. Alle Vorbereitungen sind getroffen, deshalb schmerzt es mich, wiederholen zu müssen, dass diese Sache ein Eiertanz ist. Nichts darf das Gipfeltreffen stören, vor allem kein durchgeknallter ehemaliger CIA-Killer. Der Präsident geht davon aus, dass der Gipfel ein klarer Erfolg wird. Er will ihn zum Eckstein der Kampagne für seine Wiederwahl machen. Sogar noch mehr: Er sieht darin sein politisches Vermächtnis. «Sie legte beide Hände flach auf die polierte Schreibtischplatte.»Eines will ich Ihnen ganz deutlich sagen — der Gipfel hat für mich absoluten Vorrang. Sein Erfolg wird bewirken, dass diese Präsidentschaft noch in Generationen gepriesen und verehrt werden wird.«
Der Direktor musste sich diesen Monolog stehend anhören, denn er war nicht aufgefordert worden, Platz zu nehmen. Die Standpauke wurde durch ihre Untertöne besonders beschämend. Er hielt nichts von Drohungen, und schon gar nichts von versteckten. Er kam sich vor, als würde er in der Grundschule zum Nachsitzen verdonnert.
«Ich musste ihm von der Sache unter dem Washington Circle berichten«, sagte sie mit einer Miene, als habe der Direktor sie gezwungen, eine Schaufel Scheiße ins Oval Office zu tragen.»Jedes Versagen hat Konsequenzen; die hat es immer. Sie müssen dem Ungeheuer einen Pflock durchs Herz schlagen, damit es so rasch wie möglich begraben werden kann. Haben Sie mich verstanden?«
«Vollkommen.«
«Weil sich diese Sache nämlich nicht von selbst erledigt«, fügte die Nationale Sicherheitsberaterin hinzu.
An der Schläfe des Direktors hatte eine Ader zu klopfen begonnen. Er empfand den Drang, ihr irgendwas an den Kopf zu werfen.»Ich habe bereits gesagt, dass ich vollkommen verstanden habe.«
Roberta Alonzo-Ortiz musterte ihn einen Augenblick, als versuche sie, seine Glaubwürdigkeit einzuschätzen. Schließlich fragte sie:»Wo ist Jason Bourne?«
«Er ist ins Ausland geflüchtet. «Der Direktor ballte die Hände so angestrengt zusammen, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Er brachte es nicht über sich, dem Hexenweib zu gestehen, dass Bourne einfach verschwunden war. Auch so brachte er die Worte kaum heraus. Aber sobald er ihren Gesichtsausdruck sah, erkannte er, dass das die falsche Antwort gewesen war.
«Ins Ausland geflüchtet?«Alonzo-Ortiz stand auf.»In welches Ausland?«
Der CIA-Direktor schwieg.
«Ah, ich verstehe. Gelangt Bourne auch nur in die Nähe von Reykjavik…«
«Weshalb sollte er das tun?«
«Das weiß ich nicht. Er ist verrückt — haben Sie das vergessen? Er ist total durchgeknallt. Und er muss wissen, dass eine Sabotage der Sicherheitsmaßnahmen beim Gipfeltreffen uns in höchste Verlegenheit bringen würde. «Ihr Zorn war fast mit Händen zu greifen, und der Direktor hatte erstmals wirklich Angst vor ihr.
«Ich will Bournes Tod«, sagte sie mit stählerner Stimme.
«Genau wie ich. «Der Direktor kochte innerlich.»Er hat schon zwei Männer getötet, und einer war ein alter Freund von mir.«
Die Nationale Sicherheitsberaterin kam hinter ihrem Schreibtisch hervor.»Der Präsident verlangt, dass Bourne liquidiert wird. Ein übergeschnappter Agent — und wir wollen ehrlich zugeben, dass Jason Bourne der schlimmstmögliche Fall ist — stellt ein Risiko dar, das wir auf keinen Fall eingehen dürfen. Drücke ich mich deutlich genug aus?«
Der CIA-Direktor nickte nachdrücklich.»Glauben Sie mir, Bourne ist so gut wie tot, spurlos verschwunden, als habe er nie gelebt.«
«Aus Ihrem Mund in Gottes Ohr. Der Präsident behält Sie im Auge«, sagte Roberta Alonzo-Ortiz und beendete das Gespräch ebenso abrupt und unfreundlich, wie sie es begonnen hatte.
Jason Bourne erreichte Paris an einem nassen, wolkenverhangenen Morgen. Im Regen machte die Lichterstadt Paris nicht gerade den besten Eindruck. Die Häuser mit Mansardendächern sahen grau und blass aus, und die sonst so belebten Cafes auf den Gehsteigen waren nahezu leer. Das Leben ging auch gedämpft weiter, aber die Stadt war anders, als wenn sie im Sonnenschein leuchtete und glänzte, wenn an jeder Ecke Lachen und lebhafte Gespräche zu hören waren.
Bourne war körperlich und emotional erschöpft und hatte den größten Teil des Fluges zusammengerollt auf der Seite liegend verschlafen. Obwohl sein Schlaf immer wieder durch verstörende Albträume unterbrochen wurde, gewährte er Bourne doch eine dringend benötigte Erholungspause von den Schmerzen, die ihn in der ersten Stunde nach dem Start gequält hatten. Als er durchfroren und steif aufwachte, musste er wieder an den Steinbuddha um Chans Hals denken. Die kleine Statue schien ihn grinsend zu verspotten: ein Rätsel, das noch gelöst werden musste. Er wusste, dass solche Kleinstatuen ein Massenartikel waren — allein in dem Laden, in dem Dao und er einen für Joshua ausgesucht hatten, hatte es über ein Dutzend gegeben! Und er wusste, dass viele asiatische Buddhisten solche Talismane zum Schutz und als Glücksbringer trugen.
Vor seinem inneren Auge erschien wieder Chans wissender Gesichtsausdruck, so von Erwartung und Hass leuchtend, als er gesagt hatte: »Den kennst du, nicht wahr?« Und er hatte so gewaltsam hervorgestoßen: »Er gehört mir, Bourne. Hast du verstanden? Dieser Buddha gehört mir!« Chan war nicht Joshua Webb, das wusste Bourne jetzt. Chan war clever, aber auch grausam: ein Profikiller, der schon oft gemordet hatte. Er konnte nicht Bournes Sohn sein.
Trotz starker Querwinde vor Neufundland landete Flug 113 von Rush Service halbwegs pünktlich auf dem Pariser Flughafen Charles de Gaulle. Bourne hätte den Frachtraum am liebsten gleich nach der Landung verlassen, aber er widerstand diesem Drang.
Um sie herum rollten, landeten und starteten weitere Maschinen. Stieg er jetzt aus, würde er exponiert auf einer Fläche stehen, die auch das Flughafenpersonal im Regelfall nicht betreten durfte. Also wartete er geduldig, während das Flugzeug von der Landebahn rollte.
Als es langsamer wurde, wusste er, dass er jetzt handeln musste. Solange die Maschine mit noch arbeitenden Triebwerken rollte, würde sich ihr niemand vom Bodenpersonal nähern. Er öffnete die Frachtraumtür und sprang auf den Asphalt hinunter, als eben ein Tankwagen vorbeifuhr. Bourne sprang hinten auf. Während er sich dort festklammerte, wurde er von heftiger Übelkeit erfasst, weil starke Kerosindämpfe die Erinnerung an
Chans Überraschungsangriff wachriefen. Er sprang möglichst rasch wieder ab und gelangte auf Umwegen ins Terminal.
Drinnen prallte er mit einem Arbeiter an der Laderampe zusammen, entschuldigte sich in fließendem Französisch und hielt sich mit einer Hand den Kopf, um anzudeuten, wie schlimm seine Migräne sei. Hinter der nächsten Biegung des Korridors benützte er den Dienstausweis, den er dem Arbeiter gerade geklaut hatte, um durch zwei Türen ins eigentliche Terminal zu gelangen, das zu seiner Verblüffung nur ein umgebauter Hangar war. Dort waren verdammt wenige Leute unterwegs, aber immerhin hatte er erfolgreich die Pass- und Zollkontrollen umgangen.
