Jason Bourne sah etwas, das er als» Zusammentreffen von Gelegenheiten «bezeichnete, unmittelbar vor sich. Er war zwischen zwei Fahrspuren mit Gegenverkehr unterwegs. Rechts neben sich hatte er einen Tankwagen; etwas weiter links vor ihm kam ein riesiger Sattelschlepper heran. Die Entscheidung musste augenblicklich fallen, zum Nachdenken blieb keine Zeit. Er legte sich mit Geist und Körper darauf fest, dieses Zusammentreffen zu nutzen.
Er richtete sich auf den Fußrasten stehend auf und lenkte die Maschine sekundenlang nur noch mit der linken Hand. Er zielte mit der Voxan auf den Sattelschlepper, der links herangerast kam, dann ließ er den Lenker los. Die Finger seiner ausgestreckten Rechten bekamen die schmale Eisenleiter zu fassen, die über die gewölbte Flanke des Tankwagens hinaufführte, sodass er vom Motorrad gerissen wurde. Dann drohten seine Finger von dem regennassen Metall abzurutschen, und er war in Gefahr, vom Fahrtwind weggerissen zu werden. Die Schmerzen in seiner Schulter, die er sich, an der Frachtluke des Flugzeugs hängend, gezerrt hatte, trieben ihm Tränen in die Augen. Mit beiden Händen an der Leiter packte er fester zu. Als er sich mit den Füßen auf den Sprossen an die Flanke des Tankwagens schmiegte, knallte die Voxan gegen den Kühler des Sattelschleppers. Der Tankwagen erzitterte und schwankte auf seinen Stoßdämpfern, als er durch den Feuerball fuhr. Dann war er hindurch und rollte nach Süden, wo der Flughafen Paris-Orly und Bournes Freiheit lagen.
Es gab viele Gründe für Martin Lindros’ raschen, unfehlbar sicheren Aufstieg auf der glitschigen Karriereleiter der Agency. Mit nur achtunddreißig Jahren war er der Stellvertreter des CIA-Direktors geworden. Er war intelligent, kam von den richtigen Universitäten und verlor selbst in kritischen Situationen nie den Kopf. Darüber hinaus stellte sein nahezu eidetisches Gedächtnis einen unschätzbaren Vorteil dar, wenn es darauf ankam, die reibungslose Arbeit der CIA-Verwaltung zu organisieren. Bestimmt lauter wichtige Eigenschaften — für den stellvertretenden CIA-Direktor sogar unentbehrlich. Der Alte hatte Lindros jedoch aus einem weiteren Grund ausgewählt: weil er vaterlos war.
Der CIA-Direktor hatte Martin Lindros’ Vater gut gekannt. Die beiden waren drei Jahre lang gemeinsam in Russland und Osteuropa im Einsatz gewesen, bis der ältere Lindros durch eine Autobombe getötet worden war. Wie sein Tod sich auf den damals zwanzigjährigen Martin Lindros auswirken würde, war nicht absehbar gewesen. Als der Direktor auf der Beerdigung des älteren Lindros das blasse, verkniffene Gesicht des jungen Mannes studiert hatte, war ihm klar geworden, dass er Martin Lindros an die Organisation binden wollte, die dessen Vater so fasziniert hatte.
Die Anwerbung war einfach gewesen, denn der junge Mann hatte sich in einer verwundbaren Phase befunden. Der Alte hatte rasch gehandelt, weil er mit unfehlbarem Instinkt Lindros’ Rachedurst erkannt hatte. Der CIA-Direktor hatte dafür gesorgt, dass der junge Mann nach der Graduierung in Yale an die Georgetown University wechselte. Das hatte zwei Vorteile: Es brachte Martin physisch in seinen Einflussbereich, und er konnte so dafür sorgen, dass er die Fächer belegte, die er für die Karriere, die der Direktor für ihn plante, brauchen würde. Er hatte den jungen Mann selbst in die Agency eingeführt und sämtliche Phasen seiner Ausbildung überwacht. Und weil er ihn für immer an sich binden wollte, hatte er ihm zuletzt die Rache ermöglicht, nach der Martin lechzte: Er hatte ihm Namen und Adresse des Terroristen gegeben, der die Autobombe gebaut hatte.
