Die Puzzleteile fügten sich in seinem Kopf zusammen. Die auf dem Campus von einem Profi auf ihn abgegebenen Schüsse hatten ihn nicht töten, sondern hierher dirigieren, ihn dazu zwingen sollen, Conklin aufzusuchen. Aber Alex und Mo waren bereits tot gewesen. Irgendjemand war weiterhin hier, um das Haus beobachten und die Polizei anrufen zu können, sobald Bourne aufkreuzte. Der Mann, der auf dem Campus auf ihn geschossen hatte?
Ohne weiter zu überlegen, griff Bourne sich Conklins Handy, rannte in die Küche, machte die schmale Tür zur steilen Kellertreppe auf und starrte ins pechschwarze Dunkel hinab. Er konnte das Knattern des Polizeifunks, schwere Schritte auf dem Kies, das Hämmern gegen die Haustür hören. Gereizte Stimmen wurden laut.
Bourne riss Küchenschubladen auf und wühlte darin herum, bis er Conklins Stablampe fand, mit der er zur Kellertreppe stürmte. Als er die Tür hinter sich schloss, stand er einen Augenblick in völliger Dunkelheit da. Der schmal gebündelte Lichtstrahl beleuchtete die Stufen, die er lautlos hinunterhastete. Er nahm die Gerüche von Beton, altem Holz, Lackfarbe und Heizöl wahr, fand die Luke unter der Treppe und zog sie auf. An einem kalten, schneereichen Winternachmittag hatte Conklin ihm den Geheimgang gezeigt, durch den der General den Hubschrauberlandeplatz bei den Stallungen erreicht hatte. Über seinem Kopf konnte Bourne das Knarren der Fußbodendielen hören. Die Cops waren im Haus. Vielleicht hatten sie die Ermordeten bereits entdeckt. Drei Autos, zwei Tote. Sie würden nicht lange brauchen, um festzustellen, auf wen sein Wagen zugelassen war.
Er verschwand geduckt in dem niedrigen Gang, schloss die Luke hinter sich. Zu spät fiel ihm das Old-Fashioned-Glas ein, das er angefasst hatte. Stäuben die Spurensicherer es ein, finden sie meine Fingerabdrücke. Und obendrein steht vor dem Haus mein Wagen…
Zwecklos, jetzt darüber nachzudenken, er musste weiter! In gebückter Haltung folgte er dem engen Gang. Schon nach wenigen Metern wurde der Gang höher und breiter, sodass er aufrecht gehen konnte. Die Luft war hier merklich feuchter; irgendwo in der Nähe hörte er langsam Sickerwasser tropfen. Offenbar befand er sich schon außerhalb des Hausfundaments. Bourne ging schneller und erreichte keine drei Minuten später eine zweite Treppe. Sie war aus Stahl, wirkte militärisch. Er stieg hinauf und drückte oben mit den Schultern gegen eine weitere Luke. Sie ließ sich mühelos öffnen. Frische Luft, das blasse, stille Licht des Spätnachmittags und das Summen von Insekten umgaben ihn. Er befand sich am Rand des Hubschrauberlandeplatzes.
Der Asphalt war mit Zweigen und Stücken von abgestorbenen Ästen übersät. In der windschiefen kleinen Hütte mit Schindeldach am Rand des Landeplatzes hatte sich irgendwann eine Waschbärenfamilie einquartiert. Überall waren die unverkennbaren Spuren jahrelanger Vernachlässigung zu sehen. Aber der Heliport war nicht sein Ziel. Bourne kehrte ihm den Rücken zu und verschwand in dem dichten Mischwald.
Seine Absicht war, in weit ausholendem Bogen das
Haus und das ganze Anwesen zu umgehen, um zuletzt den Highway außerhalb jedes Kordons zu erreichen, den die Polizei vermutlich um den Tatort ziehen würde. Sein unmittelbares Ziel war jedoch der Bach, der das Grundstück in diagonaler Richtung durchfloss. Er wusste, dass es nicht lange dauern würde, bis die Polizei Spürhunde einsetzte. Auf trockenem Boden hinterließ er unvermeidlich eine Spur, aber in fließendem Wasser würden selbst die Hunde sie verlieren.