Bei erster Gelegenheit warf er den geklauten Dienstausweis in einen Abfallbehälter. Er wollte nicht mit ihm erwischt werden, wenn der Arbeiter ihn als verloren meldete. Unter einer großen Wanduhr stehend stellte er seine Armbanduhr. In Paris war es wenige Minuten nach sechs Uhr morgens. Er rief Robbinet an und erklärte ihm, wo er war.
Der Minister wirkte leicht verwirrt.»Bist du mit einem Charterflugzeug angekommen, Jason?«
«Nein, mit einer Frachtmaschine.«
«Bon, das erklärt, warum du im alten Terminal drei bist. Die Maschine muss von Orly aus umgeleitet worden sein«, sagte Robbinet.»Bleib einfach, wo du bist, mon ami. Ich hole dich sofort ab. «Er lachte halblaut.»Erst mal: Willkommen in Paris. Unheil und Verwirrung deinen Verfolgern!«
Bourne verschwand auf der Herrentoilette, um sich zu waschen. Aus dem Spiegel starrte ihn ein ausgezehrtes
Gesicht mit gehetztem Blick und blutiger Kehle an — jemand, den er kaum wiedererkannte. Er ließ Wasser in seine hohlen Hände laufen und spülte damit Schmutz, Schweiß und die Reste des zuvor aufgetragenen Makeups ab. Mit einem feuchten Papierhandtuch säuberte er die dunklen Ränder des Schnitts quer über seiner Kehle. Er wusste, dass er dort möglichst bald eine desinfizierende Salbe auftragen musste.
Seine Magennerven waren verkrampft, und obwohl er keinen Hunger hatte, wusste er, dass er Nahrung brauchte. In unregelmäßigen Abständen hatte er wieder den Geschmack von Kerosin im Mund und musste jedes Mal würgen, wobei seine Augen vor Anstrengung tränten. Um sich von diesem jammervollen Zustand abzulenken, machte er in einer WC-Kabine fünf Minuten lang Stretching und anschließend fünf Minuten Gymnastik, um seine schmerzenden und verkrampften Muskeln zu lockern. Er ignorierte die Schmerzen, die diese Übungen verursachten, und konzentrierte sich stattdessen darauf, tief und gleichmäßig zu atmen.
Als er wieder ins Terminal hinaustrat, wartete dort schon Jacques Robbinet auf ihn. Er war ein großer, außergewöhnlich sportlicher Mann, der einen dunkelblauen Nadelstreifenanzug, glänzend geputzte feste Schuhe und einen modischen Tweedmantel trug. Er war nun älter und ein wenig grauer, aber ansonsten die Gestalt aus Bournes Erinnerungsfragment.
Er entdeckte Bourne sofort und grinste zur Begrüßung, wartete jedoch an seinem Platz auf seinen alten Freund und bedeutete ihm mit einem Handzeichen, nach rechts durchs Terminal weiterzugehen. Bourne entdeckte sofort den Grund seiner Zurückhaltung. Mehrere Beamte der
Police Nationale hatten den ehemaligen Hangar betreten und befragten das Flughafenpersonal — zweifellos auf der Suche nach dem Verdächtigen, der den Dienstausweis des Arbeiters entwendet hatte. Bourne bewegte sich ohne sichtbare Eile. Er hatte den Ausgang schon fast erreicht, als er zwei weitere Polizeibeamte mit vor der Brust getragenen Maschinenpistolen sah, die jeden aufmerksam beobachteten, der das Terminal betrat oder verließ.
Robbinet hatte sie ebenfalls gesehen. Er hastete mit gerunzelter Stirn an Bourne vorbei, trat ins Freie und sprach die Polizeibeamten an. Sobald er seinen Namen genannt hatte, meldeten sie ihm, sie fahndeten nach einem Verdächtigen — einem mutmaßlichen Terroristen —, der einem Arbeiter an der Laderampe den Dienstausweis gestohlen habe. Sie zeigten ihm sogar ein Fax mit Bournes Fahndungsfoto.
Nein, der Minister hatte diesen Mann nicht gesehen. Aber Robbinet setzte ein ängstliches Gesicht auf. Vielleicht — war das nicht denkbar? — habe dieser Terrorist es auf ihn abgesehen, sagte er. Ob sie so freundlich wären, ihn zu seinem Wagen zu begleiten?
Sobald die drei Männer weggegangen waren, schlüpfte Bourne durch die Tür in den grauen Nebel hinaus. Er sah, wie die Polizeibeamten Robbinet zu seinem Peugeot begleiteten, und ging in Gegenrichtung davon. Als der Minister einstieg, warf er Bourne einen heimlichen Blick zu. Er bedankte sich bei den Polizeibeamten, die auf ihren Posten am Eingang zum Terminal zurückkehrten.
Robbinet fuhr an, wendete und kam zurück, um den Flughafen zu verlassen. Außer Sichtweite der Polizeibeamten bremste er, hielt an und fuhr das rechte Fenster herunter.
«Das war knapp, mon ami.«
Als Bourne einsteigen wollte, schüttelte Robbinet jedoch den Kopf.»Nachdem der gesamte Flughafen alarmiert ist, kontrolliert die Police Nationale bestimmt an allen Zufahrtsstraßen. «Er griff nach unten, entriegelte den Kofferraumdeckel.»Nicht gerade der bequemste Platz«, sagte er entschuldigend.»Aber vorläufig bestimmt der sicherste.«
Ohne ein Wort zu verlieren, kletterte Bourne in den Kofferraum und schloss den Deckel von innen. Der Minister fuhr weiter. Zum Glück hatte er vorausgedacht: Bevor er das Flughafengelände verlassen konnte, musste er zwei weitere Straßensperren passieren, an denen erst die Polizei und dann Beamte des französischen Geheim-diensts Surete Nationale kontrollierten. Der Minister wurde natürlich erkannt und durfte anstandslos passieren, aber er bekam beide Male Bournes Fahndungsfoto gezeigt und wurde gefragt, ob er diesen Mann gesehen habe.
Zehn Minuten nach dem Abbiegen auf die Ai hielt Robbinet auf einem Rastplatz hinter den Toiletten und öffnete den Kofferraum. Bourne kletterte heraus und stieg vorn rechts ein. Robbinet beschleunigte wieder und fuhr auf der Autobahn nach Norden.
«Das ist er!«Der Arbeiter tippte auf das grobkörnige Foto von Jason Bourne.»Das ist der Kerl, der meinen Ausweis geklaut hat!«
«Wissen Sie das bestimmt, Monsieur? Sehen Sie sich das Gesicht bitte noch einmal genau an. «Inspektor Alain Savoy schob das Foto etwas weiter zu dem potenziellen Zeugen hinüber. Sie befanden sich in einem fensterlosen
Raum im Terminal drei des Flughafens Charles de Gaulle, von dem aus Savoy die Fahndung nach dem Gesuchten koordinierte. In dem Kellerbüro roch es nach Schimmel und starken Desinfektionsmitteln. Der Inspektor hatte das Gefühl, ständig in solchen Räumen zu arbeiten. In seinem Leben gab es nichts Dauerhaftes.
«Ja, ja«, sagte der Arbeiter.»Er hat mich angerempelt, hat sich mit einer Migräne entschuldigt. Als ich zehn Minuten später durch eine Sicherheitsschleuse gehen wollte, war mein Dienstausweis weg. Er hat ihn mir geklaut!«
«Das wissen wir«, bestätigte Inspektor Savoy.»Ihr Ausweis ist an zwei Kontrollstellen registriert worden, als Sie ihn schon nicht mehr hatten. Hier. «Er legte dem Mann seinen am Overall zu tragenden Dienstausweis hin. Savoy war klein und litt darunter. Sein Gesicht wirkte so zerknittert wie sein dunkles Haar, das er ziemlich lang trug. Seine Lippen wirkten ständig wie geschürzt, als urteile er selbst in Ruhe über Schuld oder Unschuld.»Wir haben ihn in einem Abfallbehälter gefunden.«
«Danke, Inspektor.«
«Sie wissen, dass Sie eine Geldstrafe erwartet? Diese Sache kostet Sie einen Tageslohn.«
«Das ist unfair!«, protestierte der Arbeiter.»Das melde ich der Gewerkschaft. Die demonstriert für mich!«
Inspektor Savoy seufzte. Solche Drohungen war er gewöhnt. Die Gewerkschaftler demonstrierten ständig für oder gegen irgendwas.»Können Sie mir sonst noch etwas über den Vorfall erzählen?«Als der Mann den Kopf schüttelte, ließ Savoy ihn gehen. Er starrte das Fax aus Amerika an. Unter Jason Bournes Foto war eine
CIA-Telefonnummer angegeben. Der Inspektor klappte sein Tri-Band-Handy auf und tippte diese Kontaktnummer ein.