Martin Lindros hielt sich damals exakt an die Anweisungen des Direktors und bewies eine bemerkenswert ruhige Hand, als er den Terroristen mit einem Kopfschuss liquidierte. War dieser Mann wirklich der Erbauer der Autobombe gewesen? Das wusste nicht einmal der CIA-Direktor genau. Aber welchen Unterschied machte das schon? Er war ein Terrorist und hatte in seinem Leben schon viele Autobomben gebastelt. Jetzt war er tot — ein weiterer Terrorist erledigt —, und Martin Lindros konnte nachts wieder ruhig schlafen, weil er den Tod seines Vaters gerächt hatte.
«… wie Bourne uns reingelegt hat«, sagte Lindros gerade. »Er hat die D.C. Metro angerufen, sobald er Ihre Streifenwagen gesehen hat. Er wusste, dass Ihre Leute — außer in Zusammenarbeit mit der Agency — in Washington nichts zu suchen haben.«
«Scheiße, da haben Sie leider Recht. «Detective Harris von der Virginia State Police nickte, bevor er den letzen Schluck seines Bourbons kippte.»Aber nachdem er jetzt ins Visier der Franzmänner geraten ist, haben sie vielleicht bessere Chancen, ihn zu stellen, als wir.«
«Sie sind Franzmänner«, sagte Lindros verdrießlich.
«Trotzdem müssen sie ab und zu auch mal was richtig hinkriegen, stimmt’s?«
Die beiden saßen in der Foggy Bottom Lounge in der Pennsylvania Avenue. Um diese Zeit war die Bar voller Studenten der George Washington University. Seit über einer Stunde betrachtete Lindros nun aus den Augenwinkeln nackte Bäuche mit Nabelsteckern und minibe-rockte knackige Hintern, die fast zwanzig Jahre jünger waren als seiner. Im Leben jedes Mannes kommt einmal der Tag, dachte er, an dem er in den Rasierspiegel sieht und erkennt, dass er nicht mehr jung ist. Keines dieser Mädchen hatte ihn eines zweiten Blickes gewürdigt; sie nahmen gar nicht zur Kenntnis, dass er existierte.
«Wie kommt’s«, fragte er,»dass man als Mann nicht sein Leben lang jung bleiben kann?«
Harris lachte und gab der Bedienung ein Zeichen, eine weitere Runde zu bringen.
«Finden Sie das komisch?«
Sie hatten die Phasen überwunden, in der sie sich erst angebrüllt, dann eisig geschwiegen und einander schließlich mit gehässigen und spöttischen Bemerkungen geärgert hatten. Zuletzt hatten sie sich gesagt:»Schluss mit dem Blödsinn!«und waren losgezogen, um sich zu betrinken.
«Yeah, das finde ich verdammt komisch«, sagte Harris und machte Platz für die neuen Gläser.»Sie jammern hier wegen Muschis, bilden sich ein, Sie seien im Leben zu kurz gekommen. Hier geht’s nicht um Muschis, Martin, obwohl ich ehrlich sagen muss, dass ich keine Gelegenheit zum Bumsen ausgelassen habe.«
«Okay, Klugscheißer, worum geht’s sonst?«
«Wir haben verloren, das ist alles. Wir haben uns auf Jason Bournes Spiel eingelassen, und er hat haushoch gewonnen. Aber bei ihm ging’s um mehr als um Kopf und Kragen.«
Lindros setzte sich etwas gerader auf, büßte diese unbedachte Bewegung mit einem leichten Schwindelanfall. Er hielt sich mit einer Hand den Kopf.»Was zum Teufel soll das heißen?«
Harris hatte die Angewohnheit, jeden Schluck Whiskey im Mund zu bewegen, als sei der Drink ein Mundwasser. Sein Adamsapfel hüpfte, als er hörbar laut schluckte.»Ich glaube nicht, dass er Conklin und Panov ermordet hat.«
Lindros ächzte.»Jesus, Harry, nicht schon wieder!«
«Das sage ich, bis Sie meschugge werden. Aber mich interessiert vor allem, warum Sie das nicht hören wollen.«
Lindros hob den Kopf.»Okay, okay. Erzählen Sie mir, warum Sie Bourne für unschuldig halten.«
«Was würde das nützen?«
«Ich habe Sie gefragt. Also los!«
Harris schien zu überlegen. Dann zuckte er mit den Schultern, zog seine Geldbörse aus der Tasche und nahm einen Zettel heraus, den er auf dem Tisch glatt strich.»Wegen dieser Verwarnung wegen Falschparkens.«
Lindros griff nach dem Zettel, las ihn.»Diesen Strafzettel hat ein Dr. Felix Schiffer bekommen. «Er schüttelte verständnislos den Kopf.
