«Ich fürchte, dass du innere Blutungen hast«, sagte Annaka, während sie nochmals die stark verfärbte Prellung an Bournes Seite begutachtete.»Wir müssen dich ins Krankenhaus schaffen.«
«Soll das ein Witz sein?«, fragte er. Tatsächlich waren die Schmerzen viel schlimmer geworden, sodass er bei jedem Atemholen das Gefühl hatte, mehrere Rippen seien zersplittert. Aber eine Behandlung im Krankenhaus kam nicht in Frage; schließlich wurde nach ihm gefahndet.
«Also gut«, räumte Annaka ein,»dann zu einem Arzt. «Sie hob eine Hand, um seine Einwände abzuwehren.»Istvan, der Freund meines Vaters, ist unbedingt diskret. Mein Vater hat ihn schon mehrmals hinzugezogen, auf Istvan war immer Verlass.«
Bourne schüttelte den Kopf.»Geh in die Apotheke, wenn’s sein muss — nicht mehr.«
Bevor er sich die Sache anders überlegen konnte, griff Annaka nach Mantel und Umhängetasche und versprach, so schnell wie möglich zurückzukommen.
In gewisser Beziehung war er froh, sie für eine Weile los zu sein, denn er musste mit seinen Gedanken allein sein. Auf dem Sofa zusammengerollt liegend, zog er die Steppdecke enger um sich. Sein Kopf schien in Flammen zu stehen. Seiner Überzeugung nach war Dr. Schiffer der Schlüssel zu allem. Er musste ihn aufspüren, denn sobald er das getan hatte, würde sich herausstellen, wer Alex und
Mo hatte ermorden lassen. Der Betreffende hatte auch versucht, ihm den Doppelmord anzuhängen. Das Problem war nur, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Schiffer war nun schon längere Zeit verschwunden. Molnar war seit zwei Tagen tot. Hatte er Schiffers Aufenthaltsort unter der Folter verraten, wie zu befürchten war, musste Bourne annehmen, Schiffer befinde sich jetzt in der Hand des Feindes — was zugleich bedeutete, dass der Feind auch besaß, was Schiffer anscheinend erfunden hatte: irgendeine Art biologischer Waffe mit dem Kodenamen NX 20, auf den Leonard Fine, Conklins Verbindungsmann, so stark reagiert hatte, als Bourne ihn erwähnt hatte.
Wer war der Feind? Der einzige Name, den er hatte, war der von Stepan Spalko, einem international bekannten Helfer der Menschheit. Und trotzdem war Spalko nach Chans Aussage die graue Eminenz in diesem tödlichen Spiel. Chan konnte natürlich lügen — und warum auch nicht? Wenn er eigene Gründe hatte, sich an Spalko zu rächen, würde er sie Bourne kaum mitteilen.
Chan!
Allein der Gedanke an ihn bewirkte, dass Bourne von unerwünschten Emotionen überflutet wurde. Mit einiger Anstrengung gelang es ihm, seinen Zorn auf die beteiligten staatlichen Stellen zu konzentrieren. Sie hatten ihn belogen, an einem gemeinsamen Täuschungsmanöver mitgewirkt, um zu verhindern, dass er die Wahrheit entdeckte. Warum? Was wollten sie verbergen? Glaubten sie, dass Joshua noch lebte? Und wieso sollte er dann nichts davon erfahren? Was bezweckten sie damit? Er hielt sich den Kopf mit beiden Händen. Sein Blick schien die richtige Perspektive verloren zu haben: Dinge, die vor kurzem noch ganz nahe gewesen waren, schienen in weite Ferne gerückt, sodass Bourne fürchtete, er könnte den Verstand verlieren.
Mit einem unverständlichen Aufschrei schlug er die Steppdecke zurück, stand auf, ohne auf die stechenden Schmerzen in seiner Seite zu achten, und ging zu seiner Jacke, unter der er die Keramikpistole versteckt hatte. Er nahm sie in die Hand. Im Gegensatz zu einer stählernen Waffe mit ihrem beruhigenden Gewicht war sie federleicht. Bourne hielt den Griff umklammert, steckte seinen Zeigefinger durch den Abzugbügel. Er starrte die Pistole lange an, als könne er sie durch bloße Willensanstrengung dazu zwingen, die tief in der Militärbürokratie versteckten Personen heraufzubeschwören, die beschlossen hatten, ihm zu verschweigen, dass Joshuas Leiche nie gefunden worden war, weil es viel einfacher gewesen war, ihn für tot zu erklären, als eingestehen zu müssen, dass sie nicht sicher wussten, ob er tot oder lebendig war.