Er schlängelte sich durchs dornige Unterholz, erreichte einen kleinen Hügelkamm, blieb zwischen zwei Zedern stehen und horchte angestrengt. Es war entscheidend wichtig, die normale Geräuschkulisse dieser speziellen Umgebung in sich aufzunehmen, damit jeder von einem Feind stammende Laut ihn sofort alarmierte. Ihm war voll bewusst, dass irgendwo in der Nähe wahrscheinlich ein Feind lauerte. Der Mörder seiner Freunde, der Zerstörer aller Bande zu seinem früheren Leben. Sein Drang, diesen Feind zu stellen, war gegen die Notwendigkeit abzuwägen, der Polizei zu entkommen. Sosehr Bourne danach gierte, den Killer aufzuspüren, war ihm dennoch klar, dass er den Bereich der Polizeiabsperrung verlassen musste, bevor die Falle ganz geschlossen war.
Als Chan den dichten Mischwald auf Alexander Conklins Anwesen betrat, fühlte er sich sofort wie zu Hause. Das hohe grüne Gewölbe schloss sich über seinem Kopf, hüllte ihn in eine vorzeitige Dämmerung. Über sich konnte er Sonnenlicht durch die höchsten Zweige fallen sehen, aber hier unten herrschte ein Halbdunkel, in dem er sein Opfer umso besser anpirschen konnte. Er war Webb von der Georgetown University bis zu Conklins Haus nachgefahren. Im Lauf seiner Karriere hatte er von Alexander Conklin gehört, kannte ihn als den legendären Spionagechef, der er einst gewesen war. Aber weshalb war David Webb hierher gekommen? Woher kannte er Conklin überhaupt? Und wie kam es, dass binnen Minuten nach Webbs Ankunft hier ein Großaufgebot von Polizei angerückt war?
Als in der Ferne lautes Kläffen zu hören war, wusste er, dass die Polizei die Spürhunde von der Leine gelassen hatte. Vor sich sah er Webb durch den Wald schleichen, als kenne er sich hier aus. Eine weitere Frage ohne auf der Hand liegende Antwort. Während Chan sein Tempo steigerte, fragte er sich, wohin Webb unterwegs sein mochte. Dann hörte er das Rauschen eines Bachs und wusste genau, was sein Opfer beabsichtigte.
Chan hastete weiter und erreichte den Bach vor Webb. Er wusste, dass sein Opfer stromabwärts waten würde, um weiter von den Hunden wegzukommen. Dann sah er am Bachufer eine mächtige Weide und musste unwillkürlich grinsen. Ein standfester Baum mit weit ausladenden Ästen war genau das, was er brauchte.
Das rötliche Sonnenlicht des frühen Abends stach wie feurige Nadeln durchs Geäst, und Bourne blinzelte gegen den grellroten Schimmer an, der jedes einzelne Blatt zu umgeben schien.
Jenseits des Hügelkamms fiel das Gelände ziemlich steil ab, und der Boden wurde felsiger. Er konnte das sanfte Rauschen des nahen Bachs hören und hielt auf kürzestem Weg darauf zu. Schneeschmelze und Frühjahrsregen hatten sich vereinigt, und der Bach war angeschwollen. Er platschte, ohne zu zögern, ins eisige Wasser und watete stromabwärts. Je länger er im Bach blieb, desto sicherer würden die Hunde seine Spur verlieren, und je weiter stromabwärts er ihn verließ, desto schwieriger würde es für die Meute werden, seine Spur erneut aufzunehmen.