«Felix Schiffer gehört zu den Leuten, die Verwarnungen ignorieren«, sagte Harris.»Ich hätte nie etwas von ihm gehört, aber diesen Monat nehmen wir uns gezielt solche Leute vor, und einer meiner Männer hat vergeb-lich versucht, ihn aufzuspüren. «Er tippte mit dem Zeigefinger auf den Zettel.»Das hat einige Mühe gekostet, aber ich habe rausbekommen, weshalb mein Mann ihn nicht finden konnte. Wie sich herausgestellt hat, geht Schiffers gesamte Post an Alex Conklins Adresse.«
Lindros zuckte mit den Schultern.»Und?«
«Und als ich versucht habe, Dr. Felix Schiffer am Computer zu überprüfen, bin ich vor einer Mauer gestanden.«
Lindros hatte das Gefühl, wieder klarer denken zu können.»Was für eine Mauer?«
«Eine von der amerikanischen Regierung errichtete. «Harris kippte den Rest seines Whiskeys, ohne ihn erst im Mund zu bewegen.»Dieser Dr. Schiffer ist höchst wirkungsvoll auf Eis gelegt worden. Ich weiß nicht, was zum Teufel Conklin vorhatte, aber es war verdammt gut getarnt. Ich möchte wetten, dass nicht mal seine eigenen Leute davon gewusst haben. «Der Kriminalbeamte schüttelte den Kopf.»Er ist nicht von einem durchgeknallten Agenten ermordet worden, Martin, darauf würde ich meinen Kopf verwetten.«
Als Stepan Spalko in der Zentrale von Humanistas, Ltd. mit dem Privataufzug nach oben fuhr, war er allerbester Laune. Sah man von der unerwarteten Komplikation mit Chan ab, war wieder alles auf Kurs. Die Tschetschenen hatte er in der Tasche; sie waren intelligent, furchtlos und bereit, für ihre Sache zu sterben. Und Arsenow war zumindest ein engagierter und disziplinierter Führer. Deshalb hatte Spalko ihn ausgewählt, Chalid Murat zu verraten. Murat hatte Spalko nie recht getraut; er hatte ein feines Gespür für Falschheit besessen. Aber jetzt war
Murat beseitigt, und Spalko zweifelte nicht daran, dass die Tschetschenen leisten würden, was er von ihnen erwartete. An der anderen Front war der verdammte Alexander Conklin tot, und die CIA hielt Jason Bourne für seinen Mörder — zwei Fliegen mit einer Klappe. Trotzdem existierte das Kernproblem mit der Waffe und Felix Schiffer weiter. Spalko fühlte den gewaltigen Druck der Maßnahmen, die noch getroffen werden mussten. Die Zeit lief ihm davon, das wusste er; es gab noch erschreckend viel zu tun.
Er stieg in einer mittleren Etage aus, die nur mit seiner persönlichen Magnetkarte zugänglich war, durchquerte seine sonnendurchflutete Wohnung und trat an die Fensterfront mit Blick auf die Donau, das satte Grün der Margareteninsel, die Stadt dahinter. Während er dastand und das Parlamentsgebäude anstarrte, dachte er an künftige Zeiten, in denen er unvorstellbare Macht besitzen würde. Sonnenschein ließ die neugotische Fassade, die Strebepfeiler, die Kuppeln und Türme in scharfem Relief hervortreten. Drinnen trafen mächtige Männer zu täglichen Sitzungen zusammen und schwatzten belangloses Zeug. Spalko holte tief Luft. Er allein wusste, wo die wahre Macht auf dieser Welt konzentriert war. Er hob seine Rechte und ballte sie zur Faust. Bald würden alle es wissen — der amerikanische Präsident in seinem Weißen Haus, der russische Präsident im Kreml, die Ölscheichs in ihren prächtigen arabischen Palästen. Bald würden sie alle wissen, was Angst ist.