«Martin Lindros, Stellvertreter des Direktors.«
«Monsieur Lindros, hier ist Inspektor Savoy von der Surete. Wir haben Ihren Flüchtling gefunden.«
«Was?«
Auf Savoys unrasiertem Gesicht breitete sich ein langsames Lächeln aus. Da die Surete sonst immer am Tropf der CIA hing, war es ein Vergnügen, das auch den gekränkten Nationalstolz besänftigte, eine Umkehrung der gewohnten Situation zu erleben.
«Ganz recht. Jason Bourne ist heute gegen sechs Uhr Ortszeit auf dem Flughafen Charles de Gaulle angekommen. «Der Inspektor genoss das rasche Atemholen seines amerikanischen Gesprächspartners.
«Haben Sie ihn?«, fragte Lindros.»Befindet Bourne sich in Haft?«
«Leider nein.«
«Was soll das heißen? Wo ist er?«
«Das ist ein Rätsel. «Am anderen Ende herrschte so lange Schweigen, dass Savoy schließlich fragen musste:»Monsieur Lindros, sind Sie noch da?«
«Ja, Inspektor. Ich sehe nur meine Aufzeichnungen durch. «Wieder eine Pause, die jedoch kürzer war.»Alex Conklin hatte einen geheimen Kontaktmann in französischen Regierungskreisen — einen gewissen Jacques Rob-binet. Kennen Sie den?«
«Certainement, Monsieur Robbinet ist unser Kulturminister. Aber Sie wollen doch wohl nicht im Ernst behaupten, ein Mann in seiner Stellung könnte mit diesem Verrückten gemeinsame Sache machen?«
«Natürlich nicht«, sagte Lindros hastig.»Aber Bourne hat bereits Conklin ermordet. Ist er jetzt in Paris, könnte er es womöglich auf Monsieur Robbinet abgesehen haben.«
«Augenblick, bitte bleiben Sie dran. «Der Inspektor wusste bestimmt, dass er den Namen Jacques Robbinet heute schon einmal gehört oder gelesen hatte. Als er einem Mitarbeiter ein Zeichen machte, legte dieser ihm einen Ordner vor. Savoy blätterte rasch die Wortprotokolle der Befragungen durch, die alle möglichen Sicherheitsdienste an diesem Morgen auf dem Flughafen durchgeführt hatten. Tatsächlich entdeckte er dabei Robbinets Namen. Er meldete sich hastig wieder.»Monsieur Lindros, wie ich eben sehe, war Monsieur Robbinet heute Morgen hier.«
«Am Flughafen?«
«Ja, und nicht nur das. Er ist in demselben Terminal befragt worden, in dem Bourne war. Und er war sichtlich besorgt, als er erfahren hat, wer der Gesuchte ist. Er hat die Polizeibeamten sogar gebeten, ihn zu seinem Wagen zu begleiten.«
«Das erhärtet meine Theorie. «Eine Kombination aus Aufregung und Sorge ließ Lindros’ Stimme leicht atemlos klingen.»Inspektor, Sie müssen Robbinet finden — und das so schnell wie möglich!«
«Kein Problem«, meinte Inspektor Savoy.»Ich rufe einfach das Ministerium an.«
«Genau das tun Sie nicht«, erklärte Lindros ihm.»Unser Vorgehen muss absolut geheim bleiben.«
«Aber Bourne kann doch nicht…«
«Inspektor, im Lauf dieser Ermittlungen habe ich gelernt, niemals >Bourne kann nicht< zu sagen, weil ich weiß, dass er’s kann. Er ist ein extrem cleverer und gefährlicher Berufskiller. Wer sich in seine Nähe begibt, schwebt in Lebensgefahr, kapiert?«
«Pardon, Monsieur?«
Lindros merkte, dass er langsamer sprechen musste.»Wie Sie Robbinet aufspüren, ist mir egal, solange Sie unauffällig vorgehen. Schaffen Sie’s, den Minister zu überraschen, haben Sie gute Chancen, gleichzeitig auch Bourne zu überraschen.«
«D’accord.« Savoy stand auf, sah sich nach seinem Trenchcoat um.
«Hören Sie mir bitte gut zu, Inspektor«, sagte Lindros.»Ich fürchte, dass Monsieur Robbinet sich in akuter Lebensgefahr befindet. Jetzt hängt alles von Ihnen ab.«
Stahlbetontürme, Bürogebäude mit Glasfassaden und Fabriken, die nach amerikanischen Begriffen niedrig und klobig waren — und im düsteren Licht des wolkenverhangenen Tages noch hässlicher wirkten —, flitzten draußen vorbei. Wenig später bog Robbinet von der Autobahn ab und fuhr auf der D47 in den von Westen aufkommenden Regen weiter.
«Wohin fahren wir, Jacques?«, fragte Bourne.»Ich muss so schnell wie möglich nach Budapest.«
«D’accord«, sagte Robbinet. Er sah immer wieder in seinen Rückspiegel und hielt Ausschau nach Fahrzeugen der Police Nationale. Mit der Surete sah die Sache anders aus; die Geheimdienstler fuhren neutrale Wagen, die alle paar Monate innerhalb der Abteilungen gewechselt wurden.»Ich hatte für dich einen Platz in einer Maschine gebucht, die vor fünf Minuten gestartet ist, aber während du in der Luft warst, hat die Situation sich dramatisch verändert. Die Agency heult nach deinem Blut, und dieses Heulen wird in allen Staaten der Erde gehört, in denen sie Einfluss hat — selbstverständlich auch in meinem.«
«Aber es muss eine Möglichkeit geben.«
«Natürlich gibt es eine, mon ami.« Robbinet lächelte.»Wo ein Wille, da ein Weg, das habe ich von einem gewissen Jason Bourne gelernt. «Er bog nochmals ab, fuhr dann auf der Ni7 nach Norden weiter.»Während du dich im Kofferraum ausgeruht hast, bin ich keineswegs untätig gewesen. Um sechzehn Uhr startet auf dem Flughafen Orly eine Militärmaschine mit dir an Bord.«
«Warum so spät?«, fragte Bourne.»Was spricht dagegen, dass ich mit dem Auto nach Budapest fahre?«
«Nun, das Risiko, dass du in eine Straßensperre der Police Nationale gerätst, ist viel zu groß. Und deine rachsüchtigen amerikanischen Freunde haben die Surete alarmiert und aufgestachelt. «Der Franzose zuckte mit den Schultern.»Alles ist vorbereitet. Ich habe die nötigen Genehmigungen für dich ausstellen lassen. Fliegst du mit einer Militärmaschine, wirst du nicht kontrolliert, und wir wollen, dass die heiße Spur, die du im Terminal drei hinterlassen hast, zügig kalt wird, non?«Er überholte einen Lastwagen.»Bis dahin brauchst du ein sicheres Versteck.«
Bourne drehte den Kopf zur Seite, starrte in die trostlose Industrielandschaft hinaus. Was seit seiner letzten Begegnung mit Chan geschehen war, traf ihn jetzt mit der Gewalt eines entgleisenden Zugs. Er konnte nichts anders, er musste den brennenden Schmerz in seinem Inneren erforschen, wie man gegen einen schmerzenden Zahn drückt, nur um festzustellen, wie tief der Schmerz wirklich sitzt. Ein scharf analysierender Teil seines Verstands hatte bereits festgestellt, dass Chan in Wirklichkeit nichts gesagt hatte, was tief greifende Kenntnisse über David oder Joshua Webb bewies. Gewiss, er hatte Andeutungen, Anspielungen, gemacht, aber worauf liefen sie letztlich hinaus?
Als Bourne bemerkte, dass sein alter Freund ihn prüfend betrachtete, wandte er sich noch weiter dem Fenster zu.
