Kapitel neunundzwanzig

«Das sind alles Tschetschenen, nicht wahr, Boris?«, fragte Hull.

Karpow nickte.»Meinen Unterlagen nach alles Mitglieder von Hassan Arsenows Terrororganisation.«

«Ein Sieg für die guten Kerle!«, freute Hull sich.

Fahd al-Sa’ud sagte, in der feuchten Kälte zitternd:»Die Menge C4 in ihrer Zeitbombe hätte ausgereicht, um die gesamte Tragkonstruktion dieses Gebäudeteils zu schwächen. Das Kongressforum wäre unter seinem eigenen Gewicht eingestürzt, hätte alle unter sich begraben.«

«Ein Glück für uns, dass sie den Bewegungsmelder ausgelöst haben«, sagte Hull.

Als die Minuten verrannen, runzelte Karpow strenger die Stirn, während er Bournes Frage wiederholte:»Wieso sollte die Bombe schon jetzt gelegt werden? Ich denke, wir hätten eine gute Chance gehabt, sie vor Eröffnung der Gipfelkonferenz zu finden.«

Fahd al-Sa’ud wandte sich an einen seiner Männer.»Gibt’s irgendeine Möglichkeit, mehr Wärme herzukriegen? Wir sind bestimmt noch eine Weile hier, und ich bin schon halb erfroren.«

«Ich hab’s!«, sagte Bourne und wandte sich Chan zu. Er ließ sich das Notebook geben, schaltete es ein und scroll-te durch die Pläne, bis er den gesuchten Plan gefunden hatte. Mit dem Zeigefinger verfolgte er die Route, die sie nehmen mussten, um von ihrem Standort aus unters Hauptgebäude des Hotels zu gelangen. Dann klappte er das Notebook zu und sagte:»Los, komm! Wir haben’s eilig!«

«Wohin willst du?«, fragte Chan, als sie durch das Labyrinth aus Kellerfluren liefen.

«Denk darüber nach! Wir haben gesehen, wie ein Fahrzeug von Reykjavik Energy ins Hotel gefahren ist; das ganze Hotel wird wie die gesamte Stadt mit Erdwärme beheizt.«

«Deshalb hat Spalko die Tschetschenen zu einer Unterstation der Klimaanlage geschickt«, sagte Chan, als sie um eine Ecke trabten.»Er hat nicht damit gerechnet, dass sie die Bombe wirklich würden legen können. Wir haben richtig vermutet, das war ein Ablenkungsmanöver, aber nicht für morgen früh, wenn das Gipfeltreffen beginnt. Er will den Diffusor jetzt einsetzen!«

«Richtig«, sagte Bourne.»Aber nicht durch die Klimaanlage. Sein Ziel ist die Fernwärmezentrale. Zu dieser nachtschlafenden Zeit, wo die Staatsoberhäupter schlafen, will er das Virus einsetzen.«

«Da kommt jemand«, meldete eine der beiden Wache haltenden Tschetscheninnen.

«Erschießt ihn«, befahl der Scheich.

«Aber das ist Hassan Arsenow!«, rief die zweite Wächterin aus.

Spalko und Sina wechselten einen verwirrten Blick. Was war bloß schief gegangen? Der Sensor hatte angesprochen, der Alarm war ausgelöst worden, und kurze Zeit später hatten sie das befriedigende Hämmern von

Feuerstößen aus Maschinenpistolen gehört. Wie hatte Arsenow entkommen können?

«Erschießt ihn, hab ich gesagt!«, brüllte Spalko.