Nachdem er seine Kleidung abgestreift hatte, ging er barfuß in das große, luxuriöse Bad, das lapislazuliblau gefliest war. Er duschte in der mit acht Düsen ausgestatteten Kabine und schrubbte sich, bis seine Haut gerötet war. Dann trocknete er sich mit einem übergroßen weißen Badetuch ab und zog Jeans und ein Jeanshemd an.
An seiner Hausbar aus makellosem Edelstahl ließ er sich vom Kaffeeautomaten einen Becher frischen Kaffees zubereiten. Er fügte Sahne, Zucker und einen Klacks Schlagobers aus dem Einbaukühlschrank unter der Theke hinzu. Danach stand er einige Augenblicke lang nur da, trank den Kaffee mit kleinen Schlucken, ließ seinen Verstand angenehm unkonzentriert, genoss die wachsende freudige Erwartung. Heute gab es so viele wundervolle Dinge, auf die man sich freuen konnte!
Er stellte den Kaffeebecher ab und band sich eine Fleischerschürze um. Auf seine auf Hochglanz polierten Slipper verzichtete er zugunsten grüner Gummistiefel.
Noch ein Schluck von dem köstlichen Kaffee, dann ging er durch den Raum zu einer holzvertäfelten Wand. Davor stand ein kleiner Tisch mit einer Schublade, die er aufzog. Sie enthielt eine Box mit Latexhandschuhen. Vor sich hinsummend entnahm er zwei Handschuhe, streifte sie über. Dann drückte er auf einen Geheimknopf, der zwei der Wandpaneele zur Seite gleiten ließ, und trat über die Schwelle in einen entschieden seltsamen Raum. Die Wände bestanden aus schwarz gestrichenem Beton; der weiß geflieste Fußboden senkte sich zur Mitte hin, wo ein riesiger Abfluss montiert war. An einer Wand hing eine Metalltrommel mit einem aufgerollten Wasserschlauch. Die Decke des Raums war dick mit schallschluckendem Material verkleidet. Die einzigen Einrichtungsgegenstände waren ein Holztisch — zerkratzt, an vielen Stellen fleckig von altem Blut — und ein Zahnarztstuhl mit bestimmten, von Spalko exakt vorgegebenen Veränderungen. Neben dem Stuhl stand ein verchromtes
Wägelchen mit drei Ablagen, auf denen eine Ansammlung blitzender Metallinstrumente mit bedrohlich wirkenden spitzen Enden lag: gerade, gekrümmt und spiralig.
In dem Stuhl lag Laszlo Molnar: splitternackt, die Hand- und Fußgelenke mit Stahlbändern gefesselt. Gesicht und Körper Molnars waren mit Schnittwunden, Prellungen und Blutergüssen übersät; seine Augen lagen, von dunklen Ringen aus Schmerz und Verzweiflung umgeben, tief in ihren Höhlen.
Spalko betrat den Raum so energisch und professionell wie ein geschäftstüchtiger Arzt.»Mein lieber Laszlo, ich muss schon sagen, Sie sehen ziemlich mitgenommen aus. «Er kam so dicht heran, dass er sehen konnte, wie Molnars Nasenlöcher sich weiteten, als er den Kaffee roch.»Aber das war zu erwarten, nicht wahr? Sie haben eine ziemlich schlimme Nacht hinter sich. Nichts, was Sie erwartet hätten, als Sie in die Oper gefahren sind, stimmt’s? Aber keine Sorge, die Sache bleibt spannend. «Er stellte den Kaffeebecher neben Molnars Ellbogen ab, griff nach einem der Instrumente.»Wir machen mit diesem hier weiter, denke ich, ja.«
«Was… was haben Sie vor?«, krächzte Molnar. Seine Stimme war nur ein heiseres Flüstern.
«Wo ist Dr. Schiffer?«, fragte Spalko im Plauderton.
Molnars Kopf ruckte von einer Seite zur anderen; er biss krampfhaft die Zähne zusammen, als wolle er sicherstellen, dass kein Wort über seine Lippen kam.
Spalko testete die scharfe Spitze des Instruments.»Ich verstehe wirklich nicht, weshalb Sie zögern, Laszlo. Ich habe die Waffe, und obwohl Dr. Schiffer verschwunden ist.«
«Vor Ihrer Nase entführt«, flüsterte Molnar.