«Keine Sorge, mon ami«, sagte Robbinet, der sein trübseliges Schweigen falsch deutete,»kurz nach achtzehn Uhr bist du in Budapest.«
«Merci, Jacques. «Bourne gab sich einen Ruck, um seine melancholischen Gedanken zu überwinden.»Danke für all deine Freundlichkeit und Hilfe. Was machen wir jetzt?«
«Wir fahren nach Goussainville. Nicht die malerischste Stadt Frankreichs, aber dort wohnt jemand, der dich interessieren dürfte.«
Die restliche Strecke legten sie schweigend zurück. Robbinet hatte Goussainville zutreffend geschildert: Es gehörte zu den ehemaligen Dörfern im Großraum Paris, die wegen ihrer Flughafennähe zu modernen Industriestädten geworden waren. Auch die farbenprächtigen Blumen, mit denen Gehsteigränder und Verkehrskreisel bepflanzt waren, machten die deprimierende Ansammlung von Hochhäusern, Bürogebäuden mit Glasfassaden und riesigen Einkaufszentren kaum erträglicher.
Bourne fiel das unter dem Handschuhfach montierte Funkgerät auf, das normalerweise vermutlich von Jacques’ Fahrer benützt wurde. Als Robbinet in eine Tankstelle abbog, fragte er seinen Freund nach den Einsatzfrequenzen von Police Nationale und Surete. Während Robbinet tankte, hörte Bourne beide Frequenzen ab, ohne etwas über den Vorfall am Flughafen oder über die laufende Fahndung mitzubekommen. Dabei beobachtete er die von der Straße in die Tankstelle abbiegenden Autos. Eine Frau stieg aus ihrem Wagen und fragte Robbinet, was er von ihrem rechten Vorderreifen halte. Sie fürchtete, er verliere Luft. Dann hielt ein Auto mit zwei jungen Leuten neben den Zapfsäulen. Beide stiegen aus. Während der Beifahrer sich gähnend reckte, verschwand der Fahrer in dem Tankstellenshop. Der Blick des Zurückgebliebenen streifte Robbinets Peugeot, dann heftete er sich anerkennend auf die Frau, die um ihren Wagen herum zurückging.
«Irgendwas im Funk?«, fragte Jacques, als er sich wieder ans Steuer setzte.
«Überhaupt nichts.«
«Na, das ist doch eine gute Nachricht«, sagte Robbi-net, als sie davonfuhren.
Sie fuhren kreuz und quer durch ein Labyrinth aus hässlichen Straßen, und Bourne sah dabei in den Außenspiegel, um sich zu vergewissern, dass der Wagen mit den beiden jungen Männern ihnen nicht folgte.»Goussainville hat eine uralte königliche Vergangenheit«, erzählte Jacques.»Zu Anfang des sechsten Jahrhunderts hat es Clotaire, der Gemahlin des französischen Königs Clovis, gehört. Während die Franken noch als Barbaren galten, hat er sich taufen lassen, wodurch wir für die Römer akzeptabel wurden. Der Kaiser hat ihn zum Konsul ernannt. Damit wurden aus Barbaren plötzlich wahre Verteidiger des Glaubens.«
«Ich hätte nicht vermutet, dass dieses Nest eine mittelalterliche Stadt war.«
Der Minister hielt vor einigen tristen grauen Apartmentgebäuden.»In Frankreich«, sagte er,»verbirgt Geschichte sich oft an ganz unerwarteten Orten.«
Bourne sah sich um.»Hier wohnt deine gegenwärtige Geliebte, stimmt’s?«, fragte er.»Als du mich mit ihrer Vorgängerin bekannt gemacht hast, musste ich so tun, als sei sie meine Freundin, weil deine Frau in das Bistro gekommen ist, in dem wir vor unseren Drinks saßen.«
«Soviel ich mich erinnere, hast du dich an diesem Nachmittag recht gut amüsiert. «Robbinet schüttelte den Kopf.»Nein, ich möchte wetten, dass Delphine, die ständig von Dior, Yves Saint-Laurent und anderen Luxusmarken redet, sich lieber die Pulsadern aufschneiden als in Goussainville leben würde.«
«Was tun wir dann hier?«
Der Minister saß einige Zeit nur da und starrte in den Regen hinaus.»Scheußliches Wetter«, sagte er zuletzt.
«Jacques…?«
Robbinet sah zu ihm hinüber.»Oh, entschuldige, mon ami. Ich war in Gedanken woanders. Alors, ich möchte, dass du Mylene Dutronc kennen lernst. «Er legte den Kopf schief.»Hast du ihren Namen schon mal gehört?«Als Bourne den Kopf schüttelte, fuhr Robbinet fort:»Das habe ich mir gedacht. Nun, da er jetzt tot ist, darf man wohl darüber sprechen. Mademoiselle Dutronc war Alex Conklins Geliebte.«
«Lass mich raten«, sagte Bourne sofort.»Helle Augen, langes lockiges Haar, leicht ironisches Lächeln?«
«Er hat dir also von ihr erzählt?«
«Nein, ich habe ein gerahmtes Foto gesehen. Es war so ziemlich der einzige private Gegenstand in seinem Schlafzimmer. «Er zögerte einen Augenblick.»Weiß sie Bescheid?«
«Als sein Tod gemeldet wurde, habe ich sie sofort angerufen.«
Bourne fragte sich, weshalb Robbinet ihr die Nachricht nicht selbst überbracht hatte. Das hätte der Anstand erfordert.
«Genug geredet. «Aus dem Fußraum hinter dem Fahrersitz holte Robbinet eine Reisetasche hervor.»Wir besuchen jetzt Mylene.«
Sie stiegen aus dem Peugeot, gingen im Regen zwischen Blumenrabatten zur Haustür und stiegen zwei, drei Betonstufen hinauf. Robbinet klingelte bei 4A, und einen Augenblick später summte der elektrische Türöffner.
Das Apartmentgebäude war innen ebenso schlicht und hässlich wie außen. Sie stiegen die Treppe in den vierten Stock hinauf und gingen einen Flur mit identischen Wohnungstüren auf beiden Seiten entlang. Beim Geräusch ihrer Schritte wurde die Tür von 4A geöffnet. Unmittelbar dahinter stand Mylene Dutronc.
Sie war ungefähr zehn Jahre älter als auf dem Foto — sie muss inzwischen fünfzig sein, überlegte Bourne sich, obwohl man ihr das nicht ansieht —, aber ihre Augen waren hell und klar wie auf dem Foto, und ihr Lächeln wirkte reizvoll ironisch. Ihre Kleidung — Jeans und ein Männerhemd — wirkte feminin, weil sie ihre üppige Figur betonte. Sie trug Schuhe mit flachen Absätzen und hatte ihr aschblondes Haar zu einem Nackenknoten gebunden.
«Bonjour, Jacques. «Sie ließ sich von Robbinet auf beide Wangen küssen, aber ihr Blick war schon auf seinen Begleiter gerichtet.
Bourne konnte jetzt Einzelheiten sehen, die der
Schnappschuss nicht hatte erkennen lassen. Die Farbe ihrer Augen, die eleganten Linien von Nase und Lippen, die Weißheit ihrer ebenmäßigen Zähne. Aus ihrem Gesicht sprachen Willensstärke und Einfühlungsvermögen.
«Und Sie müssen Jason Bourne sein. «Die grauen Augen musterten ihn kühl.
«Mein herzliches Beileid wegen Alex«, sagte Bourne.
«Ich danke Ihnen. Die Nachricht war ein Schock für alle, die ihn kannten. «Sie trat einen Schritt zur Seite.»Bitte treten Sie ein.«
Während sie die Tür hinter ihnen schloss, sah Bourne sich im Wohnzimmer um. Mlle. Dutronc wohnte zwar in einem hässlichen Neubauviertel, aber ihr Apartment war ganz anders. Im Gegensatz zu den meisten Menschen ihres Alters umgab sie sich nicht weiterhin mit jahrzehntealten Möbeln und Erinnerungen an die Vergangenheit. Ihre Einrichtung war elegant modern und zugleich bequem. Im Raum verteilte Sessel, identische Zweiersofas auf beiden Seiten des offenen Kamins, dezent gemusterte bodenlange Vorhänge. Bestimmt ein Ort, den man nicht gern verlässt, überlegte er sich.