Was Arsenow verfolgte, was ihn in dem Augenblick zurückweichen ließ, in dem er eine Falle witterte, wodurch er vor dem augenblicklichen Tod, den seine Landsleute erlitten, bewahrt blieb, war das Entsetzen, das in seinem Inneren lauerte, das ihm vergangene Woche Nacht für Nacht Albträume beschert hatte. Er hatte sich eingeredet, darin manifestierten sich seine Schuldgefühle, weil er Chalid Murat verraten hatte — das schlechte Gewissen eines Helden, nachdem er die schwierige Entscheidung getroffen hatte, die sein Volk retten sollte. Aber in Wirklichkeit hing dieses Entsetzen mit Sina zusammen. Er hatte sich ihr allmähliches, aber unaufhaltsames Abrücken von ihm, ihre emotionale Distanzierung, die nachträglich gesehen eiskalt wirkte, nicht eingestehen wollen. Sie war ihm schon seit einiger Zeit entglitten, obwohl er das bis vor kurzem nicht hatte wahr haben wollen. Aber jetzt hatte Achmeds Enthüllung alles ins helle Licht bewusster Erkenntnis gerückt. Sina hatte hinter einer Glaswand gelebt, stets einen Teil ihres Ichs isoliert und versteckt gehalten. Diesen Teil von ihr hatte er nicht berühren können, und er hatte jetzt das Gefühl, je eifriger er’s versucht hatte, desto weiter hatte sie sich zurückgezogen.

Sina liebte ihn nicht — und er fragte sich jetzt, ob sie’s je getan hatte. Selbst wenn ihr Unternehmen ein voller Erfolg wurde, würde es für ihn kein Leben mit ihr, keine gemeinsamen Kinder geben. Was für eine Farce ihr letztes intimes Gespräch gewesen war!

Plötzlich überwältigte ihn Schamgefühl. Er war ein Feigling — er liebte Sina mehr, als er seine Freiheit liebte, denn er wusste, dass es ohne sie keine Freiheit für ihn geben würde. Nach ihrem Verrat an ihm würde selbst der größte Sieg schal schmecken.

Als er jetzt den kalten Korridor zur Fernwärmezentrale entlang trabte, sah er seine eigenen Kämpferinnen die Maschinenpistolen hochreißen, als ob sie auf ihn schießen wollten. Vielleicht war ihre Sicht durch den ABC-Schutzanzug so eingeschränkt, dass sie nicht erkannten, wer da auf sie zukam.

«Wartet! Nicht schießen!«, rief er.»Ich bin’s, Hassan Arsenow!«

Ein Geschoss des ersten Feuerstoßes durchschlug seinen linken Arm, und er warf sich halb unter Schock stehend herum, verschwand um eine Ecke, brachte sich vor dem tödlichen Kugelhagel in Sicherheit.

In der abrupt ausgebrochenen Hektik blieb keine Zeit für Fragen oder Spekulationen. Er hörte weitere Feuerstöße, die jedoch nicht ihm galten. Als er um die Ecke spähte, sah er die beiden Wächterinnen tief geduckt auf zwei Gestalten schießen, die den Korridor entlangkamen.

Arsenow richtete sich auf, nutzte die Tatsache, dass die beiden abgelenkt waren, und hielt auf den Eingang der Fernwärmezentrale zu.

Spalko hörte die Schüsse und sagte:»Sina, das ist nicht nur Arsenow.«

Sina drehte sich mit ihrer Maschinenpistole im Anschlag um und nickte dem Posten an der Tür zu, der ihr eine zweite MP zuwarf.

Hinter ihnen trat Spalko an die Wand mit den genau gekennzeichneten Heizungsrohren. Jedes hatte ein Absperrventil und daneben ein Manometer, das den Druck anzeigte. Er fand die Leitung, die in den Flügel des Hotels führte, in dem die Staatsoberhäupter untergebracht waren, und machte sich daran, das Ventil abzuschrauben.

Hassan Arsenow wusste, dass er mit den anderen in der Unterstation der Klimaanlage hätte sterben sollen. »Eine Falle! Jemand hat die Leitungen vertauscht!«, hatte Karim unmittelbar vor seinem Tod gejammert. Vertauscht hatte sie Spalko; er hatte Arsenow und die anderen nicht für ein Ablenkungsmanöver gebraucht, wie er behauptet hatte, sondern sie bewusst geopfert — als wichtige Zielpersonen, deren Tod das Sicherheitspersonal ablenken würde, bis Spalko den wahren Bestimmungsort erreichen und das Virus freisetzen konnte. Er hatte sie reingelegt, und Arsenow war sich jetzt ziemlich sicher, dass Sina gemeinsame Sache mit ihm gemacht hatte.