Spalko machte sich lächelnd mit dem Instrument über seinen Gefangenen her und erreichte binnen kurzem, dass Molnar laut schrie.
Dann trat er einen Augenblick zurück, hob den Kaffeebecher an die Lippen und trank einen Schluck.»Wie Sie inzwischen bestimmt wissen, ist dieser Raum absolut schalldicht. Niemand kann Sie hören — niemand wird Sie retten, am allerwenigsten Vadas. Er weiß nicht einmal, dass Sie verschwunden sind.«
Er nahm ein anderes Instrument zur Hand, bohrte es in den Körper seines Opfers.»Wie Sie sehen, ist Ihre Lage hoffnungslos«, sagte er dabei.»Es sei denn, Sie erzählen mir, was ich wissen will. Wie’s der Zufall will, Laszlo, bin ich jetzt Ihr einziger Freund, jaja, ich bin der Einzige, der Sie retten kann. «Er packte Molnar unter dem Kinn und küsste seine blutige Stirn.»Ich bin der Einzige, der Sie wahrhaft liebt.«
Molnar schloss kurz die Augen und schüttelte erneut den Kopf.
Spalko starrte ihm aus nächster Nähe in die Augen.»Ich will Ihnen nicht wehtun, Laszlo. Das wissen Sie doch, nicht wahr?«Im Gegensatz zu seinen Händen war seine Stimme sanft.»Aber Ihre Sturheit macht mir Sorgen. «Er bearbeitete Molnar weiter.»Ich frage mich, ob Sie die wahre Natur der Umstände erkennen, in die Sie geraten sind. An diesen Schmerzen, die Sie erdulden, ist Vadas schuld. Es ist Vadas, der Sie in diese verzweifelte Lage gebracht hat. Auch Conklin war daran beteiligt, möchte ich wetten, aber Conklin ist tot.«
Molnar riss den Mund weit auf und stieß einen gellenden Schrei aus. Blutige schwarze Löcher gähnten, wo ihm Zähne langsam und schmerzvoll herausgebrochen worden waren.
«Ich möchte Ihnen versichern, dass ich meine Arbeit nur äußerst widerwillig fortsetze«, sagte Spalko sehr konzentriert. In diesem Stadium kam es entscheidend darauf an, dass Molnar trotz der ihm zugefügten Schmerzen verstand, was er sagte.»Ich bin nur das Werkzeug Ihrer eigenen Sturheit. Können Sie nicht begreifen, dass in Wirklichkeit Vadas für dies alles büßen müsste?«
Spalko hielt einen Augenblick inne. Seine Latexhandschuhe waren mit Blut bespritzt, und er atmete so schwer, als sei er fünf Treppen hinaufgerannt. Trotz des Vergnügens, das ihm die Folter bereitete, war sie harte Arbeit. Molnar begann zu wimmern. Das klang wie ein Stoßgebet.
«Was soll der Unsinn, Laszlo? Sie beten zu einem Gott, der nicht existiert und Sie daher nicht schützen oder Ihnen helfen kann. Wie die Russen sagen: >Bete zu Gott, rudere an Land.<«Aus Spalkos Lächeln sprach eine Andeutung von Vertraulichkeit zwischen Kameraden.»Und die Russen müssen’s wissen, eh? Ihre Geschichte ist mit Blut geschrieben. Erst die Zaren, dann die Apparatschiks- als ob die Parteikader besser gewesen wären als jene lange Reihe von Despoten!