Weil ihm keine unmittelbare Gefahr drohte, begann er an seine Frau Marie zu denken. Nach Hause durfte er nicht; damit hätte er sie beide gefährdet. Aber er musste Marie verständigen, sie warnen. Die Agency würde ihn bestimmt bei sich zu Hause suchen; traf sie ihn dort nicht an, würde sie Marie festnehmen und verhören, weil anzunehmen war, dass sie seinen Aufenthaltsort kannte. Noch erschreckender war der Gedanke, die unbekannten Feinde könnten versuchen, an seiner Stelle seine Angehörigen zu ermorden. Von plötzlicher Angst ergriffen, zog er Conklins Handy aus der Tasche, wählte Maries Handy an und schickte ihr eine SMS. Sie bestand aus einem einzigen Wort: Diamant. Dieses Codewort, das er mit Marie vereinbart hatte, sollte nur im äußersten Notfall gebraucht werden. Es wies sie an, die Kinder ins Auto zu laden und sofort zu ihrem sicheren Haus zu fahren. Dort sollten sie — von der Außenwelt abgeschnitten und sicher — bleiben, bis er ihnen» Entwarnung «signalisierte. Conklins Handy klingelte, und Bourne sah Maries SMS: Bitte wiederholen. Das war nicht die vorgeschriebene Antwort. Dann erkannte er, weshalb sie im Zweifel war: Er hatte sie von einem fremden Handy aus angerufen. Bourne wiederholte das Codewort, schrieb DIAMANT diesmal in Großbuchstaben. Dann wartete er mit angehaltenem Atem, bis Maries Antwort kam: SANDUHR. Er atmete erleichtert auf. Marie hatte die SMS bestätigt; er wusste, dass seine Warnung angekommen war. Schon jetzt würde sie alles liegen und stehen lassen, eilig die Kinder rufen, sie in den Kombi verfrachten und mit ihnen davonbrausen.
Trotzdem empfand er weiter eine gewisse Besorgnis. Ihm wäre viel wohler gewesen, hätte er ihre Stimme hören, hätte er ihr erklären können, was passiert war und dass es ihm gut ging. Aber ihm ging es nicht gut. Der Mann, den sie kannte — David Webb —, war wieder einmal von Bourne unterjocht worden. Marie hasste und fürchtete Jason Bourne. Und wieso auch nicht? Schließlich war es denkbar, dass Bourne eines Tages David Webbs Körper ganz übernehmen würde. Und wer wäre daran schuld gewesen? Alexander Conklin.
Verwunderlich und ganz und gar unwahrscheinlich erschien ihm, dass er diesen Mann zugleich lieben und hassen konnte. Wie rätselhaft, dass der menschliche Geist zu solch extrem gegensätzlichen Emotionen imstande ist, dass er die zweifellos vorhandenen schlechten Eigenschaften rational wegerklären konnte, um Zuneigung zu jemandem empfinden zu können. Bourne wusste jedoch, dass der Drang, zu lieben und geliebt zu werden, ein menschlicher Imperativ ist.
Darüber dachte er weiter nach, während er dem Bach folgte, dessen glitzerndes Wasser glasklar war. Kleine Fische, die sein Kommen erschreckte, flitzten hierhin und dorthin. Einige Male sah er sogar Forellen, die mit offenem Maul wie suchend durchs Wasser glitten, bevor sie als silbriger Blitz verschwanden. Dann erreichte er eine Biegung, an der eine mächtige Weide, deren Wurzeln gierig Feuchtigkeit suchten, übers Bachbett hing. Obwohl Bourne auf jeden Laut, jedes Anzeichen dafür achtete, dass die Verfolger näher kamen, entdeckte er nichts außer dem Rauschen des Bachs selbst.
Der Angriff kam von oben. Er hörte nichts, aber er fühlte, wie das Licht sich veränderte, bevor plötzlich ein Gewicht auf ihm lastete und ihn ins Wasser drückte. Er spürte den vernichtenden Druck eines Körpers auf Schultern und Lunge. Während er nach Luft rang, knallte der Angreifer seinen Kopf auf die glitschig bemoosten Felsen im Bachbett. Eine Faust traf seine Niere, sodass der plötzliche Schmerz ihm den Atem verschlug.
Statt alle Muskeln anzuspannen, um den Angriff abzuwehren, zwang Bourne seinen Körper dazu, völlig schlaff zu werden. Und statt verzweifelt um sich zu schlagen, legte er dabei die Ellbogen an. In dem Augenblick, in dem sein Körper am schlaffsten war, stemmte er sich auf ihnen hoch und verdrehte dabei den Rumpf. Während er sich herumwarf, brachte er einen Handkantenschlag an. Als das Gewicht von ihm abfiel, holte er laut keuchend Luft. Wasser strömte ihm übers Gesicht und lief ihm in die Augen, sodass er den Angreifer nur schemenhaft wahrnahm. Er schlug erneut zu, aber sein Schlag ging ins Leere.