Die Schmerzen kamen allmählich wieder, und er litt bei jedem Atemzug solche Qualen, dass er aufs Sofa zurückkehren musste, wo er sich wieder in die Steppdecke wickelte. Und in der Stille des Apartments tauchte wieder ein quälender Gedanke auf: Was war, wenn Chan die Wahrheit sagte — wenn er wirklich Joshua war? Und die Antwort, entsetzlich und unausweichlich: Dann war er ein Berufskiller, ein brutaler Mörder ohne Reue oder Schuldgefühl, bar aller menschlichen Gefühlsregungen.
Plötzlich ließ Jason Bourne den Kopf hängen, war den Tränen so nahe wie lange nicht mehr, seit Alex Conklin ihn vor Jahrzehnten angeworben hatte.
Als Kevin McColl den Auftrag erhielt, Bourne zu liquidieren, lag er auf Ilona, einer mit ihm befreundeten Ungarin, die so hemmungslos wie sportlich war. Sie konnte wundervolle Dinge mit ihren Beinen tun — und tat sie auch gerade, als der Anruf kam.
Wie es der Zufall wollte, war er in den Kiraly-Bädern in der Fo utca. Da heute Samstag, Frauentag, war, hatte Ilona ihn hineinschmuggeln müssen, was alles nur noch aufregender machte, wie McColl zugeben musste. Wie jeder andere in seiner Position hatte er sich sehr rasch daran gewöhnt, außerhalb des Gesetzes zu stehen oder besser — das Gesetz zu sein.
Frustriert grunzend löste er sich aus ihrer Umschlingung und griff nach seinem Handy. Einen Anruf der Agency, der unter dieser speziellen Nummer einging, durfte man niemals ignorieren. Er hörte sich einsilbig an, was der Direktor am anderen Ende zu sagen hatte. Er würde jetzt gehen müssen. Der Auftrag war dringend, die Zielperson in Reichweite.
Und so begann er sich anzuziehen, während er wehmütig die Reflexion von Ilonas schweißnassem Körper auf den Mosaikkacheln betrachtete. McColl war ein Hüne mit der Statur eines Footballverteidigers aus dem Mittleren Westen und breitem, ausdruckslosem Gesicht. Er trainierte wie besessen mit Hanteln, was man ihm anmerkte. Seine Muskeln spielten bei jeder Bewegung, die er machte.
«Ich bin noch nicht fertig«, protestierte Ilona, während ihre riesigen schwarzen Augen ihn verschlangen.
«Ich auch nicht«, sagte McColl und ließ sie auf der Liege zurück.
Auf dem Vorfeld des Nelson Airports in Nairobi standen zwei Privatjets. Beide gehörten Stepan Spalko; beide trugen das Zeichen von Humanistas, Ltd. auf dem Rumpf und am Leitwerk. Mit der ersten Maschine war Spalko aus Budapest gekommen. Das zweite Flugzeug hatte die Mitarbeiter von Humanistas hergebracht, die jetzt mit ihm nach Budapest zurückfliegen würden. Dieser Jet sollte Arsenow und Sina nach Island bringen, wo sie mit den anderen Terroristen zusammentreffen würden, die aus Tschetschenien über Helsinki nach Reykjavik unterwegs waren.
Spalko und Arsenow standen sich gegenüber. Sina blieb einen Schritt hinter Arsenows linker Schulter. Er glaubte bestimmt, sie nehme diese Position aus Ehrerbietung ein, aber Spalko wusste es besser. Ihre Augen glühten vor Verlangen, während sie ihn mit Blicken verschlang.
