Kapitel achtundzwanzig

Wie in fast jeder Großstadt der Welt gab es auch in Reykjavik jede Menge Schnellimbisse, und wie die besseren Restaurants bekamen auch diese kleinen Betriebe jeden Tag frisches Fleisch, Fisch, Obst und Gemüse geliefert. Die Firma Hajnarßördur Obst & Gemüse gehörte zu den wichtigsten Lieferanten der Schnellgastronomie in Reykjavik. Der Wagen der Firma, der früh an diesem Morgen vor dem Kebab Höllin im Stadtzentrum vorfuhr, um Blattsalat, Perlzwiebeln und Schalotten zu liefern, gehörte zu den vielen, die auf ihren täglichen Runden in der ganzen Stadt unterwegs waren. Der entscheidende Unterschied war jedoch, dass dieser spezielle Lieferwagen im Gegensatz zu den anderen nicht von Hajnarßördur Obst & Gemüse geschickt worden war.

Am frühen Abend wurden alle drei Häuser der Universitätsklinik Landspitali von Leuten belagert, die zunehmend kränker wurden. Die Ärzte nahmen diese Patienten in beängstigender Zahl auf, noch während ihr Blut untersucht wurde. Zwei Stunden später stand dann fest, dass die Großstadt mit einem seuchenartigen Ausbruch von Hepatitis A konfrontiert war.

Die Gesundheitsbehörde unternahm hektische Anstrengungen, um der eskalierenden Krise Herr zu werden. Ihre Arbeit wurde durch mehrere wichtige Faktoren behindert: die Schnelligkeit und Schwere des Befalls mit einem besonders ansteckenden Virustyp; die Schwierigkei-ten, die es machte, die Lebensmittel zu ermitteln und aufzuspüren, durch die das Virus verbreitet worden sein konnte; und das unausgesprochene, aber stets gegenwärtige Bewusstsein, dass Reykjavik wegen des Terrorismusgipfels gegenwärtig im Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit stand. Ganz oben auf der Liste mit verdächtigen Lebensmitteln standen Schalotten, die in letzter Zeit in den Vereinigten Staaten mehrmals Ausbrüche von Hepatitis A hervorgerufen hatten — aber Schalotten wurden in der hiesigen Gastronomie überall verwendet, und natürlich durfte man Fisch oder Fleisch nicht ausschließen.

Die Verantwortlichen arbeiteten bis in die dämmrige Nacht hinein, befragten die Chefs aller Firmen, die Frischgemüse lieferten, und schickten ihre Leute los, um die Lagerhäuser und Fahrzeuge dieser Firmen — auch von Hajnarßördur Obst & Gemüse — zu untersuchen. Zu ihrer großen Überraschung und Enttäuschung zeigte sich jedoch, dass dort alles in Ordnung war, und während die Stunden verrannen, mussten sie sich eingestehen, dass sie der Quelle des Virusbefalls keinen Schritt näher gekommen waren.

Deshalb ging die Gesundheitsbehörde kurz nach einundzwanzig Uhr mit ihren Erkenntnissen an die Öffentlichkeit. In Reykjavik war massenhaft Hepatitis A ausgebrochen. Weil die Infektionsquelle noch nicht gefunden war, wurde die Stadt unter Quarantäne gestellt. Über den Köpfen aller hing das Schreckgespenst einer regelrechten Epidemie, die sie sich nicht leisten konnten, weil der Terrorismusgipfel bevorstand und die Aufmerksamkeit der gesamten Welt auf die isländische Hauptstadt gerichtet war. In ihren Rundfunk- und Fernsehinterviews bemühten die Verantwortlichen sich, den beunruhigten

Menschen zu versichern, dass alle Maßnahmen ergriffen würden, um das Virus unter Kontrolle zu bekommen. Zu diesem Zweck, das betonten sie wiederholt, stelle die Gesundheitsbehörde ihr gesamtes Personal in den Dienst der auch künftig garantierten Sicherheit der Allgemeinheit.

Es war kurz vor zweiundzwanzig Uhr, als Jamie Hull aufgeregt und nervös den Hotelflur zur Suite des Präsidenten entlang marschierte. Erst hatte es diesen plötzlichen Ausbruch von Hepatitis A gegeben, über den man sich Sorgen machen musste, und dann war er ohne Vorwarnung zu einer Besprechung mit dem Präsidenten zitiert worden.

Hull sah sich um und erkannte die Secret-Service-Agenten, die den Präsidenten bewachten. Weiter hinten im Korridor bewachten russische FSB-Agenten und arabische Geheimdienstler ihre Staatsoberhäupter, die mit ihren engsten Mitarbeitern praktischerweise im selben Gebäudeflügel untergebracht waren.

Er ging durch die von zwei Secret-Service-Agenten — riesig und schweigsam wie Sphinxe — flankierte Tür und betrat die Suite. Der Präsident tigerte ruhelos auf und ab und diktierte zwei Redenschreibern ein Konzept, während sein Pressesprecher sich hastig Notizen auf einem Laptop machte. Drei weitere Secret-Service-Agenten waren in der Suite verteilt, um den Präsidenten von den Fenstern fern zu halten.

Hull wartete ungeduldig, aber ohne Protest, bis der Präsident seine Mitarbeiter entließ, die wie Mäuse nach nebenan huschten.

«Jamie«, sagte der Präsident mit breitem Lächeln und ausgestreckter Hand.»Nett von Ihnen, dass Sie gekommen sind. «Er drückte Hull die Hand, bot ihm mit einer Handbewegung einen Sessel an und setzte sich ihm gegenüber.

«Jamie, ich zähle darauf, dass Sie alles tun werden, damit das Gipfeltreffen reibungslos über die Bühne geht«, begann er.

«Sir, ich kann Ihnen versichern, dass ich alles unter Kontrolle habe.«

«Auch Karpow?«

«Sir?«

Der Präsident lächelte.»Wie ich höre, hat’s zwischen Mr. Karpow und Ihnen reichlich Zoff gegeben.«

Hull schluckte krampfhaft und fragte sich, ob er herbeizitiert worden war, um entlassen zu werden.»Es hat kleinere Meinungsverschiedenheiten gegeben«, sagte er zögernd,»aber die sind längst vergessen.«

«Freut mich, das zu hören«, sagte der Präsident.»Ich habe schon genügend Schwierigkeiten mit Alexander Jew-tuschenko. Da kann ich’s nicht brauchen, dass er sauer ist, weil sein Sicherheitschef sich herabgesetzt fühlt. «Er klatschte sich auf die Oberschenkel und stand auf.»Also, die Show beginnt morgen früh um acht. Bis dahin gibt’s noch einiges zu tun. «Er streckte die Hand aus, als Hull sich erhob.»Jamie, keiner weiß besser als ich, wie gefährlich diese Situation werden kann. Aber ich denke, wir sind uns darüber einig, dass es jetzt kein Zurück mehr gibt.«

Draußen auf dem Korridor klingelte sein Handy.