«Wie ich höre, haben Sie einen langen Flug hinter sich«, sagte sie zu Bourne.»Sie sind sicher ausgehungert. «Sie erwähnte seine unordentliche Kleidung mit keinem Wort, wofür er ihr dankbar war. Bourne musste sich im Esszimmer an den Tisch setzen und bekam einen Sandwichteller, ein Glas Weißwein und Mineralwasser. Als er fertig war, setzte sie sich ihm gegenüber und legte ihre gefalteten Hände auf die Tischplatte.
Bourne sah jetzt, dass sie geweint hatte.
«War er sofort tot?«, fragte Mlle. Dutronc.»Wissen Sie, ich habe mich gefragt, ob er leiden musste.«
«Nein«, antwortete Bourne wahrheitsgemäß.»Das glaube ich nicht.«
«Das ist immerhin etwas. «Ihr Gesichtsausdruck wirkte zutiefst erleichtert. Als Mlle. Dutronc sich zurücklehnte, erkannte Bourne, wie verkrampft sie dagesessen hatte.»Danke, Jason. «Sie sah wieder auf. Die ausdrucksvollen grauen Augen erwiderten seinen Blick, und das Gesicht spiegelte ihre Emotionen wider.»Darf ich Sie Jason nennen?«
«Natürlich«, sagte er.
«Sie haben Alex gut gekannt, nicht wahr?«
«So gut, wie man Alex Conklin überhaupt nur kennen konnte.«
Ihr Blick streifte Robbinet nur, aber das genügte schon.
«Ich muss ein paar Leute anrufen. «Der Minister hatte bereits sein Handy aus der Tasche geholt.»Ihr seid mir sicher nicht böse, wenn ich euch kurz allein lasse.«
Sie sah Robbinet nach, bis er ihm Wohnzimmer verschwunden war. Dann wandte sie sich wieder an Bourne.»Jason, was Sie vorhin gesagt haben, waren die Worte eines wahren Freundes. Selbst wenn Alex mir nie von Ihnen erzählt hätte, würde ich das Gleiche sagen.«
«Alex hat mit Ihnen über mich gesprochen?«Bourne schüttelte den Kopf.»Mit Zivilisten hat Alex nie über seine Arbeit gesprochen.«
Wieder dieses Lächeln; diesmal war die Ironie jedoch unverkennbar.»Aber ich bin keine >Zivilistin<, wie Sie’s ausdrücken. «Sie hielt plötzlich eine Packung Zigaretten in der Hand.»Stört es Sie, wenn ich rauche?«
«Durchaus nicht.«
«Viele Amerikaner sind militante Nichtraucher. Bei euch ist das zu einem regelrechten Wahn geworden,nicht wahr?«
Sie erwartete keine Antwort, und Bourne gab auch keine. Er beobachtete, wie sie sich eine Zigarette anzündete, den Rauch tief inhalierte und ihn dann langsam, genussvoll ausstieß.»Nein, ich bin ganz entschieden keine >Zivilistin<. «Bläulicher Zigarettenqualm umwaberte sie.»Ich arbeite für die Surete Nationale.«
Bourne blieb unbeweglich sitzen. Unter dem Tisch umklammerte seine Rechte den Griff der Keramikpistole.
Als könne sie seine Gedanken lesen, schüttelte Mlle. Dutronc den Kopf.»Kein Grund zur Aufregung, Jason. Jacques hat Sie nicht in eine Falle gelockt. Sie sind hier bei Freunden.«
«Das verstehe ich nicht«, sagte er heiser.»Wenn Sie bei der Surete sind, hätte Alex Ihnen erst recht nichts über seine Arbeit erzählt, um Sie nicht in Loyalitätskonflikte zu stürzen.«
«Stimmt genau. Und so hat er’s über viele Jahre hinweg gehalten. «Mlle. Dutronc inhalierte erneut, stieß den Rauch durch Mund und Nase aus. Mit der Angewohnheit, dabei leicht den Kopf zu heben, erinnerte sie an Marlene Dietrich.»Bis dann vor kurzem irgendwas passiert ist. Ich weiß nicht, was — er wollte es mir nicht sagen, obwohl ich ihn darum gebeten habe.«
Sie betrachtete ihn einige Sekunden lang durch die Rauchschwaden. Als Geheimagentin verstand sie sich darauf, hinter einer undurchdringlichen Miene zu verbergen, was sie fühlte oder dachte. Aber ihr Blick zeigte ihm, was sie beschäftigte, und er merkte, dass sie ihre anfängliche Reserviertheit aufgegeben hatte.
«Sagen Sie mir, Jason, können Sie sich als langjähriger Freund erinnern, Alex jemals ängstlich erlebt zu haben?«
«Nein«, sagte Bourne.»Alex hatte nie Angst.«
«Aber an jenem Tag war er ängstlich. Deshalb habe ich ihn gebeten, mir davon zu erzählen, damit ich ihm helfen oder ihn wenigstens dazu überreden konnte, der Gefahr aus dem Weg zu gehen.«
Bourne beugte sich nach vorn. Seine Haltung war jetzt ebenfalls aufs Äußerste angespannt.»Wann war das?«
«Vor zwei Wochen.«
«Hat er wenigstens irgendwas erzählt?«
«Er hat einen Namen erwähnt: Felix Schiffer.«
Bournes Herz begann zu jagen.»Dr. Schiffer hat bei der DARPA gearbeitet.«
Sie runzelte die Stirn.»Alex hat mir erzählt, er arbeite in der Entwicklungsabteilung für nichttödliche taktische Waffen.«
«Das ist ein Anhängsel der Agency«, sagte Bourne halb zu sich selbst. Die Puzzlesteine ergaben allmählich ein Bild. Konnte Alex erreicht haben, dass Felix Schiffer die DARPA verließ, um zur Entwicklungsabteilung zu gehen? Natürlich wäre es für ihn ein Leichtes gewesen, Schiffer» verschwinden «zu lassen. Aber warum hätte er das tun sollen? Hätte er nur im Revier des Verteidigungsministeriums wildern wollen, hätte er die dadurch ausgelösten Proteste locker weggesteckt. Nein, Alex musste einen anderen Grund gehabt haben, Felix Schiffer verschwinden zu lassen.
Er starrte Mylene forschend an.»War Dr. Schiffer der Grund, dass Alex Angst hatte?«
«Das hat er nicht zugegeben, Jason. Aber wer sonst sollte der Grund gewesen sein? An jenem Tag hat Alex in ganz kurzer Zeit viele Anrufe bekommen und selbst viel telefoniert. Er war schrecklich nervös, und ich wusste, dass irgendein wichtiges Unternehmen in die kritische Phase getreten war. Bei dieser Gelegenheit habe ich mehrmals Dr. Schiffers Namen gehört und vermute daher, dass er der Mittelpunkt des Unternehmens gewesen ist.«
Inspektor Savoy saß bei laufendem Motor in seinem Cit-roen und horchte auf das Quietschen der Wischerblätter auf der Windschutzscheibe. Er hasste den Regen. Es hatte an dem Tag geregnet, an dem seine Frau ihn verlassen hatte, an dem seine Tochter für immer abgereist war, um in Amerika zu studieren. Seine Exfrau lebte jetzt in Boston, war mit einem stinknormalen Investmentbanker verheiratet. Sie hatte drei Kinder, ein Haus, Grundbesitz, alles, was ihr Herz begehrte, während er in diesem beschissenen Nest hockte — Wie hieß es gleich wieder? Ah, richtig, Goussainville — und sich die Fingernägel abkaute. Und obendrein regnete es wieder.
Aber heute war alles anders, denn er war kurz davor, den Mann zu fassen, nach dem die CIA so dringend fahndete. Wenn er Jason Bourne schnappte, würde seine Karriere einen steilen Aufschwung nehmen. Vielleicht würde sogar der Präsident auf ihn aufmerksam werden. Er sah nochmals zu dem Wagen auf der anderen Straßenseite hinüber: Dem Peugeot des Kulturministers Jacques Robbinet.
Aus der Datenbank der Surete hatte er Marke, Modell und Kennzeichen des Dienstwagens. Von seinen Kollegen an den Straßensperren wusste Savoy, dass Robbinet vom Flughafen aus auf der Ai nach Norden gefahren war. Nachdem er bei der Zentrale erfragt hatte, wer für den Nordteil des Fahndungsnetzes zuständig war, hatte er methodisch alle Fahrzeuge angerufen, weil Lindros ihn ausdrücklich vor nicht abhörsicheren Funkverbindungen gewarnt hatte. Keiner seiner Agenten hatte den Wagen des Ministers gesehen, und er begann schon zu verzweifeln, als er zuletzt Justine Berard anrief, die ihm mitteilte, sie habe Robbinet an einer Tankstelle gesehen und sogar kurz mit ihm gesprochen. Ihr war aufgefallen, dass der Minister angespannt und nervös, ja fast unhöflich gewirkt hatte.