«Du hast in jeder Beziehung Wort gehalten, Scheich«, sagte Arsenow aufrichtig.»Die Waffe wird uns in Reykjavik den Sieg bringen, das steht außer Zweifel.«
Spalko nickte.»Bald bekommt ihr alles, was euch schon lange zusteht.«
«Unser Dank erscheint mir jämmerlich gering.«
«Du stellst dein Licht unter den Scheffel, Hassan. «Spalko schlug leicht auf den Aktenkoffer in seiner linken Hand.»Reisepässe, Dienstausweise, Gebäudepläne, die neuesten Fotos, alles, was du brauchst. «Er übergab den Aktenkoffer.»Der Treff mit dem Boot ist für morgen früh um drei Uhr geplant. «Er nickte Arsenow zu.»Möge Allah dir Mut und Kraft geben. Möge Allah deine gepanzerte Faust führen.«
Als Arsenow, der in Gedanken bei seiner kostbaren
Fracht war, sich abwandte, sagte Sina:»Möge unser nächstes Treffen uns in eine große Zukunft führen, Scheich.«
Spalko lächelte.»Die Vergangenheit wird sterben«, antwortete er mit einem Blick, der Bände sprach,»um Platz für diese große Zukunft zu machen.«
Sina lachte vergnügt in sich hinein, als sie Hassan Ar-senow folgte, der bereits die kurze Fluggasttreppe zur Kabine hinaufging.
Spalko sah zu, wie die Tür sich hinter ihnen schloss, bevor er zu seiner geduldig auf dem Vorfeld wartenden Maschine hinüberging. Er klappte sein Handy auf und gab eine Nummer ein; als eine vertraute Stimme sich meldete, sagte er ohne Vorrede:»Bournes Fortschritte in dieser Sache sind eine bedrohliche Entwicklung. Ich kann es mir nicht leisten, darauf zu warten, dass Chan ihn öffentlich erledigt… Ja, ich weiß, falls er jemals vorgehabt hat, Bourne umzulegen. Chan ist ein neugieriger Kerl, ein Rätsel, das ich nie habe lösen können. Aber jetzt ist er so unberechenbar, dass ich annehmen muss, dass er eigene Absichten verfolgt. Stirbt Bourne jetzt, taucht Chan ab, sodass nicht mal ich ihn wieder finden kann. Nichts, absolut nichts darf das behindern, was in zwei Tagen geschehen wird. Drücke ich mich klar genug aus? Gut, dann hör mir jetzt zu. Es gibt nur eine Möglichkeit, sie beide auszuschalten.«
McColl hatte nicht nur Annaka Vadas’ Namen und Adresse erhalten — durch einen beinahe unglaublichen Zufall nur vier Straßenblocks nördlich der Bäder —, sondern auch ihr Foto als JPEG-Bild auf sein Handy bekommen. Daher hatte er keine Mühe, sie zu erkennen, als sie aus dem Haus 106–108 Fo utca kam. Ihre Schönheit und ihre Art, sich selbstbewusst zu bewegen, beeindruckten ihn sofort. Er sah zu, wie sie ihr Handy einsteckte, den blauen Skoda aufsperrte und hinters Lenkrad glitt.
Kurz bevor Annaka den Zündschlüssel ins Schloss steckte, erhob Chan sich vom Rücksitz ihres Wagens und sagte:»Ich sollte Bourne alles erzählen.«
Sie fuhr zusammen, versuchte aber nicht, sich umzudrehen, so gut war sie ausgebildet. Sie starrte ihn nur im Rückspiegel an und erwiderte knapp:»Ihm was erzählen? Du weißt doch nichts!«
«Ich weiß genug. Zum Beispiel weiß ich, dass du die Polizei in Molnars Apartment geholt hast. Ich weiß, warum du das getan hast. Bourne war gefährlich nahe daran, die Wahrheit zu entdecken, nicht wahr, gefährlich dicht davor, herauszubekommen, dass Spalko ihm den Doppelmord angehängt hat. Das hatte ich ihm bereits gesagt, aber offensichtlich will er mir kein Wort glauben.«
«Warum auch? Für ihn besitzt du keinerlei Glaubwürdigkeit. Seiner Überzeugung nach bist du Teil einer großen Verschwörung mit dem Ziel, ihn zu manipulieren.«
Chans Hand schoss über die Vordersitzlehne und packte mit stählernem Griff ihren Arm, der sich langsam bewegt hatte, während sie gesprochen hatte.»Lass das!«Er griff sich ihre Umhängetasche, klappte sie auf und nahm die Pistole heraus.»Du hast schon mal versucht, mich umzubringen. Eine zweite Chance bekommst du nicht, darauf kannst du Gift nehmen.«
Sie starrte sein Spiegelbild an. In ihrem Inneren lagen Emotionen im Widerstreit.»Du glaubst, dass ich dich belüge, was Jason angeht, aber das stimmt nicht.«
«Mich würde nur interessieren«, sagte er leichthin, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen,»wie du ihm eingeredet hast, du hättest deinen Vater geliebt, obwohl du ihn in Wirklichkeit gehasst hast.«
Sie saß stumm da, atmete langsam und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Sie wusste, dass sie sich in äußerst gefährlicher Lage befand. Die Frage war nur, wie sie sich daraus befreien sollte.