Ich sage Ihnen, Laszlo, die Russen mögen politisch völlig versagt haben, aber was Religion angeht, haben sie die richtige Haltung. Religion — jede Religion — ist ein Schwindel. Sie ist die große Illusion der Schwachen, der Ängstlichen, der Schafe dieser Welt, die nicht die Kraft besitzen, selbst zu führen, sondern nur geführt werden wollen. Auch wenn sie unweigerlich zur Schlachtbank geführt werden. «Spalko schüttelte traurig, weise den
Kopf.»Nein, nein, die einzige Realität ist Macht, Laszlo. Geld und Macht. Allein darauf kommt’s an, auf sonst nichts.«
Molnar hatte sich etwas entspannt, während Spalko ihm diesen Vortrag hielt, der darauf berechnet war, ihn durch seinen Plauderton und die Illusion von Kameradschaft an seinen Folterer zu binden. Jetzt riss er jedoch in nackter Panik die Augen auf, als Spalko von neuem begann.»Nur Sie selbst können sich helfen, Laszlo. Sagen Sie mir, was ich wissen will. Erzählen Sie mir, wo Vadas Felix Schiffer versteckt hat.«
«Aufhören!«, stöhnte Molnar.»Bitte aufhören!«
«Ich kann nicht aufhören, Laszlo. Verstehen Sie das doch endlich. Diese Situation wird jetzt allein von Ihnen kontrolliert. «Wie um seine Behauptung zu illustrieren, gebrauchte Spalko das Instrument erneut.»Nur Sie können dafür sorgen, dass ich aufhöre!«
Auf Molnars Gesicht erschien ein verwirrter Ausdruck, und er sah sich wild um, als erkenne er erst jetzt, was mit ihm geschah. Spalko studierte ihn aufmerksam — er wusste aus Erfahrung, was in ihm vorging. Diese Erscheinung war gegen Ende einer erfolgreichen Folter oft zu beobachten. Der Betreffende näherte sich dem Altar des Geständnisses nicht etwa Schritt für Schritt, sondern leistete vielmehr Widerstand, solange er nur konnte. Aber seine Willenskraft war irgendwann erschöpft. An einem geheimnisvollen Punkt erreichte sie wie ein gedehntes Gummiband ihr Limit, und wenn sie zurückschnappte, gewann eine neue Realität — die vom Inquisitor kunstvoll erschaffene Realität — die Oberhand.
«Ich weiß nicht…«
«Erzählen Sie’s mir«, sagte Spalko mit samtweicher
Stimme, während seine Hand in dem Latexhandschuh die schweißnasse Stirn seines Opfers tätschelte.»Erzählen Sie’s mir, dann ist alles vorbei, als würden Sie aus einem schlimmen Traum erwachen.«
Molnar verdrehte die Augen nach oben.»Versprechen Sie’s mir?«, fragte er wie ein kleines Kind.
«Haben Sie Vertrauen zu mir, Laszlo. Ich will, was auch Sie wollen — ein Ende Ihrer Qualen.«
Molnar weinte jetzt. Aus seinen Augen quollen große Tränen, die milchig und rosa wurden, als sie über sein Gesicht rollten. Und dann begann er hemmungslos zu schluchzen, wie er es seit seiner Kindheit nicht mehr getan hatte.
Spalko sagte nichts. Er wusste, dass sie das kritische Stadium erreicht hatten. Jetzt ging es um alles oder nichts: Molnar würde sich in den Abgrund stürzen, an den Spalko ihn so trickreich geführt hatte, oder er würde sich dazu zwingen, in Schmerzen zu erlöschen.
Molnars Körper zitterte unter dem Sturm aus Emotionen, den das Verhör ausgelöst hatte. Nach einiger Zeit ließ er den Kopf zurücksinken. Sein Gesicht war grau und erschreckend abgehärmt; seine Augen, die weiter von Tränen glänzten, schienen noch tiefer in ihre Höhlen gesunken zu sein. Nichts erinnerte mehr an den lebhaften, leicht beschwipsten Opernliebhaber, den Spalkos Männer im Underground betäubt hatten. Er war wie verwandelt. Er war restlos erschöpft.
«Gott verzeih mir«, flüsterte er heiser.»Dr. Schiffer ist auf Kreta. «Er brabbelte eine Adresse.
«Braver Junge«, sagte Spalko leise. Damit war das Puzzlespiel endlich vollständig. Heute Abend würden seine» Mitarbeiter «und er nach Kreta fliegen, um Felix
Schiffer zu entführen und ihm die Informationen zu entlocken, die sie noch brauchten, um ihren Anschlag auf das Hotel Oskjuhlid durchführen zu können.
Molnar gab einen animalischen kleinen Laut von sich, als Spalko das Folterwerkzeug fallen ließ. Er verdrehte seine blutunterlaufenen Augen und war dicht davor, erneut in Tränen auszubrechen.
Langsam, fast zärtlich setzte Spalko den Becher an Molnars Lippen und beobachtete desinteressiert, wie er gierig den heißen, süßen Kaffee trank.»Endlich erlöst. «Ob er mit Molnar oder sich selbst sprach, blieb unklar.