«Ist sein Verhalten Ihnen seltsam vorgekommen?«
«Eigentlich schon. Ich habe dem allerdings keinen besonderen Wert beigemessen«, hatte Berard gesagt.»Jetzt bin ich natürlich anderer Meinung.«
«War der Minister allein?«, fragte der Inspektor.
«Das weiß ich nicht bestimmt. Es hat stark geregnet, und die Scheiben waren angelaufen«, antwortete Berard.»Außerdem habe ich ehrlich gesagt vor allem auf Monsieur Robbinet geachtet.«
«Ja, ein richtiger Traummann«, sagte Savoy trockener als eigentlich beabsichtigt. Berard hatte ihm entscheidend geholfen. Sie hatte gesehen, in welche Richtung der Minister weitergefahren war, und als Savoy Goussainville erreichte, hatte sie seinen Wagen bereits vor einem tristen Apartmentgebäude stehend ausfindig gemacht.
Mlle. Dutronc kniff die Augen zusammen, als ihr Blick Bournes Kehle streifte, und sie drückte ihre Zigarette aus.»Ihre Wunde blutet wieder. Kommen Sie, wir müssen sie richtig verbinden.«
Sie führte ihn in ihr Bad, das meergrün und cremeweiß gefliest war. Ein kleines Fenster, das auf die Straße hinausführte, ließ trübes Tageslicht ein. Bourne musste sich auf den Hocker setzen, damit sie die Wunde säubern, desinfizieren und verbinden konnte.
«So, jetzt blutet sie nicht mehr«, sagte sie, als sie eine Salbe auf die entzündeten Wundränder auftrug.»Aber das war kein Unfall. Sie haben mit jemandem gekämpft.«
«Es war schwierig, aus den Staaten rauszukommen.«
«Ah, Sie erzählen so wenig wie Alex. «Sie trat einen halben Schritt zurück, als wolle sie ihn genauer betrachten.»Sie sind traurig, Jason. Sehr traurig.«
«Mlle. Dutronc…«
«Sie müssen Mylene zu mir sagen. Darauf bestehe ich. «Sie hatte eine sterile Mullbinde ausgepackt, mit der sie ihm nun den Hals verband.»Und Sie müssen den Verband alle drei Tage wechseln, verstanden?«
«Ja. «Bourne erwiderte ihr Lächeln. »Merci, Mylene.«
Ihre Hand berührte sanft seine Wange.»Sehr traurig. Ich weiß, dass Alex Ihnen sehr nahe gestanden hat. Er hat Sie als seinen Sohn betrachtet.«
«Hat er das gesagt?«
«Das brauchte er nicht. War von Ihnen die Rede, stand in seinen Augen ein ganz spezieller Ausdruck. «Sie überprüfte den Verband nochmals.»Deshalb weiß ich, dass ich nicht als Einzige leide.«
Bourne empfand den Drang, ihr alles zu erzählen — dass er nicht nur unter der Ermordung von Alex und Mo, sondern auch unter seiner Begegnung mit Chan litt. Letztlich schwieg er aber. Sie hatte genug eigenen Kummer zu ertragen.
Stattdessen fragte er:»Was ist mit Jacques und Ihnen? Sie benehmen sich beide, als hassten Sie einander.«
Mylene wich seinem Blick kurz aus, sah zu dem Fenster mit der halben Milchglasscheibe hinüber, auf dessen klarer
Hälfte Regentropfen perlten.»Es war tapfer von ihm, dass er Sie hierher gebracht hat. Mich um Hilfe zu bitten, muss ihn große Überwindung gekostet haben. «Als sie sich ihm wieder zuwandte, standen Tränen in den hellen grauen Augen. Alex’ Tod hatte viele Emotionen an die Oberfläche kommen lassen, und Bourne erfasste intuitiv, dass die Wucht der gegenwärtigen Ereignisse auch ihre Vergangenheit aufwühlte.»So viel Kummer auf dieser Welt, Jason. «Eine einzelne Träne quoll aus einem Auge und lag zitternd auf der Wange, bevor sie hinunterlief.»Lange vor Alex war ich mit Jacques zusammen, wissen Sie.«
«Waren Sie seine Geliebte?«
Sie schüttelte den Kopf.»Damals war Jacques noch nicht verheiratet. Wir waren beide sehr jung. Wir haben uns wie verrückt geliebt, und weil wir jung — und töricht- waren, bin ich schwanger geworden.«
«Sie haben ein Kind?«
Mylene fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. »Non, ich wollte es nicht haben. Ich habe Jacques nicht wirklich geliebt. Das haben die damaligen Ereignisse mir bewiesen. Jacques hat mich geliebt, und er… nun, er ist eben sehr katholisch.«
Sie lachte ein wenig traurig, und Bourne erinnerte sich daran, was Jacques ihm aus der Geschichte von Gous-sainville und von der Bekehrung der barbarischen Franken zum Christentum erzählt hatte. König Clovis’ Taufe war ein gerissener Schachzug gewesen, aber er hatte mehr aus Selbsterhaltungstrieb und politischen Erwägungen als aus christlicher Überzeugung gehandelt.
«Jacques hat mir nie verziehen. «In ihrem Tonfall klang kein Selbstmitleid an, was ihr Geständnis umso ergreifender machte.
Bourne schloss sie in die Arme, küsste sie zärtlich auf beide Wangen, und sie drängte sich mit leisem Schluchzen einen Augenblick lang an ihn.
Mylene verließ das Bad, damit er duschen konnte. Als er aus der Kabine trat, fand er auf dem Hocker, vor dem Springerstiefel standen, die ordentlich zusammengelegte Uniform eines französischen Unteroffiziers. Während er sich anzog, sah er über die Milchglasscheibe hinweg aus dem Fenster, vor dem der Wind die Zweige einer hohen Linde bewegte. Unter ihm stieg eine attraktive Frau Anfang vierzig aus ihrem Wagen und ging die Straße entlang zu einem Citroen mit laufendem Motor und arbeitenden Scheibenwischern, in dem ein Mann unbestimmten Alters am Steuer saß. Sie öffnete die Beifahrertür und stieg bei ihm ein.
Diese Szene wäre nicht weiter ungewöhnlich gewesen, wenn Bourne die Frau nicht schon einmal an der Tankstelle gesehen hätte. Sie hatte Jacques wegen des Luftdrucks in ihrem rechten Vorderreifen angesprochen.
Surete!
Er hastete ins Wohnzimmer, wo Robbinet noch immer telefonierte. Sobald der Minister Bournes Gesichtsausdruck sah, beendete er sein Gespräch.
«Was gibt’s, mon ami?«
«Wir werden beobachtet«, sagte Bourne.
«Was? Wie ist das möglich?«
«Keine Ahnung, aber drüben auf der anderen Straßenseite sitzen zwei Surete-Agenten in einem schwarzen Citroen.«
Mylene kam aus der Küche herein.»Zwei weitere überwachen die Straße hinter der Wohnanlage. Aber keine Sorge, sie wissen noch nicht mal, in welchem Gebäude ihr seid.«
In diesem Augenblick wurde an der Wohnungstür geklingelt. Bourne zog seine Pistole, aber Mylenes Augen blitzten warnend. Auf ihre Kopfbewegung hin verschwanden Bourne und Robbinet nach nebenan. Sie öffnete die Wohnungstür und sah einen ziemlich zerknitterten Inspektor vor sich.
«Alain, bonjour«, sagte sie.