Der Angreifer verschwand so rasch, wie er gekommen war.
Chan stolperte keuchend und würgend im Wasser stromabwärts. Er hatte Mühe, an den verkrampften Muskeln und gequetschten Knorpeln seines Kehlkopfs vorbei zu atmen. Benommen und wütend erreichte er das Unterholz und war wenig später im Dickicht des Waldes verschwunden. Während er versuchte, sich dazu zu zwingen, wieder normal zu atmen, massierte er sanft die empfindliche Stelle, die Webb getroffen hatte. Das war kein Zufallstreffer, sondern der gezielte Gegenangriff eines Profis gewesen. Chan war verwirrt, empfand sogar einen Anflug von Angst. Webb war ein gefährlicher Mann — viel gefährlicher, als ein Wissenschaftler hätte sein dürfen. Auf ihn war nicht zum ersten Mal geschossen worden; er konnte feststellen, woher ein Geschoss gekommen war, er kannte sich in der Wildnis aus, er war für den Nahkampf ausgebildet. Und er war beim ersten Anzeichen von Problemen zu Alexander Conklin gefahren. Wer ist dieser Mann? fragte Chan sich. Eines stand für ihn fest: Er würde Webb nicht noch einmal unterschätzen. Er würde ihn weiter beschatten, den psychologischen Vorteil zurückgewinnen. Und vor dem unvermeidlichen Ende sollte Webb Angst vor ihm haben.
Martin Lindros, der stellvertretende CIA-Direktor, traf genau um 18.18 Uhr auf dem Landsitz des verstorbenen Alexander Conklin in Manassas ein. Empfangen wurde er von dem Kriminalbeamten, der die Ermittlungen der Virginia State Police leitete, einem abgehetzten Mann mit Stirnglatze namens Harris, der versuchte, den Zuständigkeitsstreit zu schlichten, der zwischen State Police, County Sheriff und FBI entstanden war, die alle die Ermittlungen an sich ziehen wollten, seit die Identität der Mordopfer bekannt geworden war. Als Lindros aus dem Wagen stieg, zählte er ein Dutzend Fahrzeuge, dreimal so viele Beamte. Was hier gebraucht wurde, waren Ordnung und Methode.
Als er Harris die Hand schüttelte, sah er ihm offen ins Gesicht und sagte:»Detective Harris, das FBI bleibt außen vor. Sie und ich werden diesen Doppelmord allein bearbeiten.«
«Ja, Sir«, bestätigte Harris knapp. Er war groß und hielt sich — vielleicht als Ausgleich dafür — leicht gebeugt, was im Verein mit großen wässrigen Augen und kummervoller Miene bewirkte, dass er wie ein Mann aussah, dessen Energie längst verbraucht war.»Danke. Ich habe einige…«
«Danken Sie mir nicht, Detective. Ich garantiere Ihnen, dass dies ein verdammt schwieriger Fall wird. «Er beauftragte seinen Assistenten, das FBI und die Leute des Sheriffs wegzuschicken.»Irgendeine Spur von David Webb?«Vom FBI, mit dem er telefoniert hatte, wusste er, dass Webbs Auto in Conklins Einfahrt entdeckt worden war. Aber hier ging es natürlich nicht um Webb, sondern um Jason Bourne. Deshalb hatte der CIA-Direktor ihn entsandt, damit er die Ermittlungen persönlich übernahm.
«Noch nicht«, sagte Harris.»Aber die Hunde sind unterwegs.«
«Gut. Welchen Radius hat Ihre Absperrung?«
«Ich wollte meine Männer losschicken, aber dann hat das FBI…«Harris schüttelte den Kopf.»Ich habe ihnen gesagt, dass es auf jede Minute ankommt.«
Lindros sah auf seine Uhr.»Nehmen Sie eine halbe Meile. Lassen Sie Ihre Männer einen weiteren Kreis mit einer Viertelmeile Radius absuchen. Vielleicht finden sie etwas, das uns weiterhilft. Fordern Sie notfalls zusätzliche Leute an.«
Während Harris sein Handfunkgerät benützte, musterte Lindros ihn prüfend.»Wie heißen Sie mit Vornamen?«, fragte er, als der Kriminalbeamte seine Anweisungen erteilt hatte.