«Jamie, wo sind Sie?«, blaffte der CIA-Direktor ihm ins Ohr.

«Ich komme gerade aus einer Besprechung mit dem Präsidenten. Er hat befriedigt zur Kenntnis genommen, dass ich alles unter Kontrolle habe — auch den Genossen Karpow.«

Statt erfreut zu reagieren, sprach der Direktor in nervös angespanntem Tonfall weiter.»Jamie, hören Sie mir gut zu. Es gibt einen neuen Aspekt dieser Situation, den ich nur Ihnen mitteile, weil Sie darüber Bescheid wissen müssen.«

Hull sah sich automatisch um und entfernte sich rasch außer Hörweite der Secret-Service-Agenten.»Ich weiß Ihr Vertrauen zu schätzen, Sir.«

«Es handelt sich um Jason Bourne«, sagte der Alte.»Er ist nicht in Paris umgekommen.«

«Was?«Hull war einen Augenblick lang fassungslos.»Bourne lebt!«

«Er ist gesund und munter. «Der Direktor machte eine bedeutungsvolle Pause.»Jamie, damit wir uns richtig verstehen: Diesen Anruf, dieses Gespräch hat es nie gegeben. Sollten Sie jemandem davon erzählen, bestreite ich, Sie angerufen zu haben, und Sie fliegen mit einem Tritt in den Hintern raus. Ist das klar?«

«Völlig, Sir.«

«Ich habe keine Ahnung, was Bourne als Nächstes vor hat, aber ich habe schon immer vermutet, dass er zu Ihnen unterwegs sein könnte. Ob er Alex Conklin und Mo Panov ermordet hat, steht vielleicht nicht fest, aber Kevin McColl hat er garantiert umgelegt.«

«Jesus, ich habe McColl gekannt, Sir.«

«Wir haben ihn alle gekannt, Jamie. «Der Alte räusperte sich.»Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Tat un-gesühnt bleibt.«

Hulls Zorn verschwand schlagartig und machte einer Hochstimmung Platz.»Überlassen Sie das mir, Sir.«

«Aber seien Sie vorsichtig, Jamie. In erster Linie sind Sie für die Sicherheit des Präsidenten zuständig.«

«Ich verstehe, Sir. Unbedingt. Aber ich garantiere Ihnen, dass Jason Bourne das Hotel nicht wieder verlässt, falls er hier aufkreuzt.«

«Nun, hoffentlich doch«, sagte der Alte,»aber mit den Füßen voraus.«

Zwei Angehörige des Tschetschenen teams warteten vor dem Kastenwagen von Reykjavik Energy, als das zum Hotel Oskjuhlid entsandte Fahrzeug der Gesundheitsbehörde um die Ecke bog. Ihr Wagen versperrte die Durchfahrt, und sie hatten orangerote Kunststoffkegel aufgestellt und schienen dabei zu sein, eine Stelle, die aufgegraben werden sollte, mit Kreidestrichen zu markieren.

Der Wagen der Gesundheitsbehörde bremste abrupt.

«He, was macht ihr da?«, fragte der Fahrer.»Wir sind im Notfalleinsatz.«

«Verpiss dich, kleiner Scheißer!«, antwortete einer der Tschetschenen auf Isländisch.

«Was hast du gesagt?«Der aufgebrachte Fahrer stieg aus dem Wagen.

«Bist du blind? Unsere Arbeit hier ist wichtig«, sagte der Tschetschene.»Sucht euch ’ne andere beschissene Zufahrt.«

Als der Beifahrer merkte, dass die Situation zu eskalieren drohte, stieg er ebenfalls aus. Arsenow und Sina, bewaffnet und grimmig entschlossen, sprangen aus dem Fahrzeug von Reykjavik Energy und trieben die rasch eingeschüchterten Mitarbeiter der Gesundheitsbehörde hinten in den Kastenwagen.

Arsenow, Sina und ein weiteres Mitglied des Teams fuhren mit dem erbeuteten Wagen vor dem Lieferanteneingang des Hotels Oskjuhlid vor. Der vierte Tschetschene war mit dem Fahrzeug von Reykjavik Energy unterwegs, um Spalko und das restliche Team abzuholen.

Sie trugen die Overalls von Außendienstmitarbeitern der Gesundheitsbehörde und wiesen sich bei der Kontrolle durch die wachhabenden Sicherheitsbeamten mit staatlichen Dienstausweisen aus, die Spalko für teures Geld beschafft hatte. Als Arsenow befragt wurde, antwortete er auf Isländisch und wechselte dann zu holperigem Englisch über, weil die amerikanischen und arabischen Sicherheitsbeamten ihn nicht verstanden. Er behauptete, sie sollten überprüfen, ob die Hotelküche frei von Hepatitis A sei. Niemand — erst recht die verschiedenen Sicherheitsteams nicht — wollte, dass einer ihrer Schützlinge sich mit dem gefürchteten Virus ansteckte. Daher wurden die drei schleunigst eingelassen und bekamen den Weg zur Hotelküche erklärt. Das Teammitglied begab sich dorthin, aber Arsenow und Sina hatten andere Ziele im Visier.

Bourne und Chan waren noch dabei, die Pläne der verschiedenen Versorgungssysteme des Hotels Oskjuhlid zu studieren, als der Pilot ihre bevorstehende Landung auf dem Flughafen Keflavik ankündigte. Bourne war auf und ab gegangen, während Chan das Notebook auf den Knien hielt, und nahm nun widerstrebend Platz. Sein ganzer Körper schmerzte, und die beengten Sitzverhältnisse in der kleinen Maschine hatten diesen Zustand nur verschlimmert. Er hatte sich bemüht, seine Gefühle im Zusammenhang mit der Rückkehr des verlorenen Sohns zu unterdrücken. Ihre Gespräche waren unbeholfen genug, und er hatte deutlich den Eindruck, Chan werde vor jeder starken Gefühlsregung, die er sich anmerken ließ, instinktiv zurückschrecken.

Der Prozess, auf eine Versöhnung hinzuarbeiten, war für beide ungeheuer schwierig. Für Chan vielleicht noch schwerer, vermutete Bourne. Was ein Sohn von seinem Vater brauchte, war weitaus komplexer als das, was ein Vater von seinem Sohn brauchte, um ihn vorbehaltlos lieben zu können.