«Entschuldige, dass ich dich im Urlaub störe«, sagte Inspektor Savoy verlegen grinsend,»aber ich habe unten im Wagen gesessen, und da ist mir plötzlich eingefallen, dass du hier wohnst.«
«Willst du nicht reinkommen? Möchtest du eine Tasse Kaffee?«
«Nein, vielen Dank. Keine Zeit, keine Zeit.«
Sehr erleichtert fragte Mylene:»Und wozu sitzt du vor meinem Haus im Auto?«
«Wir warten auf Jacques Robbinet.«
Sie machte große Augen.»Du meinst den Kulturminister? Aber was täte der ausgerechnet in Goussainville?«
«Da kann ich auch nur raten«, bestätigte Inspektor Savoy.»Trotzdem ist sein Wagen hier in der Nähe geparkt.«
«Der Inspektor ist zu clever für uns, cherie.« Jacques Robbinet, der sich dabei sein weißes Hemd zuknöpfte, kam mit großen Schritten ins Wohnzimmer.»Er hat uns aufgespürt.«
Mylene, die Savoy den Rücken zukehrte, funkelte Robbinet warnend an. Er erwiderte ihren Blick unbekümmert lächelnd.
Seine Lippen streiften ihre, als er sich neben ihr aufbaute.
Inspektor Savoy wand sich inzwischen vor Verlegen-heit.»Minister Robbinet, ich hatte keine Ahnung. ich wollte bestimmt nicht stören.«
Robbinet hob eine Hand.»Schon gut, aber wieso sind Sie auf der Suche nach mir?«
Sichtlich erleichtert zeigte Savoy das körnige Foto von Jason Bourne vor.»Wir fahnden nach diesem Mann, Minister. Er ist ein berühmter CIA-Killer, der zum Verbrecher geworden ist. Wir haben Grund zu der Annahme, dass er Sie ermorden will.«
«Aber das ist ja schrecklich, Alain!«
Bourne beobachtete diese Farce durch einen Spalt der Esszimmertür und hatte den Eindruck, dass Mylene echt schockiert wirkte.
«Ich kenne diesen Mann nicht«, sagte Robbinet,»und weiß auch nicht, warum er mir nach dem Leben trachtet. Aber wer kann sich schon in einen Attentäter hineinversetzen?«Er zuckte mit den Schultern und wandte sich Mylene zu, die ihm Sakko und Tweedmantel hinhielt.»Aber ich werde trotzdem möglichst schnell nach Paris zurückkehren.«
«Nur in unserer Begleitung«, sagte Savoy nachdrücklich.»Sie fahren mit mir, und meine Kollegin fährt Ihren Dienstwagen. «Er streckte eine Hand aus.»Wenn Sie so freundlich sein wollen.«
«Wie Sie meinen. «Robbinet gab die Peugeotschlüssel ab.»Ich vertraue mich Ihnen an, Inspektor.«
Als er sich umdrehte und Mylene in die Arme schloss, zog Savoy sich diskret zurück und sagte, er werde auf dem Flur warten.
«Geh mit Jason in die Tiefgarage hinunter«, flüsterte Robbinet ihr ins Ohr.»Nimm meinen Aktenkoffer mit und gib ihm den Inhalt, kurz bevor ihr euch trennt. «Er nannte die Kombination des Zahlenschlosses, und sie nickte.
Mylene blickte zu ihm auf, dann küsste sie ihn plötzlich auf den Mund und sagte:»Behüt dich Gott, Jacques.«
Seine Reaktion bestand daraus, dass seine Augen sich sekundenlang weiteten. Dann war er fort, und Mylene durchquerte rasch das Wohnzimmer.
Als sie halblaut seinen Namen rief, trat Bourne aus dem Esszimmer.»Wir müssen den Vorteil, den Jacques Ihnen verschafft hat, bestmöglich nutzen.«
Bourne nickte. »D’accord.«
Mylene schnappte sich Robbinets Aktenkoffer.»Also los! Wir müssen uns beeilen!«
Sie öffnete die Wohnungstür, überzeugte sich mit einem Blick nach draußen, dass die Luft rein war, und führte ihn dann zur Tiefgarage hinunter. Dort blieb sie an der stählernen Brandschutztür stehen, sah durch das Drahtglasfenster und berichtete:»Die Tiefgarage scheint leer zu sein, aber bleiben Sie wachsam, man kann nie wissen.«
Sie stellte die Zahlenkombination ein, holte ein versiegeltes Päckchen aus dem Aktenkoffer und hielt es Bourne hin.»Hier ist das Geld, das Sie angefordert haben… mit Ihrem Dienstausweis und einem Marschbefehl. Als der Kurier Pierre Montefort haben Sie den Auftrag, unserem Militärattache in Budapest heute bis spätestens neunzehn Uhr dieses Päckchen mit streng geheimen Schriftstücken zu übergeben. «Sie ließ einen Metallring mit zwei Schlüsseln in Bournes Handfläche fallen.»Auf dem vorletzten Platz in der dritten Reihe steht ein olivgrünes Krad.«
Bourne und Mylene standen sich noch einen Augen-blick lang stumm gegenüber. Er öffnete den Mund, aber sie sprach zuerst:»Denken Sie daran, Jason, das Leben ist zu kurz, als dass man lange trauern dürfte.«
Darauf wandte Bourne sich ab und marschierte militärisch stramm durch die Stahltür in das triste, trüb beleuchtete Kellergeschoss mit kahlen Betonwänden und einem ölfleckigen Betonboden hinaus. Er sah weder links noch rechts, als er die um diese Zeit noch weitgehend leeren Reihen abschritt. Vor der dritten Reihe bog er rechts ab. Im nächsten Augenblick fand er das Motorrad: eine olivgrün lackierte Voxan VB-i mit einem riesigen Zweizylindermotor mit 996 Kubikzentimetern Hubraum. Sturzhelm und Regenanzug — beides militärisch olivgrün- fand Bourne im Topcase. Er verstaute Uniformmütze und Geldpäckchen darin, schlüpfte in den Regenanzug und setzte den Sturzhelm auf. Dann schwang er sich in den Sattel, bugsierte die Maschine aus der Parklücke, ließ den Motor an und röhrte die Tiefgaragenrampe hinauf und in den Regen hinaus.
Justine Berard hatte über ihren Sohn Yves nachgedacht, als Inspektor Savoy angerufen hatte. Zu Yves fand sie nur noch Zugang über seine Computerspiele. Als sie ihn zum ersten Mal bei Vorsicht, Autodiebe! geschlagen hatte — sie bremste seinen Wagen gekonnt aus —, hatte er sie erstmals seit langem richtig angesehen und sie tatsächlich als lebendes, atmendes menschliches Wesen wahrgenommen, anstatt in ihr nur eine lästige Nörglerin zu sehen, die für ihn wusch und kochte. Seitdem setzte er ihr jedoch zu, ihn zu einer Ausfahrt in ihrem Dienstwagen mitzunehmen. Bisher hatte sie ihn abwimmeln können, aber letzten Endes würde er bestimmt seinen Willen bekommen — nicht nur, weil sie stolz auf ihre nervenstarken Fahrkünste war, sondern weil sie sich verzweifelt wünschte, dass Yves stolz auf sie wäre.
Nachdem Savoy angerufen und ihr mitgeteilt hatte, er habe Minister Robbinet gefunden und werde ihn nach Paris zurückbegleiten, hatte sie sofort die nötigen Vorbereitungen getroffen, Männer vom Überwachungsdienst abgezogen und die Police Nationale verständigt, damit sie zunächst den Personenschutz des Ministers übernahm. Jetzt alarmierte sie die Polizeibeamten mit Handzeichen, als Inspektor Savoy den Kulturminister aus dem Apartmentgebäude begleitete. Gleichzeitig suchte sie die Straße nach einem Anzeichen auf die Gegenwart des übergeschnappten Killers Jason Bourne ab.
Berard war in Hochstimmung. Unabhängig davon, ob Inspektor Savoy den Minister in diesem Häuserlabyrinth durch Überlegung oder nur mit Glück aufgespürt hatte, würde sie gewaltig davon profitieren. Schließlich hatte sie Savoy hierher geführt, und sie würde dabei sein, wenn sie Jacques Robbinet heil und gesund nach Paris zurückbrachten.
Savoy und Robbinet überquerten die Straße unter den wachsamen Blicken der mit schussbereiten Maschinenpistolen Spalier stehenden Polizeibeamten. Sie hielt die hintere rechte Tür des Citroen auf, und als Savoy an ihr vorbeiging, übergab er ihr die Autoschlüssel des Ministers.