Wie schnell Liebe in Hass umschlagen konnte! Ihre Umwandlung hatte nicht länger als einen Herzschlag gedauert. Jetzt waren alle gegen ihn aufgehetzt, alle seine Landsleute, alle die Männer und Frauen, mit denen er gekämpft, mit denen er gelacht und geweint und gebetet, mit denen er nach gemeinsamen Zielen gestrebt hatte. Tschetschenen! Sie alle waren nun durch Stepan Spalkos Macht und vergifteten Charme verdorben.

Letztlich hatte Chalid Murat in jeder Beziehung Recht gehabt. Er hatte Spalko nicht getraut; er hätte sich nicht auf dieses wahnwitzige Unternehmen eingelassen. Arse-now hatte ihm einmal vorgeworfen, er sei ein alter Mann, übervorsichtig und nicht imstande, die neue Welt zu begreifen, die vor ihnen lag. Aber jetzt wusste er, was

Chalid Murat bestimmt gewusst hatte: dass diese neue Welt nur eine Illusion war, die der Mann, der sich mit dem Ehrentitel Scheich anreden ließ, erschaffen hatte. Arsenow hatte an dieses Hirngespinst geglaubt, weil er daran hatte glauben wollen. Und Spalko hatte diese Schwäche ausgenützt. Aber damit ist jetzt Schluss! schwor Arsenow sich. Endgültig! Sollte er hier und heute sterben müssen, dann würde er das zu seinen eigenen Bedingungen tun, statt sich von Spalko wie ein Lamm zur Schlachtbank führen zu lassen.

Er rückte dicht an den Türrahmen heran, holte tief Luft, atmete langsam aus und katapultierte sich gleichzeitig mit einem Hechtsprung an der offenen Tür vorbei. Der sofort einsetzende Kugelhagel sagte ihm alles, was er wissen musste. Nachdem er sich abgerollt hatte, blieb er auf dem Betonboden und kroch zur Tür zurück. Er sah den Wachposten mit einer Maschinenpistole im Hüftan-schlag und traf ihn mit vier Schüssen in die Brust.

Bourne lief ein kalter Schauder über den Rücken, als er die beiden Terroristen sah, die in ABC-Schutzanzügen hinter einem Betonpfeiler standen und abwechselnd Feuerstöße aus ihren Maschinenpistolen abgaben. Chan und er gingen hinter einer Abzweigung des Korridors in Deckung, und Bourne erwiderte das Feuer.

«Spalko ist mit der Biowaffe in diesem Raum«, sagte er.»Wir müssen unbedingt dort rein.«

«Aber nicht bevor diese beiden ihre Munition verschossen haben. «Chan sah sich um.»Hast du die Pläne im Kopf? Weißt du, was über der Deckenverkleidung liegt?«

Bourne schoss erneut, dann nickte er.

«Sechs, acht Meter hinter uns ist eine Luke in die Decke eingelassen«, sagte Chan.»Du musst mir hinaufhelfen.«

Bourne gab einen weiteren Feuerstoß ab, bevor er sich mit Chan zurückzog.

«Kannst du dort oben was sehen?«, fragte er.

Chan nickte, indem er auf seine Jacke mit den vielen Taschen zeigte.»Ich habe eine kleine Stablampe… und noch einiges in petto.«

Mit der MP unter dem Arm faltete Bourne die Hände, damit Chan einen Fuß hineinstellen konnte. Seine Knochen schienen unter Chans Gewicht zu knacken, und die gezerrten Bänder in seiner Schulter brannten wie Feuer. Dann schob Chan die Abdeckung zur Seite und stemmte sich durch die Luke nach oben.

«Zeit?«, fragte Bourne.

«Fünfzehn Sekunden«, antwortete Chan und verschwand.

Bourne kehrte um. Er zählte langsam bis zehn, dann stürmte er schießend um die Ecke. Aber er machte fast augenblicklich wieder Halt. Er konnte spüren, wie sein Herz schmerzhaft gegen seine Rippen hämmerte. Die beiden Tschetschenen hatten ihre Schutzanzüge abgestreift. Sie waren hinter dem Betonpfeiler hervorgekommen und standen ihm auf dem Korridor gegenüber. Bourne erkannte jetzt, dass er Frauen vor sich hatte, die Gürtel mit untereinander verbundenen Sprengstoffpäckchen um die Taille trugen.