Bourne musste sich eingestehen, dass er Angst vor Chan hatte — nicht nur vor dem, was man ihm angetan hatte und was er geworden war, sondern auch vor seiner Tüchtigkeit, seiner Cleverness und Findigkeit. Dass er aus dem Raum mit den verriegelten Türen entkommen war, war ein Wunder für sich.

Und es gab noch etwas anderes, ein Hindernis auf ihrem Weg zu gegenseitiger Anerkennung, vielleicht sogar zur Versöhnung, das alle anderen in den Schatten stellte. Um Bourne akzeptieren zu können, musste Chan sich von seinem ganzen bisherigen Leben lossagen.

Mit dieser Einschätzung hatte Bourne Recht. Seit er sich in der Old Town von Alexandria zu Chan auf die Parkbank gesetzt hatte, lag Chan im Streit mit sich selbst. Und dieser Krieg ging weiter — nur dass der Kampf jetzt öffentlich ausgetragen wurde. Wie beim Blick in einen Rückspiegel konnte Chan alle versäumten Gelegenheiten sehen, Bourne zu liquidieren, aber erst jetzt verstand er, dass er sie absichtlich nicht genutzt hatte. Er konnte Bourne nicht töten, aber er konnte ihm auch nicht sein Herz öffnen. Er erinnerte sich an seinen verzweifelten Drang, sich in der Gasse hinter der Budapester Klinik auf Spalkos Männer zu stürzen. Nur Bournes Warnung hatte ihn davon abgehalten. Damals hatte er seine heftige Reaktion auf den Wunsch zurückgeführt, sich an Spalko zu rächen. Aber jetzt wusste er, dass sie eine ganz andere Ursache gehabt hatte: die Liebe, die ein Sohn für seinen Vater empfindet.

Und trotzdem entdeckte er zu seiner Beschämung, dass er vor Bourne Angst hatte. In Bezug auf Kraft, Ausdauer und Intellekt war Bourne wahrhaft Furcht erregend. In seiner Nähe fühlte Chan sich irgendwie herabgesetzt, als sei alles, was er in seinem Leben geleistet hatte, nichts wert.

Leichtes Durchsacken, ein Stoß, kurzes Reifenquietschen, dann waren sie gelandet, verließen die Landebahn und benützten einen Rollweg zur Abstellfläche für Businessjets am anderen Ende des Flughafens. Noch bevor die Maschine zum Stehen gekommen war, stand Chan auf und ging zur Kabinentür.

«Los jetzt!«, sagte er ungeduldig.»Spalko hat mindestens drei Stunden Vorsprung.«

Aber Bourne, der ebenfalls aufgestanden war, vertrat ihm den Weg.

«Niemand weiß, was uns dort draußen erwartet. Ich steige als Erster aus.«

Chans Zorn, der so dicht unter der Oberfläche lauerte, flammte sofort auf.»Ich hab dir schon mal gesagt, dass du mich nicht rumkommandieren sollst! Ich kann selbst denken — ich treffe meine Entscheidungen selbst. Das habe ich schon immer getan, und ich werde es auch in Zukunft tun.«

«Du hast Recht. Ich versuche nicht, dir irgendetwas wegzunehmen«, sagte Bourne, dem das Herz bis zum Hals schlug. Dieser Fremde war sein Sohn. Was er in seiner Gegenwart tat oder sagte, konnte für lange Zeit unabsehbare Folgen haben.»Aber denk daran, dass du bisher allein warst.«

«Und wessen Schuld ist das deiner Meinung nach?«

Es war schwierig, sich nicht gekränkt zu fühlen, aber Bourne tat sein Bestes, um den Vorwurf zu entschärfen.»Schuldzuweisungen sind zwecklos«, sagte er gelassen.»Jetzt arbeiten wir zusammen.«

«Ich soll also einfach alle Entscheidungen dir überlassen?«, fragte Chan hitzig.»Warum? Bildest du dir vielleicht ein, du hättest Anspruch darauf?«

Sie hatten das Empfangsgebäude schon fast erreicht. Bourne wurde bewusst, wie brüchig ihr Waffenstillstand war.

«Es wäre töricht, zu glauben, ich hätte dir gegenüber irgendwelche Ansprüche. «Er sah aus dem Fenster zu dem hell beleuchteten Empfangsgebäude hinüber.»Ich dachte nur, falls es irgendein Problem gibt — falls uns ein Hinterhalt erwartet —, würde ich lieber selbst…«

«Hast du mir eigentlich niemals zugehört?«, knurrte Chan, indem er sich an Bourne vorbeidrängte.»Willst du alles ignorieren, was ich ohne dich erreicht habe?«

Unterdessen war der Pilot aus dem Cockpit gekommen.»Öffnen Sie die Tür«, befahl Chan ihm brüsk.»Und bleiben Sie an Bord.«

Der Pilot öffnete gehorsam die Tür und fuhr die Gangway aus, bis sie den Asphalt berührte.

Bourne machte einen Schritt vorwärts.»Chan.«

Aber ein zorniger Blick seines Sohns ließ ihn wie angenagelt stehen bleiben. Er beobachtete durch ein Kabinenfenster, wie Chan die Treppe hinabging und unten von einem Beamten der Passkontrolle in Empfang ge-nommen wurde. Er sah, wie Chan einen Reisepass vorwies und dann auf ihr Flugzeug deutete. Der Beamte nickte und stempelte den Pass ab.

Chan machte kehrt, trabte wieder die Gangway hinauf. Als er den Gang entlangkam, zog er unter seiner Jacke Handschellen hervor, mit denen er Bourne an sich fesselte.

«Ich heiße Chan LeMarc und bin Interpol-Inspektor. «Chan klemmte sich das Notebook unter den Arm und zog Bourne hinter sich her zur Tür.»Du bist mein Gefangener.«

«Wie heiße ich?«, fragte Bourne.

«Du?«Chan schob ihn ins Freie, blieb dicht hinter ihm.»Du bist Jason Bourne, nach dem CIA, Surete Nationale und Interpol wegen Mordes fahnden. Nur so lässt er dich ohne Papiere nach Island einreisen. Zum Glück hat er wie jeder Polizeibeamte der Welt deinen CIA-Steckbrief gelesen.«

Der Uniformierte trat zur Seite und hielt reichlich Abstand, als sie an ihm vorbeigingen. Sobald sie das Empfangsgebäude durchquert hatten, schloss Chan die Handschellen wieder auf. Draußen stiegen sie ins erste Taxi der wartenden Schlange und nannten dem Fahrer ein Ziel, das keine halbe Meile vom Hotel Oskjuhlid entfernt war.