«Wie du gejubelt haben musst, als er erschossen wurde!«, fuhr Chan fort.»Aber wie ich dich kenne, hast du dir vermutlich gewünscht, du hättest ihn selbst umlegen dürfen.«
«Willst du mich liquidieren?«, wehrte sie mit gepresster Stimme ab.»Dann tu’s gleich, und erspar mir dein Geschwätz.«
Wie eine zustoßende Kobra schlossen seine Hände sich so blitzschnell um ihren Hals, dass sie erstmals besorgt wirkte, worauf er’s schließlich abgesehen hatte.»Ich habe nicht vor, dir irgendwas zu ersparen, Annaka. Was hast du mir erspart, als du Gelegenheit dazu hattest?«
«Ich habe nicht gedacht, dass ich dich mal verhätscheln müsste.«
«Du hast selten gedacht, als wir zusammen waren«, sagte er,»zumindest nicht an mich.«
Ihr Lächeln war kalt.»Oh, ich habe ständig an dich gedacht.«
«Und du hast jeden dieser Gedanken Stepan Spalko weitererzählt. «Seine Hände packten fester zu, rissen ihren Kopf nach hinten.»Stimmt das etwa nicht?«
«Wieso fragst du, wenn du die Antwort schon weißt?«, sagte sie leicht außer Atem.
«Seit wann hat er mit mir gespielt?«
Annaka schloss kurz die Augen.»Von Anfang an.«
Chan knirschte vor Wut mit den Zähnen.»Was bezweckt er damit? Was will er von mir?«
«Das weiß ich nicht. «Sie keuchte, weil seine Hände so fest zudrückten, dass sie ihr die Luft abschnürten. Als er seinen Griff wieder etwas lockerte, sagte sie mit schwacher Stimme:»Auch wenn du mir noch so wehtust, du bekommst immer dieselbe Antwort, weil das die Wahrheit ist.«
«Die Wahrheit!«Chan lachte verächtlich.»Du würdest die Wahrheit nicht erkennen, wenn sie dich bisse. «Trotzdem glaubte er ihr und war von ihrer Unbrauchbarkeit angewidert.»Was hast du mit Bourne zu schaffen?«
«Ich soll ihn von Stepan fern halten.«
Er nickte, weil er sich an sein Gespräch mit Spalko erinnerte.»Das klingt plausibel.«
Diese Lüge war ihr leicht über die Lippen gekommen. Sie klang nicht nur wahr, weil Annaka lebenslange Übung als Lügnerin hatte, sondern weil das bis zu ihrem letzten Telefongespräch mit Spalko die Wahrheit gewesen war. Spalkos Pläne hatten sich geändert, und nachdem sie nun Zeit gehabt hatte, über diese Sache nachzudenken, passte es zu ihrem neuen Auftrag, Chan das mitzuteilen. Vielleicht war es sogar günstig, dass er ihr hier aufgelauert hatte — aber nur wenn sie’s schaffte, diese Begegnung lebend zu überstehen.