«Jesus!«, sagte Bourne.»Chan! Sie tragen Sprengstoffgürtel!«

Im nächsten Augenblick wurde es um sie herum schlagartig dunkel. Chan, der durch den Kabelkanal über ihm kroch, hatte die Leitung durchtrennt.

Kaum war der letzte Schuss verhallt, da sprang Arsenow auf und spurtete los. Er war mit einem Satz in der Fernwärmezentrale und fing den Wachposten auf, als er zusammenbrach. Vor sich im Raum erkannte er zwei Gestalten: Spalko und Sina. Indem er den Toten als Schutzschild benützte, schoss er auf die Gestalt, die zwei Maschinenpistolen in den Händen hielt — Sina! Aber sie hatte bereits abgedrückt, und noch während sie zurücktaumelte, durchsiebte die Wucht zweier Feuerstöße den Körper des Wachpostens.

Arsenow riss krampfhaft die Augen auf, als er den feurigen Schmerz in seiner Brust spürte, dem ein merkwürdig taubes Gefühl folgte. Dann fiel das Licht aus, und er lag mit Blut in der Lunge röchelnd auf dem Betonboden. Wie im Traum hörte er Sina schreien und weinte um alle Träume, die er gehabt hatte, um eine Zukunft, die nun verspielt war. Mit einem Seufzer verließ ihn das Leben, wie es über ihn gekommen war: in Not und Brutalität und Schmerzen.

Auf dem Korridor herrschte schreckliches, tödliches Schweigen. Die Zeit schien still zu stehen. Bourne zielte mit seiner MP ins Dunkel und hörte das leise, flache Atmen der beiden menschlichen Bomben. Er konnte ihre Angst, aber auch ihre Entschlossenheit spüren. Wenn sie merkten, dass er sich auf sie zubewegte, oder auf Chan im Kabelkanal über ihnen aufmerksam wurden, würden sie keinen Augenblick zögern, die Sprengladungen um ihre Taille zu zünden.

Dann, weil er angestrengt horchte, vernahm er über seinem Kopf ein sehr leises zweimaliges Klopfen, das sofort wieder verhallte, und glaubte zu hören, wie Chan durch den Kabelkanal weiterkroch. Er wusste, dass ungefähr über dem Eingang der Fernwärmezentrale eine weitere Wartungsöffnung lag, und konnte sich denken, was Chan beabsichtigte. Dazu würden sie beide Nerven wie Stahlseile und eine sehr sichere Hand brauchen. Die AR-15, mit der er bewaffnet war, hatte einen kurzen Lauf, aber was ihr an Zielsicherheit fehlte, machte sie durch gewaltige Feuerkraft mehr als wett. Sie verschoss ihre.223-Geschosse mit einer Mündungsgeschwindigkeit von über 730 Metern in der Sekunde. Bourne setzte lautlos einen Fuß vor den anderen, dann erstarrte er, weil er in der Dunkelheit vor sich eine leichte Bewegung wahrzunehmen glaubte. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Hatte er etwas gehört: ein Zischen, ein Flüstern, Schritte? Wieder völlige Stille. Er hielt den Atem an und konzentrierte sich darauf, die AR-15 im Anschlag zu halten.

Wo war Spalko? Hatte er die Biowaffe schon geladen? Würde er bleiben, um sein Unternehmen zu Ende zu führen, oder die Flucht ergreifen? Weil Bourne wusste, dass er diese beängstigenden Fragen nicht beantworten konnte, schob er sie vorerst beiseite. Konzentrier dich! ermahnte er sich. Entspann dich, atme tief und gleichmäßig, bis du in den Alpharhythmus gelangst und mit der Waffe eins wirst.

Dann flammte der Lichtstrahl von Chans Stablampe auf, er traf das Gesicht einer Frau und blendete sie. Bourne reagierte, ohne zu zögern oder nachzudenken. Sein Zeigefinger lag gekrümmt am Abzug, und jetzt ließ sein Instinkt ihn auf natürliche Weise augenblicklich in Aktion treten. Mündungsfeuer erhellte den Korridor, und er beobachtete, wie der Kopf der Selbstmordattentäterin in einer Wolke aus Blut, Knochen und Gehirnmasse zerplatzte.