Mit dem Kühlbehälter zwischen den Füßen saß Spalko auf dem Beifahrersitz des Kastenwagens von Reykjavik Energy, den der tschetschenische Widerstandskämpfer durch die Straßen der Innenstadt zum Hotel Oskjuhlid lenkte. Sein Handy klingelte, und er klappte es auf, ohne zu ahnen, dass ihn schlechte Nachrichten erwarteten.

«Chef, wir haben den Vernehmungsraum räumen können, bevor Polizei oder Feuerwehr das Gebäude betreten haben«, meldete der Leiter seines Sicherheits-diensts aus Budapest.»Aber wir haben eben das gesamte Gebäude durchsucht, ohne die geringste Spur von Bourne oder Chan zu finden.«

«Wie ist das möglich?«, fragte Spalko scharf.»Der eine war an den Stuhl gefesselt, der andere war in der Gaskammer eingeschlossen.«

«Es hat eine Detonation gegeben«, antwortete der Leiter des Sicherheitsdiensts und schilderte ihm detailliert, was sie vorgefunden hatten.

«Gottverdammt noch mal!«In einem seiner seltenen Wutanfälle hämmerte Spalko mit der Faust aufs Armaturenbrett.

«Wir vergrößern den Suchradius.«

«Spart euch die Mühe«, sagte Spalko knapp.»Ich weiß, wo sie sind.«

Bourne und Chan gingen in Richtung Hotel.»Wie fühlst du dich?«, fragte Chan.»Mir geht’s gut«, antwortete Bourne etwas zu rasch. Chan musterte ihn.»Du bist nicht mal steif und wund?«

«Also gut, ich bin überall steif und wund«, räumte Bourne ein.

«Die Antibiotika, die Oszkar mitgebracht hat, sind hoch wirksam.«

«Keine Sorge«, sagte Bourne.»Ich nehme sie regelmäßig.«

«Wie kommst du darauf, dass ich mir Sorgen mache?«Chan deutete nach vorn.»Sieh dir das an!«

Die hiesige Polizei hatte die Umgebung des Hotels weiträumig abgesperrt. Je zwei Kontrollpunkte, die mit Polizeibeamten und Sicherheitspersonal verschiedener Nationalitäten besetzt waren, bildeten die einzigen Ein- und Ausfahrten. Während sie zusahen, hielt ein Fahrzeug von Reykjavik Energy am Kontrollpunkt hinter dem Hotel.

«Das ist die einzige Möglichkeit, dort reinzukommen«, behauptete Chan.

«Zumindest eine Möglichkeit«, sagte Bourne. Als der Kastenwagen den Kontrollpunkt passierte, kamen hinter ihm zwei Hotelangestellte zu Fuß zum Vorschein.

Bourne sah zu Chan hinüber, der kurz nickte. Auch er hatte sie bemerkt.»Was denkst du?«, fragte Bourne.

«Die beiden kommen vom Dienst, würde ich sagen«, antwortete Chan.

«Das denke ich auch.«

Die Hotelangestellten unterhielten sich lebhaft und blieben nur lange genug stehen, um am Kontrollpunkt ihre Dienstausweise vorzuzeigen. Normalerweise hätten sie in der Tiefgarage des Hotels geparkt, aber seit die Sicherheitsdienste den Befehl übernommen hatten, mussten alle Angestellten in den umliegenden Straßen parken.

Sie beschatteten die Männer, die jetzt in eine Seitenstraße außer Sichtweite von Polizei- und Sicherheitsbeamten abbogen. Sie warteten, bis die beiden ihre Autos erreicht hatten, und überfielen sie dann lautlos und blitzschnell von hinten. Mit den Aufschlüsseln sperrten sie die Kofferräume auf, legten die Bewusstlosen hinein und nahmen ihnen die Hotelausweise ab, bevor sie die Deckel zuknallten.

Fünf Minuten später erschienen sie bei dem anderen Kontrollpunkt vor dem Hotel, um nicht in Kontakt mit den Polizei- und Sicherheitsbeamten zu kommen, von denen die Hotelangestellten beim Verlassen des Hauses kontrolliert worden waren.

Sie passierten den inneren Sicherheitsring, ohne angehalten zu werden. Endlich waren sie im Hotel Oskjuhlid.

Es wird Zeit, sich von Arsenow zu trennen, dachte Stepan Spalko. Dieser Augenblick stand schon lange bevor, seit er festgestellt hatte, dass er Arsenows Schwäche nicht mehr ertragen konnte. Arsenow hatte ihm einmal erklärt:»Ich bin kein Terrorist. Ich will nur, dass mein Volk bekommt, was ihm zusteht. «Solcher Kinderglaube war ein tödlicher Fehler. Arsenow konnte sich einreden, was er wollte, aber unabhängig davon, ob er Geld, die Freilassung von Gefangenen oder die Rückgabe seines Landes forderte, war es eine Tatsache, dass seine Methoden und nicht seine Ziele ihn als Terroristen brandmarkten. Er brachte Leute um, wenn er nicht bekam, was er wollte. Ob er dazu Soldaten oder Zivilisten — Männer, Frauen, Kinder — töten musste, war ihm gleichgültig. Was er säte, war Terror, was er ernten würde, war der Tod.

Deshalb schickte Spalko ihn mit Achmed, Karim und einer der Frauen zu der Unterstation der Klimaanlage hinunter, die zur Belüftung des Konferenzsaals diente. Das war eine kleine Abänderung des ursprünglichen Plans. Eigentlich hätte Magomet die drei begleiten sollen. Aber Magomet war tot, und da Arsenow ihn erschossen hatte, akzeptierte er den Auftrag ohne zu fragen oder sich zu beschweren. Überdies standen sie jetzt unter dem Diktat eines strikten Zeitplans.

«Ab dem Augenblick, in dem wir mit dem Wagen von Reykjavik Energy vorgefahren sind, haben wir genau dreißig Minuten Zeit«, sagte Spalko.»Wie wir vom letz-ten Mal wissen, kommt dann ein Sicherheitsbeamter, um uns zu kontrollieren. «Er sah auf seine Uhr.»Das bedeutet, dass uns noch vierundzwanzig Minuten bleiben, um unseren Auftrag auszuführen.«

Als Arsenow mit Achmed und den anderen Teammitgliedern davonging, nahm Spalko Sina beiseite.»Du weißt, dass dies das letzte Mal ist, dass du ihn lebend siehst?«

Ihr blonder Kopf nickte.