«Wo ist Spalko jetzt?«, wollte er wissen.»Hier in Budapest?«
«Er ist auf dem Rückflug aus Nairobi.«
Chan war überrascht.»Was hat er in Nairobi gemacht?«
Sie lachte, aber da seine Finger ihr weiter schmerzhaft den Hals zudrückten, klang das mehr wie ein trockenes Röcheln.»Glaubst du wirklich, dass er mir das erzählen würde? Du weißt doch, wie geheimnistuerisch er ist.«
Er legte seine Lippen an ihr Ohr.»Ich weiß, wie geheimnistuerisch wir waren, Annaka — nur sind unsere Geheimnisse ausgeplaudert worden, stimmt’s?«
Ihre Augen suchten seine im Rückspiegel.»Ich habe ihm nicht alles erzählt. «Wie eigenartig es war, ihn nicht direkt ansehen zu können.»Manche Dinge habe ich für mich behalten.«
Chans Lippen kräuselten sich verächtlich.»Du erwartest doch wohl nicht, dass ich das glaube?«
«Du kannst glauben, was du willst«, sagte sie ausdruckslos,»wie du’s immer getan hast.«
Er schüttelte sie wieder.»Was soll das heißen?«
Sie keuchte, biss sich auf die Unterlippe.»Wie sehr ich meinen Vater gehasst habe, ist mir erst klar geworden, als ich mit dir zusammen war. «Er lockerte seinen Griff, und sie schluckte krampfhaft.»Durch deine unbeirrbare Feindschaft gegenüber deinem Vater ist mir ein Licht aufgegangen; du hast mir gezeigt, wie man den rechten Augenblick abwartet, wie man den Gedanken an Rache genießt. Und du hast Recht: Als er erschossen wurde, war ich bitter enttäuscht, weil ich’s nicht selbst getan hatte.«
Obwohl er sich nichts anmerken ließ, schockierte ihn, was sie sagte. Bis zu diesem Augenblick hatte er nicht geahnt, dass er so viel von sich preisgegeben hatte. Er war beschämt und nahm es ihr übel, dass sie ohne sein Wissen so viel über ihn hatte in Erfahrung bringen können.
«Wir waren ein Jahr lang zusammen«, sagte er,»für Leute wie uns ist das ein Leben.«
«Dreizehn Monate, einundzwanzig Tage und sechs Stunden«, sagte sie.»Ich erinnere mich genau an den Augenblick, in dem ich dich verlassen habe, weil mir plötzlich klar wurde, dass ich dich nicht so kontrollieren konnte, wie Stepan es verlangt hat.«
«Und was war daran schuld?«Seine Stimme klang beiläufig, obwohl ihn das brennend interessierte.
Ihr Blick suchte erneut seinen und ließ ihn nicht mehr los.»Weil«, sagte sie,»ich mich nicht unter Kontrolle hatte, wenn ich mit dir zusammen war.«
Sagte sie die Wahrheit, oder versuchte sie nur wieder, ihn hinters Licht zu führen? Chan, der in jeder Beziehung so selbstsicher gewesen war, bevor Jason Bourne in sein Leben zurückgekehrt war, wusste es nicht. Er empfand wieder Scham und Ressentiments, sogar etwas Angst, weil seine scharfe Beobachtungsgabe und sein unfehlbarer Instinkt ihn im Stich ließen. Trotz seiner Abwehrversuche waren wieder Gefühle im Spiel, breiteten sich wie giftiger Nebel über seinen Verstand aus, trübten sein Urteilsvermögen und ließen ihn in unbekannten Gewässern in eine Flaute geraten. Er fühlte sein Begehren nach ihr stärker werden als je zuvor. Er begehrte sie so sehr, dass er der Versuchung nicht widerstehen konnte, seine Lippen auf die köstlich duftende Haut ihres Nackens zu drücken.
Und weil er das tat, nahm er den Schatten nicht wahr, der plötzlich ins Innere des Skoda fiel: ein Schatten, den Annaka bemerkte, als sie jetzt ihre Blickrichtung änderte, sodass sie den hünenhaften Amerikaner sah, der die hintere Tür aufriss und den Griff seines Revolvers auf Chans Hinterkopf krachen ließ.
Chans Griff lockerte sich, seine Hände sanken herab, als er bewusstlos auf dem Rücksitz zusammensackte.