Bourne kam aus seiner gebückten Haltung hoch, rannte los, hielt Ausschau nach der zweiten Frau. Im nächsten Augenblick flammte die Deckenbeleuchtung wieder auf, und er sah die zweite Attentäterin mit durchschnittener Kehle neben der Erschossenen liegen. Dann hangelte Chan sich aus der Wartungsöffnung, und sie drangen miteinander in die Fernwärmezentrale ein.

Kurze Zeit zuvor, in dem nach Pulverdampf und Blut und Tod stinkenden Dunkel, war Spalko auf allen vieren umhergekrochen und hatte blindlings nach Sina getastet. Die Dunkelheit hatte seinen Plan durchkreuzt. Ohne Licht konnte er die diffizile Verbindung zwischen der Mündung des NX 20 und dem Ventil des Heizungsrohrs nicht herstellen.

Mit ausgestrecktem Arm tastete er den Betonboden vor sich ab. Er hatte nicht auf sie geachtet, er wusste nicht sicher, wo sie zuletzt gestanden hatte, und außerdem hatte sie sich bewegt, sobald Arsenow hereingestürmt war. Es war clever von ihm gewesen, den Wachposten als Schutzschild zu benützen, aber Sina war noch cleverer gewesen und hatte ihn erschossen. Und sie musste noch leben. Er hatte sie schreien gehört.

Jetzt verharrte er lauschend, weil er wusste, dass die von ihm scharf gemachten menschlichen Bomben ihn vor dem Angreifer schützten, der dort draußen lauerte. Bourne? Chan? Er gestand sich beschämt ein, dass er sich vor dem Unbekannten auf dem Korridor fürchtete. Wer immer dort sein mochte, er hatte sein Ablenkungsmanöver durchschaut und war zu demselben Schluss gekommen, was die Verwundbarkeit des Heizungssystems betraf. Er fühlte Panik in sich aufsteigen, die sich vorübergehend abschwächte, als er Sinas rasselnde Atemzüge hörte. Er kroch rasch durch eine Lache aus klebrigem Blut zu ihr hinüber.

Ihr Haar war feucht und strähnig, als er ihre Wange küsste.»Schöne Sina«, flüsterte er ihr ins Ohr.»Starke Sina.«

Er spürte eine Art Schauder, die ihren Körper durchlief, und sein Herz zog sich vor Angst zusammen.»Nicht sterben, Sina. Du darfst nicht sterben. «Dann schmeckte er die salzige Nässe, die über ihre Wange lief, und wusste, dass sie weinte. Während sie lautlos schluchzte, hob und senkte ihre Brust sich unregelmäßig.

«Sina…«Spalko küsste ihre Tränen weg.»… du musst stark sein, jetzt mehr als je zuvor. «Er umarmte sie zärtlich und fühlte, wie ihre Arme sich langsam um ihn schlossen.

«Dies ist der Augenblick unseres größten Triumphs. «Er richtete sich kniend auf und legte ihr den NX 20 in die Arme.»Ja, ja, ich habe dich auserwählt, die Waffe einzusetzen und die Zukunft zu verwirklichen.«

Sina konnte nicht sprechen. Ihre Kraft reichte eben dazu aus, weiter rasselnd ein- und auszuatmen. Er fluchte im Dunkel halblaut vor sich hin, denn er konnte ihre Augen nicht sehen, konnte sich nicht vergewissern, dass er sie in der Hand hatte. Dieses Risiko musste er jedoch auf sich nehmen. Er griff nach ihren Händen, drückte die Linke an den Lauf des Diffusors und die Rechte auf Höhe des Abzugsbügels an den Kolben. Ihren rechten Zeigefinger legte er an den größeren Abzug.

«Du brauchst nur abzudrücken«, flüsterte er ihr ins Ohr.»Aber noch nicht, noch nicht. Ich brauche Zeit.«

Ja, er brauchte Zeit, um seine Flucht zu bewerkstelli-gen. Er war im Dunkel gefangen — der einzigen Eventualität, für die er nicht vorgesorgt hatte. Und jetzt konnte er nicht einmal den NX 20 mitnehmen. Er würde rennen, so schnell wie möglich rennen müssen, und die dabei auftretenden Erschütterungen vertrug die Waffe nicht, nachdem sie scharf geladen war. Das hatte Schiffer unmissverständlich klar gemacht. Die Ladung und ihr Behälter waren viel zu zerbrechlich.