«Und es macht dir nichts aus?«

«Im Gegenteil, ich fühle mich erleichtert«, antwortete sie.

Spalko nickte.»Komm!«Er hastete mit ihr den Korridor entlang.»Wir dürfen keine Zeit verlieren.«

Hassan Arsenow übernahm sofort die Kontrolle über sein kleines Team. Sie hatten einen wichtigen Auftrag, und er würde dafür sorgen, dass sie ihn ausführten. Als sie um eine Ecke bogen, sahen sie den Sicherheitsbeamten auf seinem Posten in der Nähe der mit einem Gitter gesicherten großen Luftansaugöffnung.

Ohne ihr Tempo zu verringern, gingen sie weiter auf den Mann zu.

«Halt, stehen bleiben!«, befahl er und brachte seine Maschinenpistole in Anschlag.

Die vier machten vor ihm Halt.»Wir kommen von Reykjavik Energy«, sagte Arsenow auf Isländisch. Als der Sicherheitsbeamte ihn verständnislos anstarrte, wiederholte er den Satz auf Englisch.

Der Mann runzelte die Stirn.»Hier gibt’s keine Fernwärmeleitungen.«

«Das wissen wir«, sagte Achmed, packte die MP mit einer Hand und knallte den Kopf des Sicherheitsbeamten mit der anderen an die Wand.

Als der Mann zusammenbrach, traf Achmed ihn erneut, diesmal mit dem Kolben seiner eigenen Maschinenpistole.

«Los, helft mir«, sagte Arsenow und steckte seine Finger in das Lüftungsgitter. Karim und die Frau beeilten sich, ihm zu helfen, aber Achmed drosch weiter mit dem Kolben der MP auf den Sicherheitsbeamten ein, obwohl klar war, dass er bewusstlos war und nicht so bald wieder aufwachen würde.

«Achmed, gib mir die Waffe!«, verlangte Arsenow.

Achmed warf ihm die Maschinenpistole zu und fing an, den Kopf des Sicherheitsbeamten mit Tritten zu bearbeiten. Blut floss, und in der Luft hing der Geruch des Todes.

Arsenow zerrte ihn von dem Bewusstlosen weg.»Wenn ich etwas befehle, gehorchst du, sonst breche ich dir das Genick, so wahr Allah mir helfe!«

Achmed funkelte ihn schwer atmend an.

«Wir müssen unseren Zeitplan einhalten«, sagte Arse-now erregt.»Du hast keine Zeit, dich auszutoben.«

Achmed fletschte die Zähne und lachte. Er schüttelte Arsenows Hand ab und half Karim, das Lüftungsgitter abzunehmen. Sie schoben den Sicherheitsbeamten in den Lüftungskanal und krochen nacheinander hinein. Achmed, der als Letzter hereinkam, zog das Gitter an den alten Platz zurück.

Sie mussten über den Sicherheitsbeamten hinwegkriechen. Dabei legte Arsenow zwei Finger auf seine Halsschlagader.»Tot«, sagte er.

«Und wenn schon«, sagte Achmed aufsässig.»Morgen sind sie alle tot.«

Sie krochen auf allen vieren den Lüftungsschacht entlang, bis sie zu einer Verzweigung kamen. Direkt vor ihnen befand sich ein senkrechter Schacht. Sie bereiteten sich aufs Abseilen vor. Nachdem sie die Aluminiumstange quer über den Schacht gelegt hatten, befestigten sie das Seil und ließen es in den Schacht abrollen. Arsenow, der die Führung übernahm, schlang sich das Seil um den linken Schenkel und führte es über den rechten. Indem er jeweils eine Armlänge Seil nachließ, sank er gleichmäßig in die Tiefe. Ein leichtes Zittern des Seils zeigte ihm an, dass die anderen seinem Beispiel folgten.

Unmittelbar über der ersten Abzweigung machte Arsenow Halt. Er knipste eine Ministablampe an und ließ ihren eng gebündelten Strahl über die Elektrokabel an der Schachtwand gleiten. Mitten in dem altersgrauen Kabelgewirr blitzte etwas Neues.

«Infrarotsensor!«, rief er nach oben.

Karim, ihr Elektronikfachmann, war dicht über ihm. Während Arsenow den Sensor beleuchtete, holte er eine Kombizange und einen Draht mit Krokodilklemmen an beiden Enden aus einem Overall. Nachdem er vorsichtig über Arsenow hinweggeklettert war, seilte er sich weiter ab, bis er knapp außerhalb der Reichweite des Sensors war. Dann stieß er sich mit einem Fuß ab, pendelte zur Wand, bekam ein dickes Elektrokabel zu fassen und hielt sich daran fest. Seine Finger sortierten die dünneren Kabel, knipsten eines durch und befestigten eine Krokodilklemme daran. Als Nächstes trennte er die Isolierung eines weiteren Kabels auf und befestigte dort die zweite Krokodilklemme.

«Alles klar«, meldete er leise.

Er glitt tiefer, bis er in den Erfassungsbereich des Sen-sors gelangte, der aber nicht ansprach. Er hatte den Stromkreis erfolgreich umgangen. Der Sensor würde keine verdächtige Wärme melden.

Karim machte Platz für Arsenow, der sie bis zum Boden des Lüftungsschachts hinabführte. Dort waren sie dem Herzstück der Klimaanlage des Konferenzsaals, in dem der Terrorismusgipfel stattfinden würde, schon ganz nahe.

«Unser Ziel ist die Unterstation der Klimaanlage des Konferenzsaals«, sagte Bourne, während Chan und er durch die Hotelhalle hasteten. Chan hatte weiter Oszkars Notebook unter dem Arm.»Das ist der logische Ort für den Einsatz des Diffusors.«

Um diese Nachtzeit war die Hotelhalle — weitläufig, hoch und kalt — bis auf einige Hotelangestellte und Sicherheitsbeamte menschenleer. Die Staatsoberhäupter waren in ihren Suiten; sie schliefen oder bereiteten sich noch auf das Gipfeltreffen vor, das in wenigen Stunden beginnen würde.