Der andere erwiderte seinen Blick verlegen.»Harry.«
«Harry Harris. Soll das ein Witz sein?«
«Nein, Sir, leider nicht.«
«Was haben Ihre Eltern sich dabei gedacht?«
«Nichts, fürchte ich, Sir.«
«Okay, Harry. Sehen wir uns mal an, was wir hier haben. «Lindros war Ende dreißig, ein smarter aschblonder Akademiker, den die Agency an der Georgetown University angeworben hatte. Sein Vater war ein charakterfester Mann gewesen, der stets sagte, was er dachte, und vieles auf eigenwillige Art tat. Seine schrullige Unabhängigkeit hatte er dem jungen Martin ebenso eingeimpft wie Pflichtbewusstsein seinem Land gegenüber, und Lindros wusste, dass diese Eigenschaften den CIA-Direktor auf ihn aufmerksam gemacht hatten.
Als Harris ihn ins Arbeitszimmer führte, fielen Lindros die beiden Old-Fashioned-Gläser auf dem Couchtisch im Medienraum auf.»Hat jemand die angefasst, Harry?«
«Meines Wissens nicht, Sir.«
«Nennen Sie mich Martin. Wir werden uns sehr rasch kennen lernen. «Er sah auf und lächelte, um dem anderen noch mehr von seiner Befangenheit zu nehmen. Die Art und Weise, wie er sich als CIA-Vertreter durchgesetzt hatte, war Absicht gewesen. Indem er die anderen Polizeibehörden ausschaltete, hatte er Harris zu seinem Trabanten gemacht. Unterschwellig ahnte er, dass er einen willfährigen Kriminalbeamten brauchen würde.»Lassen Sie Ihre Spurensicherer beide Gläser auf Fingerabdrücke untersuchen, okay?«
«Wird gemacht.«
«Und jetzt wollen wir mit dem Leichenbeschauer reden.«
Auf dem höchsten Punkt der Straße, die sich über den Hügel an der Grenze des Anwesens schlängelte, stand ein untersetzter Mann, der Bourne durch ein lichtstarkes Nachtglas beobachtete. Er hatte ein breites Mondgesicht von deutlich slawischem Schnitt. Die Fingerspitzen seiner linken Hand waren gelb verfärbt; er war ein zwanghafter Kettenraucher. Hinter ihm stand sein großer schwarzer Geländewagen auf der asphaltierten Fläche eines Aussichtspunkts. Jeder Vorbeifahrende hätte ihn für einen Touristen gehalten. Als er das Fernglas etwas schwenkte, entdeckte er Chan, der auf Bournes Fährte durch den Wald schlich. Ohne Chan aus den Augen zu lassen, klappte er sein Tri-Band-Handy auf und tippte eine Auslandsnummer ein.
Stepan Spalko meldete sich sofort.
«Die Falle ist zugeschnappt«, sagte der untersetzte Slawe.»Die Zielperson ist auf der Flucht. Bisher hat sie’s geschafft, die Polizei und Chan abzuhängen.«
«Gottverdammich!«, sagte Spalko.»Was hat Chan vor?«
«Soll ich’s feststellen?«, fragte der Mann in seiner kalten, lässigen Art.
«Sie bleiben möglichst weit weg von ihm. Ich will sogar«, sagte Spalko,»dass Sie sofort verschwinden.«
Bourne erreichte stolpernd das Bachufer, sank zu Boden und strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht. Sein Körper schmerzte, und seine Lunge brannte wie Feuer. Hinter seinen Augen kam es zu Explosionen, die ihn wieder in den Dschungel von Tarn Quan versetzten: mitten in die Aufträge hinein, die David Webb auf Alex Conklins Befehl übernommen hatte — vom Oberkommando in Saigon genehmigte, aber trotzdem von ihm geleugnete Einsätze; Himmelfahrtskommandos, die so schwierig und so mörderisch waren, dass US-Soldaten niemals mit ihnen in Verbindung gebracht werden durften.