«Sina, das machst du, nicht wahr?«Er küsste sie erneut auf die Wange.»Du hast noch die Kraft dazu, ich weiß, dass du sie hast. «Sie versuchte etwas zu sagen, aber er hielt ihr den Mund zu, weil er fürchtete, der oder die unbekannten Angreifer auf dem Korridor könnten ihren erstickten Schrei hören.»Ich bin ganz in der Nähe, Sina. Denk daran.«

Dann glitt er so lautlos und allmählich davon, dass ihre geschwächten Sinne es nicht wahrnehmen konnten. Als er sich dann von ihr abwandte, stolperte er über Ar-senows Leiche und riss sich dabei den Schutzanzug auf. Einen Augenblick lang kehrte sein neues Entsetzen zurück, als er sich vorstellte, hier festzusitzen, während Sina den Abzug betätigte und so das Virus freisetzte, das durch den Riss eindrang und ihn infizierte. Vor seinem inneren Auge erschien die Totenstadt, die er in Nairobi geschaffen hatte, in allen ihren grellen, grausigen Einzelheiten.

Dann hatte er sich gefangen und streifte den Schutzanzug, der ihn jetzt nur behinderte, ganz ab. Lautlos wie eine Katze schlich er zur Tür und schob sich auf den Gang hinaus. Die beiden Selbstmordattentäterinnen spürten seine Gegenwart sofort, veränderten leicht ihre Haltung, waren hörbar nervös.

«La illaha ill Allah«, wisperte er.

«La illaha ill Allah«, wisperten sie ihrerseits.

Dann stahl er sich durch die Dunkelheit davon.

Beide sahen sie sofort: die auf sie zielende großkalibrige, hässliche Mündung von Dr. Felix Schiffers Biodiffusor. Bourne und Chan erstarrten.

«Spalko ist fort. Da liegt sein Schutzanzug«, sagte Bourne.»Hier gibt’s nur einen Ausgang. «Er dachte an die Bewegung, die er wahrgenommen hatte, an das Wispern und die verstohlenen Schritte, die er zu hören geglaubt hatte.»Er muss sich im Dunkel davongeschlichen haben.«

«Den hier kenne ich«, sagte Chan.»Es ist Hassan Ar-senow, aber die Frau mit der Waffe kenne ich nicht.«

Die Terroristin ruhte in halb sitzender Haltung auf der Leiche eines weiteren Terroristen. Wie sie’s geschafft hatte, in diese Position zu gelangen, war den beiden ein Rätsel. Sie war schwer, vielleicht tödlich verwundet, obwohl sich das aus einiger Entfernung nicht sicher feststellen ließ. Aus ihrem Blick sprach eine Welt von Schmerzen, aber auch etwas anderes, dessen war Bourne sich ganz sicher, das über bloße körperliche Schmerzen hinausging.

Chan hatte einer Selbstmordattentäterin eine Kalaschnikow abgenommen, mit der er jetzt auf die Frau zielte.»Für dich gibt’s keinen Ausweg mehr«, knurrte er.

Bourne hatte nur ihre Augen beobachtet. Er trat vor und drückte die Kalaschnikow herunter.»Es gibt immer einen Ausweg«, sagte er.

Dann ging er in die Hocke, um der Frau näher zu sein. Ohne den Blick von ihrem Gesicht zu nehmen, fragte er:»Kannst du sprechen? Kannst du mir deinen Namen sagen?«

Sekundenlang herrschte nur Schweigen, und Bourne musste sich dazu zwingen, ihr in die Augen zu sehen, statt den Zeigefinger zu beobachten, der leicht gekrümmt und nervös am Abzug lag.

Endlich öffnete sie die Lippen und begann zu zittern. Ihre Zähne klapperten, und eine Träne lief über ihre schmutzige Wange.

«Was kümmert’s dich, wie sie heißt?«Chans Stimme klang verächtlich.»Sie ist kein Mensch; sie hat ein Werkzeug der Vernichtung aus sich machen lassen.«

«Chan, das könnten manche Leute auch von dir behaupten. «Bournes Stimme klang so sanft, dass klar war, dass er keinen Tadel, sondern nur eine Wahrheit aussprach, die seinem Sohn vielleicht entgangen war.