«Hallo, Frau Vadas«, sagte der Amerikaner in perfektem Ungarisch. Er lächelte, während seine linke Pranke ihre Pistole einsammelte.»Mein Name ist McColl, aber mir wär’s lieber, wenn Sie mich Kevin nennen würden.«
Sina träumte von einem orangeroten Himmel, unter dem eine gewaltige Horde moderner Krieger — ein Heer von mit NX 20 ausgerüsteten Tschetschenen — aus dem Kaukasus kommend in die Steppen Russlands einfiel, um Tod und Verderben in die Reihen ihres alten Feindes zu tragen. Aber Spalkos Experiment war so beeindruckend gewesen, dass es in ihrem Fall die zeitlichen Barrieren aufgehoben hatte. Sie war wieder ein Kind, befand sich wieder in der elenden Behausung ihrer Eltern in einem von Granaten beschädigten Gebäude, hörte die versagende Stimme ihrer vorzeitig gealterten Mutter: »Ich kann nicht aufstehen. Nicht einmal, um Wasser zu holen. Ich kann nicht mehr.«
Aber jemand musste weitermachen. Sina war damals fünfzehn, das älteste der vier Kinder. Als der Schwiegervater ihrer Mutter kam, nahm er nur ihren Bruder Kanti mit, den männlichen Erben des Klans; alle anderen — auch seine Söhne — hatten die Russen erschossen oder in die berüchtigten Lager Pobedinskoje und Krasnaja Turbina deportiert.
Danach übernahm sie die Aufgaben ihrer Mutter, sammelte Altmetall, um es zu verkaufen, und holte Wasser. Aber obwohl sie todmüde war, konnte sie nachts nicht schlafen, weil sie immer Kantis tränenüberströmtes Gesicht vor sich sah, sein Entsetzen darüber spürte, dass er seine Angehörigen verlassen musste und aus seinem bisherigen Leben gerissen wurde.
Wöchentlich dreimal machte sie sich auf den Weg über vermintes Gelände, um Kanti zu besuchen, seine blassen Wangen zu küssen und ihm von Vater und Geschwistern zu erzählen. Eines Tages fand sie ihren Großvater tot auf. Die russischen Sondertruppen waren bei einer Säuberungsaktion vorbeigekommen, hatten ihren Großvater erschossen und ihren Bruder nach Krasnaja Turbina abtransportiert.
Im folgenden halben Jahr hatte Sina versucht, Nachricht von Kanti zu bekommen, aber sie war jung und hatte keine Erfahrung mit solchen Dingen. Außerdem fand sie ohne Geld niemanden, der zu Auskünften bereit gewesen wäre. Drei Jahre nach dem Tod ihrer Mutter — ihre Schwestern waren inzwischen bei Pflegeeltern — schloss sie sich den Aufständischen an. Damit hatte sie sich kein leichtes Los erwählt: Sie musste Einschüchterung durch Männer ertragen; sie musste lernen, schwach und unterwürfig zu wirken, ihre Kräfte zu schonen und gezielt einzusetzen. Aber dank ihrer überdurchschnittlichen Intelligenz eignete sie sich die nötigen Fertigkeiten rasch an. Sie diente ihr auch als Sprungbrett, als es darum ging, die Mechanismen des Machtspiels zu verstehen. Im Gegensatz zu Männern, die den Aufstieg in der Rebellenhierarchie durch Einschüchterung schafften, war sie gezwungen, dazu ihre körperlichen Reize einzusetzen. Nachdem sie ein Jahr lang einen Führungsoffizier nach dem anderen erduldet hatte, gelang es ihr endlich, einen nächtlichen Überfall auf Krasnaja Turbina zu organisieren.
Das war der einzige Grund, weswegen sie sich den Aufständischen angeschlossen hatte und durch eine Hölle auf Erden gegangen war, aber sie fürchtete sich davor, was sie dort vielleicht entdecken würde. Und trotzdem fand sie nichts, nicht den geringsten Hinweis auf das Schicksal ihres Bruders. Kanti war einfach spurlos verschwunden.
Sina schrak keuchend hoch. Sie setzte sich auf, sah sich um und erkannte, dass sie in Spalkos Privatjet auf dem Flug nach Island war. In Gedanken, die noch halb im Traum befangen waren, sah sie Kantis tränenüberströmtes Gesicht, roch den scharfen Laugengeruch aus den Massengräbern in Krasnaja Turbina. Sie ließ betrübt den Kopf hängen. Es war die Ungewissheit, die an ihr nagte. Hätte sie gewusst, dass er tot war, hätte sie ihre Schuldgefühle vielleicht überwinden können. Aber falls er wie durch ein Wunder überlebt hatte, würde sie’s nie erfahren, sie konnte ihn nicht retten und ihn vor den Schrecken des russischen Lagers bewahren.