«Die Sicherheitsdienste sehen dieses Gefährdungspotenzial bestimmt auch«, sagte Chan.»Das bedeutet, dass uns kaum etwas passieren dürfte, bis wir in die Nähe der Unterstation kommen. Dann werden sie wissen wollen, was wir dort zu suchen haben.«

«Darüber habe ich schon nachgedacht«, sagte Bourne.»Es wird Zeit, dass wir meinen Zustand zu unserem Vorteil ausnützen.«

Sie durchquerten den Haupttrakt des Hotels, ohne aufgehalten zu werden und überquerten einen dekorativen Innenhof mit streng geometrischen Kieswegen, sorgfältig getrimmten immergrünen Pflanzen und futuristisch aussehenden Steinbänken. Auf der anderen Seite lag das Kongressforum. Drinnen stiegen sie drei Treppen hinunter. Chan schaltete das Notebook ein und rief die Pläne der Klimaanlage auf, damit sie sich gemeinsam davon überzeugen konnten, dass sie auf der richtigen Ebene waren.

«Nach links«, sagte Chan und klappte das Notebook zu, bevor sie weitergingen.

Aber sie waren kaum dreißig Meter vom Treppenhaus entfernt, als eine scharfe Stimme sagte:»Keinen Schritt weiter, sonst seid ihr beide tot.«

Die tschetschenischen Aufständischen warteten auf dem Boden des senkrechten Lüftungsschachts: zusammengekauert, sorgenvoll, ihre Nerven bis zum Zerreißen angespannt. Auf diesen Augenblick hatten sie seit Monaten gewartet. Sie waren gut vorbereitet und fieberten danach, ihren Auftrag auszuführen. Die fast unerträgliche Spannung ließ sie ebenso zittern wie die kalte Luft, die mehr und mehr abgekühlt war, je tiefer sie unter das Hotel gelangt waren. Um den zentralen Verteiler der Klimaanlage zu erreichen, brauchten sie nur noch durch einen kurzen waagrechten Schacht zu kriechen — aber zwischen ihnen und ihrem Ziel hielten Sicherheitsbeamte auf dem Korridor vor den Lüftungsgittern Wache. Solange sie ihren Posten nicht zu einem Streifengang verließen, konnten die Tschetschenen nicht weiter.

Achmed sah auf seine Uhr und stellte fest, dass ihnen nur noch vierzehn Minuten blieben, um ihren Auftrag auszuführen und zu dem Wagen zurückzukehren. Schweiß stand ihm auf der Stirn, sammelte sich unter seinen Armen, lief ihm über die Puppen und ließ seine Haut brennen. Sein Mund war trocken, seine Atmung flach. So war’s auf dem Höhepunkt eines Einsatzes immer. Sein Herz jagte, sein ganzer Körper vibrierte. Er kochte noch immer vor Wut über Arsenows Zurechtweisung, die doppelt kränkend gewesen war, weil alle sie gehört hatten. Während er angestrengt nach draußen horchte, starrte er Arsenow mit Verachtung im Herzen an. Seit jener Nacht in Nairobi hatte er jegliche Achtung vor Arsenow eingebüßt — nicht nur, weil Sina ihm Hörner aufsetzte, sondern weil er nichts davon ahnte. Achmeds wulstige Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Er genoss es, diese Macht über Arsenow zu besitzen.

Endlich hörte Achmed, wie die Stimmen sich entfernten. Er schnellte hoch, hatte es nun eilig, seinen Auftrag zu erfüllen, aber Arsenows kräftiger Arm hielt ihn schmerzhaft zurück.

«Noch nicht. «Arsenow funkelte ihn an.

«Sie sind weg«, sagte Achmed.»Wir vergeuden Zeit.«

«Wir gehen, wenn ich es befehle.«

Dieser weitere Affront war zu viel für Achmed. Er spuckte mit verächtlicher Miene vor Arsenow aus.»Warum sollte ich dir gehorchen? Warum sollte das irgendjemand von uns tun? Du kannst nicht mal dafür sorgen, dass deine Frau sich anständig benimmt.«

Arsenow stürzte sich auf Achmed, und die beiden rangen kurz miteinander. Die anderen sahen schreckensstarr zu, wagten aber nicht, einzugreifen.

«Ich lasse mir deine Unverschämtheiten nicht länger gefallen«, sagte Arsenow schwer atmend.»Du führst meine Befehle aus, sonst lege ich dich um.«

«Mir egal«, sagte Achmed trotzig.»Aber zuvor sollst du noch etwas erfahren: In Nairobi, in der Nacht vor der

Erprobung, hat Sina sich ins Zimmer des Scheichs geschlichen, als du geschlafen hast.«

«Lügner!«Arsenow dachte an das feierliche Versprechen, das Sina und er sich in der Bucht gegeben hatten.»Sina würde mich nie betrügen.«

«Denk daran, welches Zimmer ich hatte, Arsenow. Du hast sie selbst verteilt. Ich hab Sina mit eigenen Augen gesehen.«

Arsenows Blick glühte feindselig, aber er ließ Achmed los.»Ich hätte gute Lust, dich umzulegen, aber jeder von uns wird im Einsatz gebraucht. «Er nickte den anderen zu.»Los, wir müssen weiter.«

Karim, der Elektronikfachmann, übernahm die Führung, dann kamen die Frau und Achmed, und Arsenow bildete die Nachhut. Schon nach kurzer Zeit hob Karim eine Hand, brachte sie damit zum Anhalten.

Seine leise Stimme drang nach hinten bis an Arsenows Ohr.»Bewegungsmelder.«

Arsenow sah Karim niederkauern, um vorzubereiten, was er für seine Arbeit brauchte. Er war dem Schicksal für diesen Mann dankbar. Wie viele Bomben hatte Karim im Lauf der Jahre für sie gebaut? Alle hatten einwandfrei funktioniert; er hatte niemals einen Fehler gemacht.

Wie zuvor zog Karim einen Draht mit zwei Krokodilklemmen an den Enden aus seinem Overall. Mit der Kombizange in einer Hand suchte er aus dem Kabelstrang die richtigen Leitungen heraus, knipste eine durch und befestigte die Klemme an ihrer blanken Kupferseele. Dann trennte er wie zuvor die Isolierung der zweiten Leitung auf und legte die Krokodilklemme an, um den Bewegungsmelder auszuschalten.

«Alles klar«, sagte Karim, und sie rückten in den Erfassungsbereich des Bewegungsmelders vor.

Die Alarmanlage sprach an, schrillte durch den Korridor und brachte die Sicherheitsbeamten zurück, die mit schussbereiten Maschinenpistolen angerannt kamen.

«Karim!«, rief Arsenow erschrocken.