Er wandte sich wieder der Terroristin zu.»Es ist wichtig, dass du mir deinen Namen sagst, nicht wahr?«

Ihre Lippen öffneten sich weiter, und sie sagte mit rasselnder, röchelnder Stimme:»Sina.«

«Nun, Sina, das Spiel befindet sich in der Schlussphase«, sagte Bourne.»Jetzt gibt’s nur noch Leben oder Tod. Du hast allem Anschein nach bereits den Tod gewählt. Betätigst du den Abzug, sind dir Ruhm und Ehre, ist dir das Paradies gewiss. Aber ich frage mich, ob es dazu kommen wird. Was lässt du schließlich zurück? Tote Landsleute, von denen du mindestens einen selbst erschossen hast. Und natürlich Stepan Spalko. Wohin er wohl verschwunden ist? Tut nichts zu Sache. Wichtig ist nur, dass er dich im entscheidenden Augenblick im Stich gelassen hat.

Er hat dich sterbend zurückgelassen, Sina, und ist feige geflüchtet. Deshalb wirst du dich fragen müssen, was passieren wird, wenn du den Abzug betätigst. Wirst du zu ewigem Ruhm erhöht — oder wirst du verworfen, weil Munkir und Nekir, die beiden Befrager, dich für unwürdig befinden? Wirst du ihnen angesichts deines Vorlebens antworten können, Sina, wenn sie dich fragen: >Wer ist dein Schöpfer? Wer ist dein Prophet?< Nur die Gerechten können sich an diese Namen erinnern, das weißt du.«

Sina weinte jetzt hemmungslos. Das Schluchzen erschütterte ihren ganzen Körper, und Bourne fürchtete, ein plötzlicher Krampf könnte bewirken, dass sie reflexartig den Abzug betätigte. Wenn er sie erreichen wollte, musste er sich beeilen.

«Wenn du abdrückst, wählst du den Tod, und dann wirst du ihnen nicht antworten können. Das weißt du, Sina. Du bist von denen, die dir am nächsten gestanden haben, verlassen und verraten worden. Und du hast sie deinerseits verraten. Aber es ist noch nicht zu spät. Auch für dich kann es die Erlösung geben; es gibt immer einen Ausweg.«

In diesem Augenblick erkannte Chan, dass Bourne ebenso mit ihm wie mit Sina sprach, und diese Erkenntnis durchzuckte ihn wie ein Stromstoß. Der Impuls lief durch seinen Körper, bis in Chans Gliedmaßen und seinem Gehirn Funken sprühten. Er fühlte sich nackt, letztlich auch bloßgestellt, hatte vor nichts mehr oder weniger Angst als vor sich selbst — vor seinem eigenen wahren Ich, das er vor so vielen Jahren in den Dschungeln Südostasiens begraben hatte. Das war so lange her, dass er sich nicht mehr genau erinnern konnte, wo und wann er das getan hatte. Tatsächlich war er sich selbst fremd. Er hasste seinen Vater dafür, dass er ihm diese Wahrheit vor Augen geführt hatte, aber er konnte nicht länger abstreiten, dass er ihn dafür auch liebte.

Jetzt kniete er neben dem Mann nieder, von dem er wusste, dass er sein Vater war, legte die Kalaschnikow so nieder, dass Sina sie sehen konnte, und streckte eine Hand nach der Liegenden aus.

«Er hat Recht«, sagte Chan in völlig anderem Tonfall als sonst.»Man kann Wiedergutmachung üben für Sünden der Vergangenheit, für die Morde, die man begangen hat, und für den Verrat an Menschen, die einen geliebt haben, vielleicht ohne dass man’s geahnt hat.«

Seine Hand schob sich Zentimeter für Zentimeter vor, bis sie Sinas bedeckte. Langsam und sanft löste er ihren Zeigefinger vom Abzug. Darauf sank sie leicht zurück und ließ zu, dass er die Waffe aus ihrer kraftlosen Umarmung nahm.

«Danke, Sina«, sagte Bourne.»Chan kümmert sich jetzt um dich. «Er stand auf und drückte kurz die Schulter seines Sohns; dann wandte er sich ab und trabte rasch und lautlos den Korridor entlang hinter Spalko her.

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