Ins abnehmende Licht eines Frühlingsabends gehüllt, wusste Bourne, dass er hier in eine ähnliche Situation hineingeraten war. Er befand sich in einer roten Zone — in einem vom Feind kontrollierten Gebiet. Das Problem war jedoch, dass er keine Ahnung hatte, wer der Feind war und was er beabsichtigte. Sollte er auch jetzt in eine bestimmte Richtung getrieben werden, wie’s anscheinend der Fall gewesen war, als jemand in der Georgetown University auf ihn geschossen hatte, oder war der Feind zum nächsten Abschnitt seines Plans übergegangen?
In weiter Ferne war das Kläffen der Hunde zu hören… und dann, erschreckend nahe, das kurze, deutliche Knacken eines abbrechenden Zweiges. War das ein Tier oder der Feind gewesen? Sein Nahziel hatte sich geändert. Er musste durch das von der Polizei ausgeworfene Fahndungsnetz schlüpfen, aber zugleich kam es darauf an, im Kampf mit dem Angreifer den Spieß umzudrehen. Dazu musste er den Unbekannten aufspüren, bevor dieser ihn erneut überfallen konnte. Handelte es sich um denselben Mann wie zuvor, war er nicht nur ein ausgezeichneter Schütze, sondern auch ein erfahrener Dschungelkämpfer. Dass er so viel über seinen Gegner wusste, ermutigte Bourne in gewisser Weise. Er lernte den Feind allmählich kennen. Um nicht erledigt zu werden, bevor er ihn gut genug kannte, um ihn überraschen zu können, musste er.
Die Sonne war unter den Horizont geglitten, hatte den Himmel aschefarben zurückgelassen. Ein kühler Wind ließ Bourne in seiner nassen Kleidung zittern. Er stand auf und setzte sich in Bewegung, um die Steifheit aus seinen Muskeln zu bekommen und wieder warm zu werden. Der Wald war von indigoblauen Schatten erfüllt; trotzdem fühlte Bourne sich so exponiert wie auf einer baumlosen Ebene unter einem wolkenlosen Himmel.
Was er getan hätte, wenn er in Tarn Quan gewesen wäre, wusste Bourne: Er hätte sich einen Unterschlupf gesucht, einen sicheren Ort, an dem er rasten und seine Optionen überdenken konnte. Aber in der roten Zone waren Verstecke kaum zu finden; dabei konnte man den Kopf in eine Falle stecken. Er bewegte sich langsam und bedächtig durch den Wald und ließ seinen Blick über einen Baum nach dem anderen gleiten, bis er fand, wonach er suchte. Wilder Wein. Um diese Jahreszeit blühten die Pflanzen noch nicht, aber ihre glänzenden fünf-fingrigen Blätter waren unverkennbar. Mit Hilfe des Schnappmessers löste er vorsichtig mehrere lange Ranken der zähen Pflanze ab.
Als Bourne eben damit fertig war, wurde er auf ein wiederholtes leises Knacken aufmerksam. Er folgte ihm und erreichte bald eine kleine Lichtung. Da! Ein Weißwedelhirsch. Sein Haupt war erhoben, seine schwarzen Nüstern sogen die Luft prüfend ein. Hatte das Tier ihn gewittert? Nein. Es versuchte anscheinend.
Der Hirsch stürmte davon — und Bourne mit ihm. Er rannte parallel zu dem Tier federnd und fast lautlos durch den Wald. Einmal drehte sich der Wind, und er musste seine Richtung etwas ändern, um auf der wind-abgewandten Seite des Hirschs zu bleiben. Sie hatten ungefähr eine Viertelmeile zurückgelegt, als das Tier langsamer wurde. Das Gelände stieg hier leicht an, der Boden war härter, kompakter. Sie hatten den Bach weit hinter sich gelassen, befanden sich am äußersten Rand von Conklins Besitz. Der Hirsch setzte mühelos über die alte Bruchsteinmauer, die hier die Nordwestecke des Anwesens begrenzte.