Als Robbinet sich bückte, um hinten einzusteigen, hörte Berard das Röhren eines starken Motorrads. Dem Echo nach kam es aus der Tiefgarage des Gebäudes, in dem Savoy den Minister aufgespürt hatte. Sie legte den Kopf schief, weil sie das Grollen einer Voxan VB-i erkannte. Ein beim Militär eingesetztes Krad.
Im nächsten Augenblick sah sie, wie der Kurier, aus der Tiefgarage kommend, beschleunigte, und griff nach ihrem Handy. Was hatte ein Motorradkurier in Gous-sainville zu suchen? Fieberhaft überlegend war sie bereits zu dem Peugeot des Ministers unterwegs. Sie blaffte ihren Surete-Zugangscode und verlangte die Dienststelle des Verbindungsoffiziers. Sie erreichte den Peugeot, entriegelte die Türen und glitt hinters Steuer. Da Alarmstufe rot herrschte, dauerte es nicht lange, bis Berard die gewünschte Auskunft enthielt: In Goussainville und Umgebung war kein Militärkurier unterwegs.
Sie ließ den Motor an und legte den ersten Gang ein. Inspektor Savoys fragender Schrei ging im Quietschen der Reifen des Peugeot unter, als sie mit durchgetretenem Gaspedal die Straße entlang beschleunigte, um die Verfolgung der Voxan aufzunehmen. Sie konnte nur vermuten, Bourne habe Savoy und sie erkannt und deshalb befürchtet, er sitze in der Falle, wenn er nicht sofort flüchte.
Der dringende CIA-Fahndungsaufruf, den sie gelesen hatte, betonte ausdrücklich Bournes Fähigkeit, sein Aussehen verblüffend rasch zu verändern und ebenso schnell neue Identitäten anzunehmen. War er der Kurier — und welche andere Möglichkeit gab es, wenn man’s recht bedachte? — , dann würde ihre Karriere eine ganz neue Richtung nehmen, wenn sie ihn verhaftete oder liquidierte. Berard konnte sich vorstellen, wie der Minister — so dankbar, weil sie ihm das Leben gerettet hatte — sich für sie verwandte, sie vielleicht sogar zur Leiterin des zu seinem Schutz abgestellten Geheimdienstpersonals machte.
Aber zuerst musste sie diesen angeblichen Kurier stellen. Zu ihrem Glück war der Peugeot des Ministers keine gewöhnliche Limousine in Standardausführung. Sie merkte bereits, wie der getunte Motor reagierte, als sie durch eine Linkskurve driftete, bei Orange über eine Kreuzung schoss und einen schwerfälligen Sattelschlepper rechts überholte. Den empörten Aufschrei seiner Pressluftfanfaren ignorierte sie. Ihr ganzes Wesen war darauf konzentriert, zu der Voxan Sichtkontakt zu halten.
Anfangs konnte Bourne nicht glauben, dass er so schnell enttarnt worden sein sollte, aber als der Peugeot ihn hartnäckig weiterverfolgte, musste er einsehen, dass etwas schrecklich schief gelaufen sein musste. Er hatte gesehen, wie Robbinet von der Surete eskortiert wurde, und wusste, dass ein Agent seinen Wagen fuhr. Die angenommene Identität würde jetzt nicht ausreichen, um ihn zu schützen; er würde seine Verfolger um jeden Preis abschütteln müssen. Bourne schlängelte sich nach vorn gebeugt durch den Verkehr, wechselte immer wieder das Tempo und variierte die Art und Weise, wie er langsamere Fahrzeuge überholte. Er bog in gefährlichen Schräglagen ab und war sich dabei bewusst, dass er jederzeit stürzen und mit der aufheulenden Voxan über den regennassen Asphalt schlittern konnte. Seine Spiegel zeigten ihm jedoch, dass er es nicht schaffte, den Peugeot abzuschütteln. Schlimmer noch: Sein Verfolger konnte den Abstand zwischen ihnen anscheinend verringern.
Obwohl die Voxan sich geschickt durch den Verkehr schlängelte und obwohl ihr Peugeot weniger wendig war, verringerte Berard den Abstand zwischen ihnen. Sie hatte den in allen Ministerautos installierten Schalter betätigt, der Scheinwerfer und Heckleuchten blinken ließ, und dieses Signal veranlasste die aufmerksameren Autofahrer, ihr Platz zu machen. Vor ihrem inneren Auge liefen die immer komplizierteren und haarsträubenderen Szenen von Vorsicht, Autodiebe! ab. Die vorbeiflitzenden Straßenbilder und die Fahrzeuge, denen sie ausweichen oder die sie überholen musste, waren denen des Computerspiels erstaunlich ähnlich. Um die Voxan nicht aus den Augen zu verlieren, musste sie sich einmal blitzschnell dafür entscheiden, kurz über den Gehsteig zu fahren. Fußgänger spritzten vor ihr auseinander.
Plötzlich sah sie weit vor sich die Auffahrt zur Ai und wusste, dass Bourne dorthin unterwegs sein musste. Die beste Chance, ihn zu stellen, hatte sie, bevor er die Autobahn erreichte. Sie biss sich grimmig entschlossen auf die Unterlippe, nutzte die volle Leistung des aufheulenden Motors aus und verringerte den Abstand noch mehr. Die Vo-xan hatte nur mehr zwei Autos Vorsprung. Berard zog nach links, überholte den ersten Wagen und signalisierte dem zweiten Fahrer, er solle zurückbleiben. Das tat er bereitwillig, denn ihre aggressive Fahrweise wirkte ebenso einschüchternd wie die blinkenden Scheinwerfer des Peugeot.
Berard war entschlossen diese Chance zu nutzen. Die Auffahrt kam rasch näher, also hieß es: Jetzt oder nie! Sie lenkte den Peugeot auf den Gehsteig, um sich rechts neben Bourne zu setzen, damit er den Blick von der Straße nehmen musste, wenn er sie im Auge behalten wollte. Aber bei seinem gegenwärtigen Tempo würde er sich das nicht leisten können. Sie fuhr ihr Fenster herunter und trat das Gaspedal durch, so dass der Wagen in den vom Wind getriebenen Regen vorwärts schoss.
«Stopp!«, rief sie laut.»Surete Nationale! Halt, oder ich schieße!«
Der Kurier ignorierte sie. Sie zog ihre Dienstwaffe und zielte damit auf seinen Kopf. Ihr am Ellbogen abgewinkelter Arm blieb unerschütterlich ruhig. Sie visierte über Kimme und Korn, zielte auf die Vorderkante seiner Silhouette. Dann drückte sie ab.
Im selben Augenblick brach die Voxan jedoch nach links aus, überquerte die linke Spur vor einem Auto, das eben zum Überholen ansetzte, sprang über den niedrigen Fahrbahnteiler und fuhr zwischen dem Gegenverkehr weiter.
«Großer Gott!«, flüsterte Berard erschrocken.»Er spielt Geisterfahrer!«
Als sie den Gehsteig verließ, um die Verfolgung aufzunehmen, sah sie, wie die Voxan sich durch den von der Ai kommenden Verkehr schlängelte. Reifen quietschten, Hupen gellten, erschrockene Fahrer drohten mit der Faust und fluchten. Diese Reaktionen registrierte Berard nur mit einem Teil ihres Verstandes. Der andere Teil war damit beschäftigt sich durch den stehenden Verkehr zu schlängeln, den Fahrbahnteiler zu überwinden und die Autobahnausfahrt zu erreichen.
Sie gelangte bis zum Anfang der Ausfahrtsrampe, die buchstäblich durch einen Wall aus Fahrzeugen blockiert war. Als sie in den peitschenden Regen hinausstürmte, sah sie die Voxan zwischen zwei Fahrspuren mit Gegenverkehr beschleunigen. Bourne hatte bisher erstaunlich Glück gehabt, aber wie lange konnte er diese halsbrecherische Fahrweise durchhalten, ohne zu stürzen?
Das Krad verschwand hinter dem ovalen Silberzylinder eines Tankwagens. Berard schnappte erschrocken nach Luft, als sie auf der Spur daneben einen riesigen Sattelschlepper heranrasen sah. Sie hörte Reifen kreischen, als der Fahrer eine Vollbremsung machte; dann knallte die Voxan gegen den massiven Kühlergrill des Sattelschleppers und explodierte sofort in einem prasselnden, ölig blakenden Feuerball.