«Eine Falle!«, jammerte Karim.»Jemand hat die Leitungen vertauscht!«

Wenige Minuten zuvor drehten Bourne und Chan sich langsam nach dem amerikanischen Sicherheitsbeamten um. Er trug einen Arbeitsanzug der U.S. Army und war mit einer Maschinenpistole bewaffnet. Er trat einen Schritt näher, um ihre Dienstausweise zu kontrollieren. Seine Haltung entspannte sich etwas, und er nahm den Lauf der Waffe hoch, aber sein Blick blieb finster.

«Was macht ihr hier unten, Jungs?«

«Wartungsarbeiten«, sagte Bourne. Er erinnerte sich an das Fahrzeug von Reykjavik Energy, das sie ins Hotel hatten fahren sehen, und einen der Pläne in Oszkars Notebook.»Die Fernwärmeversorgung ist ausgefallen. Wir sollen den Leuten helfen, die Reykjavik Energy hergeschickt hat.«

«Ihr seid im falschen Bereich gelandet«, sagte der Wachmann. Er zeigte in die entgegengesetzte Richtung.»Ihr müsst zurückgehen und zweimal links abbiegen.«

«Danke«, sagte Chan.»Wir haben uns wohl verlaufen. Dies ist normalerweise nicht unser Bereich.«

Als sie sich abwandten, um wegzugehen, gaben Bournes Beine unter ihm nach. Er brach laut aufstöhnend zusammen.

«He, was hat er?«, fragte der Sicherheitsbeamte.

Chan kniete neben Bourne nieder und knöpfte ihm das Hemd auf.

«Jesus«, sagte der Wachmann und beugte sich nach vorn, um Bournes mit Wunden übersäten Oberkörper zu begutachten,»was zum Teufel ist mit dem passiert?«

Chans Hand schoss hoch, bekam ihn vorn an seiner Arbeitsjacke zu fassen und riss ihn zu sich herunter, so-dass er mit dem Kopf auf den Betonboden schlug. Als Bourne sich aufrappelte, war Chan schon dabei, dem Sicherheitsbeamten die Uniform auszuziehen.

«Er hat eher deine Größe«, sagte Chan und hielt Bourne den Arbeitsanzug hin.

Während Bourne sich umzog, schleifte Chan den Bewusstlosen in eine dunkle Kellerecke.

In diesem Augenblick schrillte die Alarmanlage los, und sie rannten in Richtung Unterstation weiter.

Die Sicherheitsbeamten waren gut ausgebildet, und die Amerikaner und Araber, die in dieser Schicht gemeinsam Dienst taten, arbeiteten erfreulich gut zusammen. Da jeder Sensortyp einen bestimmten Alarm auslöste, wussten sie sofort, dass ein Bewegungsmelder angesprochen hatte, und kannten seinen genauen Standort. Sie befanden sich in höchster Alarmbereitschaft und hatten so kurz vor Beginn des Gipfeltreffens Befehl, erst zu schießen und dann Fragen zu stellen.

Sie begannen schon im Laufen zu schießen und durchsiebten die Lüftungsgitter mit Feuerstößen. Die Hälfte von ihnen schossen ihre Magazine in den verdächtigen Bereich leer. Die andere Hälfte stand als Reserve in Bereitschaft, während die Schützen mit vereinten Kräften die demolierten Lüftungsgitter aufrissen. Im Schacht dahinter fanden sie drei Tote: zwei Männer und eine Frau. Einer der Amerikaner benachrichtigte Jamie Hull, einer der Araber verständigte Fahd al-Sa’ud.

Inzwischen war weiteres Sicherheitspersonal aus anderen Bereichen dieses Kellergeschosses zusammengeströmt, um die Kollegen zu unterstützen.

Zwei Reserveleute kletterten in den Luftschacht, und nachdem sie festgestellt hatten, dass sich dort keine weiteren Angreifer versteckt hielten, sicherten sie den Schacht. Andere zerrten die drei von Kugeln durchsiebten Leichen heraus — mit Karims Gerätschaften zur Umgehung von Sensoren und etwas, das auf den ersten Blick wie eine Zeitbombe aussah.

Jamie Hull und Fahd al-Sa’ud trafen fast gleichzeitig ein. Hull erfasste die Situation mit einem Blick und rief seinen Stabschef über Funk.

«Ab sofort herrscht Alarmstufe rot. Unsere Sicherheitsmaßnahmen sind umgangen worden. Drei Angreifer sind tot, wiederhole, drei Angreifer sind tot. Lassen Sie das gesamte Hotel sofort abriegeln, niemand darf mehr rein oder raus. «Er blaffte weitere Befehle, damit seine Leute die bei Alarmstufe rot vorgesehenen Positionen einnahmen. Als Nächstes benachrichtigte er den Secret Service, der den Präsidenten in seiner Suite bewachte.

Fahd al-Sa’ud war in die Hocke gegangen und begutachtete die Toten. Ihre Körper waren ziemlich durchsiebt, aber die blutigen Gesichter waren weitgehend unversehrt. Er zog eine winzige Stablampe an einem Schlüsselanhänger aus der Tasche und leuchtete damit in die Gesichter. Dann streckte er eine Hand aus, berührte mit dem Zeigefinger den Augapfel eines der Toten. An seiner

Fingerspitze blieb etwas Blaues hängen; die Iris des Erschossenen war dunkelbraun.

Einer der FSB-Männer musste Karpow alarmiert haben, denn der Kommandeur der Alpha-Einheit kam schwerfällig angetrabt. Er war so außer Atem, dass Fahd al-Sa’ud vermutete, er sei die ganze Strecke gerannt.

Hull und er informierten den Russen darüber, was hier geschehen war. Al-Sa’ud hielt seine Fingerspitze hoch.»Sie tragen farbige Kontaktlinsen… und sehen Sie, sie haben sich die Haare gefärbt, um als Isländer durchzugehen.«

Karpows Miene war grimmig.»Den hier kenne ich«, sagte er und stieß einen der Männer mit dem Fuß an.»Er heißt Achmed. Er ist einer von Arsenows wichtigsten Unterführern.«

«Sie meinen den tschetschenischen Terroristen?«, fragte Hull.»Das sollten Sie sofort Ihrem Präsidenten melden, Boris.«

Der Russe stand auf und stemmte die Fäuste in die Hüften.»Eines wüsste ich gern: Wo ist Arsenow?«

«Ich fürchte, dass wir zu spät kommen«, flüsterte Chan hinter einem Metallpfeiler, als sie die Ankunft der beiden Sicherheitschefs beobachteten,»aber ich sehe Spalko nicht.«

«Vielleicht hat er das Risiko gescheut, selbst ins Hotel einzudringen«, meinte Bourne.