Dann merkte sie, dass jemand auf sie zutrat, und sah auf. Es war Magomet, einer der beiden Unterführer, die Hassan nach Nairobi mitgenommen hatte, damit sie Zeugen wurden, wie sich ihr Tor zur Freiheit öffnete. Achmed, der zweite Unterführer, mied sie ganz bewusst, seit er gesehen hatte, dass sie sich in westlicher Kleidung wohl fühlte. Magomet, ein Bär von einem Mann mit mokkabraunen Augen und lockigem Vollbart, den er mit den Fingern strählte, wenn er nervös war, lehnte sich leicht gebeugt an den Ledersessel vor ihr.
«Alles in Ordnung, Sina?«, fragte er.
Ihr Blick suchte zuerst Hassan, fand ihn schlafend. Dann verzog sie die Lippen zu einem schwachen Lächeln.»Ich habe von unserem bevorstehenden Triumph geträumt.«
«Herrliche Aussichten, nicht wahr? Endlich nehmen wir Rache! Unser Tag in der Sonne!«
Obwohl sie merkte, dass er sich danach verzehrte, neben ihr zu sitzen, forderte sie ihn nicht dazu auf; er würde damit zufrieden sein müssen, nicht weggeschickt zu werden. Sie räkelte sich, sodass ihre Brüste hervortraten, und beobachtete amüsiert, wie sein Blick starr wurde. Fehlt nur noch, dass ihm die Zunge aus dem Mund hängt, dachte sie.
«Möchtest du einen Kaffee?«, fragte er.
«Ein Kaffee wäre gut. «Weil sie wusste, dass er auf Hinweise lauerte, achtete sie darauf, dass ihr Tonfall strikt neutral blieb. Im Gegensatz zu Achmed, der sie wie die meisten Tschetschenen nur als minderwertiges weibliches Wesen betrachtete, war Magomet von ihrem Status durchaus beeindruckt. Der Scheich hatte ihr eine wichtige Aufgabe übertragen, und das Vertrauen, das er ihr dadurch aussprach, bestärkte Magomet in seinem Respekt.
Sina wankte für kurze Zeit in ihrem Entschluss, als ihr klar wurde, welch gewaltige kulturelle Barriere sie niederzureißen versuchte. Aber nachdem sie sich einige Augenblicke lang bewusst konzentriert hatte, war sie wieder obenauf. Der Plan, den sie auf Anregung des Scheichs formuliert hatte, war vernünftig; er würde funktionieren- das wusste sie so sicher, wie sie atmete. Als Magomet sich jetzt abwandte, sprach sie rasch, um ihren Plan zu befördern.»Wenn du schon Kaffee holst«, sagte sie,»dann hol dir auch einen.«
Als er zurückkam, nahm sie den Kaffee entgegen und kostete einen kleinen Schluck, ohne Magomet aufzufordern, Platz zu nehmen. Er blieb stehen, stützte die Ellbogen auf die Sessellehne und hielt seinen Pappbecher zwischen den Händen.
«Erzähl mir von ihm«, sagte Magomet.»Wie ist er?«
«Der Scheich? Warum fragst du das nicht Hassan?«
«Hassan Arsenow erzählt einem nichts.«
«Vielleicht«, sagte sie und sah Magomet über den Rand ihres Bechers hinweg an,»hütet er seinen bevorzugten Status eifersüchtig.«
«Du etwa nicht?«
Sina lachte leise.»Nein, ich teile mein Wissen gern. «Sie trank noch einen Schluck Kaffee.»Der Scheich ist ein Visionär. Er sieht die Welt nicht, wie sie ist, sondern wie sie in einem Jahr, in fünf Jahren sein wird. Es ist eine erstaunliche Erfahrung, mit einem Mann zusammen zu sein, der alle Aspekte seines Wesens so vollständig beherrscht, der weltweit so ungeheure Macht ausübt.«
Magomet atmete erleichtert auf.»Dann sind wir wahrhaft gerettet.«
«Ja, gerettet. «Sina stellte ihren Becher weg und holte den Klingenrasierer und die Rasiercreme, die sie in der gut ausgestatteten Bordtoilette gefunden hatte, aus ihrer Umhängetasche.»Komm, setz dich mir gegenüber.«
Magomet zögerte nur einen Augenblick. Als er saß, berührten ihre Knie sich fast.