Als Bourne über die Mauer geklettert war, sah er, dass der Hirsch ihn zu einer Salzlecke geführt hatte. Salzlecken bedeuteten Felsen, und Felsen bedeuteten Höhlen. Er erinnerte sich, dass Conklin ihm einmal erzählt hatte, im Nordwesten grenze sein Besitz an zahlreiche Höhlen mit natürlichen Kaminen, die Indianern einst als Rauchabzüge für ihre Kochfeuer gedient hatten.
Eine Höhle dieser Art war genau das, worauf er hoffte: ein vorläufiger Zufluchtsort, der zwei Ausgänge hatte und deshalb nicht zur Falle werden konnte.
Jetzt hab ich ihn, dachte Chan. Webb hatte einen Riesenfehler gemacht — er hatte die falsche Höhle betreten, eine der wenigen ohne zweiten Ausgang. Chan kroch lautlos aus seinem Versteck, überquerte die kleine Lichtung und huschte in den schwarzen Höhleneingang.
Als er sich anschlich, konnte er Webb vor sich in der Dunkelheit ahnen. Der Geruch dieser Höhle zeigte Chan, dass sie nicht tief war. Ihr fehlte der scharfe Modergeruch von allmählich angesammelter organischer Materie, der für tief in gewachsenen Fels hineinführende Höhlen typisch war.
Vor ihm hatte Webb seine Stablampe eingeschaltet. In wenigen Augenblicken würde er sehen, dass es hier keinen Kamin, keinen Fluchtweg gab. Die Zeit für den Angriff war gekommen! Chan sprang den Gegner an, drosch ihm eine Faust ins Gesicht.
Bourne ging zu Boden. Die Stablampe prallte von den Felsen ab, sodass ihr Lichtstrahl wild durch die Höhle tanzte. Im selben Augenblick glaubte er den Luftzug zu spüren, mit dem eine geballte Faust auf ihn zuschoss. Er wehrte den Boxhieb nicht ab, aber sowie der Arm des anderen ganz gestreckt war, traf er den exponierten und verwundbaren Bizeps mit einem scharfen Handkantenschlag.
Dann warf er sich nach vorn und rammte eine Schulter gegen das Brustbein des anderen Körpers. Ein Knie wurde hochgerissen und traf die Innenseite von Bournes Schenkel, sodass ihn stechende Nervenschmerzen durchzuckten. Er bekam eine Hand voll Kleidung zu fassen, knallte den Angreifer gegen die Höhlenwand. Der Körper prallte ab, rammte Bourne, holte ihn von den Beinen. Sie wälzten sich miteinander verschlungen auf dem Höhlenboden. Er konnte die Atemzüge des anderen hören: ein widersinnig intimes Geräusch, als höre man ein Kind neben sich atmen.
In diesen archaischen Kampf verstrickt, war Bourne dem anderen nahe genug, um eine komplexe Duftmischung zu riechen, die von dem anderen wie Dampf über einem in der Sonne liegenden Sumpf aufstieg und ihn unwillkürlich erneut an den Dschungel von Tarn Quan denken ließ. Im nächsten Augenblick spürte er quer unter seinem Kinn eine Stange. Daran wurde er zurückgerissen.
«Ich bringe dich nicht um«, sagte eine Stimme an seinem Ohr.»Wenigstens nicht gleich.«
Bourne rammte einen Ellbogen nach hinten, was ihm einen Kniestoß gegen seine bereits schmerzende Niere einbrachte. Er krümmte sich schmerzlich zusammen, wurde aber durch die Stange an seiner Luftröhre gestreckt und hochgerissen, bis er auf den Beinen stand.
«Ich könnte dich jetzt umbringen, aber ich tu’s nicht«, sagte die Stimme.»Erst muss es so hell sein, dass ich dir in die Augen sehen kann, während du stirbst.«
«Musstest du zwei unschuldige anständige Kerle ermorden, nur um an mich ranzukommen?«, fragte Bourne.