Chan schüttelte den Kopf.»Ich kenne ihn. Er ist ein Egoist und Perfektionist. Nein, er ist irgendwo in der Nähe.«

«Aber offenbar nicht hier«, sagte Bourne nachdenklich. Er beobachtete den Russen, der jetzt herangetrabt kam und sich zu Jamie Hull und dem arabischen Sicherheitschef gesellte. Irgendwie war ihm das breite, brutale Gesicht mit den starken Augenwülsten und den raupenartigen Brauen vage vertraut. Als er ihn dann reden hörte, sagte er leise:»Ich kenne diesen Mann — den Russen.«

«Das ist keine Überraschung. Ich erkenne ihn auch«, bestätigte Chan.»Boris Iljitsch Karpow, Kommandeur der Alpha-Einheit, der Elitetruppe des FSB.«

«Nein, ich meine, dass ich ihn kenne.«

«Wie? Woher?«

«Das weiß ich nicht«, sagte Bourne.»Ist er Freund oder Feind?«Er schlug sich mit den Fäusten an die Stirn.»Wenn ich mich nur erinnern könnte!«

Chan wandte sich ihm zu und erkannte deutlich, welche Qualen ihn peinigten. Er musste der gefährlichen Versuchung widerstehen, Bourne tröstend eine Hand auf die Schulter zu legen. Deswegen gefährlich, weil er nicht wusste, wohin diese Geste führen oder was sie überhaupt bedeuten würde. Er spürte den weiteren Zerfall seines Lebens, der begonnen hatte, als Bourne sich neben ihn gesetzt und ihn angesprochen hatte. »Wer bist du?«, hatte er gefragt. Damals hatte Chan die Antwort auf diese Frage gewusst; jetzt war er sich seiner Sache nicht mehr so sicher. War es möglich, dass alles, woran er geglaubt oder sich zu glauben eingebildet hatte, eine Lüge gewesen war?

Chan rettete sich vor diesen zutiefst verstörenden Gedanken, indem er sich daran klammerte, worauf Bourne und er sich am besten verstanden.»Dieser Gegenstand macht mir Sorgen«, sagte er.»Das Ding ist eine Zeitbombe. Aber du hast gesagt, dass Spalko vorhat, Schiffers Diffusor zu verwenden.«

Bourne nickte.»Ich würde sagen, das sei ein klassisches Ablenkungsmanöver, wenn wir nicht kurz nach Mitternacht hätten. Das Gipfeltreffen beginnt erst in knapp acht Stunden.«

«Darum haben sie eine Zeitbombe mitgebracht.«

«Ja, aber wieso sollte sie schon jetzt gelegt werden?«

«Weniger scharfe Kontrollen«, stellte Chan fest.

«Richtig, aber zugleich ist das Risiko größer, dass die Sicherheitskräfte sie bei einer ihrer regelmäßigen Durchsuchungen finden. «Bourne schüttelte den Kopf.»Nein, wir übersehen irgendwas, das weiß ich. Spalko hat etwas anderes vor. Aber was?«

Spalko, Sina und die restlichen Teammitglieder hatten ihr Ziel erreicht. Hier, weit von dem Flügel des Hotels mit dem Kongressforum entfernt, wies der Sicherheitskordon gewisse Lücken auf, die Spalko ausnützen konnte. Obwohl zahlreiche Sicherheitsbeamte im Einsatz waren, konnten sie nicht überall gleichzeitig sein, und so genügte es, zwei von ihnen auszuschalten, damit Spalko und sein Team in Position gelangen konnten.

Sie befanden sich drei Ebenen unterhalb der Straße in einem riesigen fensterlosen Raum mit Betonwänden und einer offen stehenden Brandschutztür. Unmengen von dicken schwarzen Rohren — jedes mit dem Gebäudeteil bezeichnet, den es versorgte — führten durch die Rückwand des Raums hinaus.

Alle Mitglieder des Teams packten jetzt ihre ABC-Schutzanzüge aus, legten sie an und dichteten sie sorgfältig ab. Zwei der Tschetscheninnen traten auf den Korridor hinaus, um beiderseits des Eingangs Wache zu halten, und einer der Männer gab ihnen von innen Deckung.

Spalko öffnete den größeren der beiden mitgebrachten

Metallbehälter, der den NX 20 enthielt. Er setzte die beiden Hälften sorgfältig zusammen und überzeugte sich davon, dass die Schnappverschlüsse sicher eingerastet waren. Dann durfte Sina den Diffusor halten, während er den Kühlbehälter aufsperrte, den er von Dr. Peter Sido bekommen hatte. Die darin liegende Glasphiole war klein, geradezu winzig. Auch nachdem sie ihre gewaltige Wirkung in Nairobi erlebt hatten, konnten sie kaum glauben, dass eine so geringe Menge des biologischen Kampfstoffes so vielen Menschen den Tod bringen konnte.

Wie schon in Nairobi öffnete er die Ladekammer des Diffusors und legte die Phiole hinein. Dann schloss und verriegelte er die Kammer, nahm den NX 20 aus Sinas Armen und betätigte den kleineren der beiden Abzüge. Damit gelangte die versiegelte Phiole mit dem Kampfstoff in die eigentliche Diffusorkammer. Jetzt brauchte Spalko die Kammer nur noch mit dem auf der linken Seite des Kolbens eingelassenen Knopf zu verriegeln, zu zielen und den größeren zweiten Abzug zu betätigen.

Er hielt den Diffusor in beiden Armen, wie es auch Sina getan hatte. Diese Waffe musste selbst von ihm mit angemessenem Respekt behandelt werden.

Er blickte in Sinas Augen, aus denen ihre Liebe zu ihm und ihr patriotischer Eifer leuchteten.»Jetzt warten wir«, sagte er,»auf den Sensoralarm.«

Dann hörten sie ihn: Das Schrillen war leise, aber seine von den kahlen Betonkorridoren verstärkten Vibrationen waren unverkennbar. Sina und der Scheich lächelten sich an. Spalko glaubte zu spüren, wie die Spannung im Raum zunahm, wie sie von gerechtem Zorn und der Hoffnung auf lange ersehnte Rache genährt wurde.

«Unser großer Augenblick steht bevor«, sagte er, und sie hörten ihn alle, reagierten alle. Er konnte fast hören, wie ihr Siegesgeheul einsetzte.

Von der unaufhaltsamen Macht des Schicksals getrieben, betätigte der Scheich den kleinen Abzug, der die Ladung mit bedrohlichem kleinem Zischen in die Diffusorkammer beförderte, in der sie liegen und auf den Augenblick ihrer Freisetzung warten würde.

Загрузка...