«Mit diesem Bart kannst du in Island nicht aus dem Flugzeug steigen, das musst du verstehen.«
Seine dunkelbraunen Augen beobachteten sie, während er sich mit den Fingern durch den Bart fuhr. Ohne den Blickkontakt abreißen zu lassen, griff Sina nach seiner Hand und zog sie vom Bart weg. Dann drückte sie etwas Rasiercreme auf seine rechte Wange und verrieb sie. Die Klinge kratzte über seine Haut. Magomet zitterte leicht; als sie ihn zu rasieren begann, schloss er die Augen.
Irgendwann merkte sie, dass Achmed sich aufgesetzt hatte und sie beobachtete. Unterdessen war Magomets Gesicht schon zur Hälfte bartlos. Auch als Achmed aufstand und herankam, arbeitete sie gelassen weiter. Er sagte nichts, sah nur staunend zu, wie unter dem abgenommenen Bart allmählich Magomets Gesicht zum Vorschein kam.
Schließlich räusperte Achmed sich und fragte mit seiner sanften Stimme:»Bin ich als Nächster dran?«
«Ich hätte nicht gedacht, dass dieser Kerl eine so lausige Waffe tragen würde«, sagte Kevin McColl, als er Annaka aus dem Skoda zerrte. Er schnaubte verächtlich, als er sie einsteckte.
Annaka, die keinen Widerstand leistete, war froh, dass er ihre Pistole für Chans Waffe hielt. Ein geheimes kleines Lächeln erfüllte sie, als sie mit hängendem Kopf und gesenktem Blick unter einem bleigrauen Nachmittagshimmel auf dem Gehsteig stand. Wie so viele Männer konnte er sich nicht vorstellen, dass sie eine Waffe tragen und sogar damit umgehen könnte. Was McColl nicht wusste, würde ihn bald sehr wundern — dafür würde sie sorgen.
«Als Erstes möchte ich Ihnen versichern, dass Sie absolut nichts zu befürchten haben. Sie brauchen nur meine Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten und meine Befehle genau auszuführen. «Mit dem Daumen drückte er auf einen Nervenknoten auf der Innenseite ihres linken Ellbogens. Nur genug, damit sie wusste, dass er’s ernst meinte.»Verstehen wir uns?«
Sie nickte, dann schrie sie leise auf, als sein Daumen den Druck verstärkte.
«Wenn ich Sie etwas frage, erwarte ich eine Antwort.«
«Ja, ich verstehe«, sagte sie.
«Gut. «Er trat mit ihr in den Schatten des Eingangs von Gebäude 106–108 Fo utca.»Ich suche Jason Bourne. Wo ist er?«
«Keine Ahnung.«
Ihre Knie gaben vor Schmerz nach, als er etwas Schreckliches mit der Innenseite ihres Ellbogens anstellte.
«Versuchen wir’s noch mal?«, fragte McColl.»Wo ist Jason Bourne?«
«Oben«, sagte sie, während ihr Tränen über die Wangen flossen.»In meiner Wohnung.«
Sein harter Griff ließ merklich nach.»Sehen Sie, wie einfach das war? Kein Wirbel, keine Aufregung. So, jetzt gehen wir gemeinsam rauf.«
Annaka benützte ihren Schlüssel, um die Haustür aufzusperren. Sie machte Licht, dann gingen sie nebeneinander die breite Treppe hinauf. Oben im dritten Stock hielt er sie kurz an.»Okay, passen Sie auf«, sagte er leise.»Sie benehmen sich, als wäre alles in bester Ordnung, kapiert?«
Sie hätte beinahe nur genickt, aber dann bestätigte sie hastig:»Ja.«
Er zog sie nach hinten gegen sich.»Wenn Sie ihm das geringste Warnsignal geben, weide ich Sie aus wie eine Forelle. «Er stieß sie vorwärts.»Also los!«
Sie ging zu ihrer Wohnungstür, steckte den Schlüssel ins Schloss und sperrte auf. Als sie die Tür öffnete, sah sie rechts vor sich, dass Jason mit halb geschlossenen Augen zusammengesunken auf dem Sofa hockte.
Bourne sah auf.»Ich dachte, du wolltest.«
In diesem Augenblick stieß McColl sie beiseite und riss seinen Revolver hoch.»Daddy ist da!«, rief er, während er auf die halb liegende Gestalt zielte und abdrückte.