«Wovon redest du überhaupt?«
«Von den beiden Männern, die du im Haus erschossen hast.«
«Die hab ich nicht umgebracht; ich ermorde keine Unschuldigen. «Ein leises Lachen.»Andererseits weiß ich nicht, ob irgendwer, der mit Alexander Conklin zu tun hatte, >unschuldig< genannt werden kann.«
«Aber du hast mich hierher getrieben«, sagte Bourne.»Du hast auf mich geschossen, damit ich zu Conklin fahre, damit du.«
«Red keinen Unsinn«, unterbrach ihn die Stimme.»Ich bin dir nur hierher gefolgt.«
«Woher hast du dann gewusst, wohin du die Cops schicken musstest?«, fragte Bourne.
«Warum hätte ich sie anrufen sollen?«, knurrte die Stimme schroff.
Obwohl diese Mitteilung verblüffend war, hörte Bourne nur mit halbem Ohr hin. Er hatte sich während des Gesprächs etwas entspannt, sich leicht zurückgelehnt. So lag die Stange nur noch ganz leicht auf seiner Luftröhre. Nun drehte Bourne sich auf den Ballen seiner Füße weg und senkte dabei eine Schulter, sodass der andere sich darauf konzentrieren musste, die Stange in richtiger Stellung zu halten. In diesem Augenblick brachte Bourne einen blitzschnellen Handkantenschlag dicht unter dem
Ohr an. Der Angreifer brach zusammen, und die Stange dröhnte hohl, als sie auf den Felsboden fiel.
Bourne atmete mehrmals tief durch, um wieder klar denken zu können, aber er war vom Sauerstoffmangel noch immer benommen. Er hob die Stablampe auf, beleuchtete die Stelle, wo der andere liegen musste, und sah, dass er verschwunden war. Ein Geräusch, kaum mehr als ein Wispern, drang an sein Ohr, und er hob die Stablampe. Vor dem nur wenig helleren Hintergrund des Höhleneingangs sprang eine Gestalt ins Freie. Als der Lichtstrahl den Unbekannten traf, drehte er sich um, und Bourne sah flüchtig sein Gesicht, bevor der andere unter den Bäumen verschwand.
Bourne rannte hinter ihm her. Im nächsten Augenblick hörte er ein deutliches Knacken und ein lautes Wusch! Dann waren Bewegungen zu hören, und er bahnte sich durchs Unterholz einen Weg zu der Stelle, wo er die Falle aufgebaut hatte. Er hatte die Ranken der Waldrebe zu einem Netz verwoben und es an einen bis fast zum Erboden herab gebogenen jungen Baum gebunden. Damit hatte er den Angreifer gefangen. Der Jäger war zur Beute geworden. Er arbeitete sich zum Waldrand vor und machte sich bereit, seinem Feind gegenüberzutreten und das Rankennetz abzuschneiden. Aber es war leer.
Leer! Er hob es auf und sah das Loch, das der Flüchtende in den oberen Teil des Netzes geschnitten hatte. Der Unbekannte war wendig, clever und sehr gut vorbereitet gewesen; ihn nochmals zu überraschen würde jetzt viel schwieriger werden.
Bourne sah auf und ließ den Lichtstrahl der Stablampe in weitem Bogen über das Gewirr von Bäumen in seiner Umgebung gleiten. Wider Willen empfand er flüchtig eine gewisse Bewunderung für seinen erfahrenen, listenreichen Gegner. Als er die Stablampe ausknipste, war er schlagartig von Nacht umgeben. Ein Ziegenmelker ließ seinen Schrei ertönen, und in der darauf folgenden langen Stille hallte ein Eulenruf klagend über die mit Tannen bestandenen Hügel.
Er legte seinen Kopf in den Nacken und holte tief Luft. Auf dem Bildschirm, der vor seinem inneren Auge stand, waren die planen Flächen, die dunklen Augen des Gesichts gespeichert, und Bourne war sich nach wenigen Augenblicken sicher, dass es mit dem eines Studenten übereinstimmte, dem er auf seinem Weg zu dem Seminarraum, aus dem der Scharfschütze geschossen hatte, begegnet war.
Wenigstens hatte der Feind nun außer einem Gesicht auch eine Stimme.
Ich könnte dich jetzt umbringen, aber ich tu’s nicht. Erst muss es so hell sein, dass ich dir in die Augen sehen kann, während du stirbst.