Als sie zurückkamen, roch es in Annakas Wohnung noch immer nach Kaffee. Sie waren nicht länger als nötig in dem Cafe geblieben. Bourne ging zu viel durch den Kopf, als dass er hätte ruhig sitzen können. Aber die Erholungspause, so kurz sie auch gewesen war, hatte ihn belebt, hatte seinem Unterbewusstsein die Möglichkeit gegeben, die benötigten Informationen zu verarbeiten.
Sie betraten die Wohnung dicht hintereinander. Der Duft von Limonenöl und Moschus stieg wie Nebel über einem Fluss von ihr auf, und Bourne konnte nicht anders, als ihn tief einzuatmen. Um auf andere Gedanken zu kommen, konzentrierte er sich grimmig auf die Aufgabe, die ihn hergeführt hatte.
«Hast du die Blutergüsse und Verbrennungen, die Stich- und Schnittwunden an Laszlo Molnars Körper gesehen?«
Annaka fuhr zusammen.»Bitte erinnere mich nicht daran.«
«Er ist viele Stunden, vielleicht sogar mehrere Tage lang gefoltert worden.«
Sie sah ihn unter elegant geschwungenen Augenbrauen hervor ernsthaft an.
«Das bedeutet«, fuhr er fort,»dass er Dr. Schiffers Aufenthaltsort verraten haben könnte.«
«Oder auch nicht«, sagte sie.»Auch das wäre ein Grund gewesen, ihn zu ermorden.«
«Ich glaube nicht, dass wir’s uns leisten können, das anzunehmen.«
«Was meinst du mit >wir«
«Ja, ich weiß, ich bin jetzt auf mich allein gestellt.«
«Willst du damit erreichen, dass ich mich schuldig fühle? Du vergisst, dass mir nichts daran liegt, Dr. Schiffer zu finden.«
«Auch nicht, wenn’s eine Katastrophe für die ganze Welt wäre, wenn er den falschen Leuten in die Hände fiele?«
«Wie meinst du das?«
Chan, der unten in seinem Leihwagen saß, drückte sich den Ohrhörer fester ins Ohr. Er konnte jedes Wort deutlich verstehen.
«Alex Conklin war ein meisterhafter Organisator — das war seine Spezialität. Ich habe keinen gekannt, der komplexe Unternehmen besser geplant und ausgeführt hätte. Wie ich dir erzählt habe, wollte er Dr. Schiffer so dringend haben, dass er ihn aus einem streng geheimen Projekt des Verteidigungsministeriums losgeeist, zur CIA geholt und dort prompt hat >verschwinden< lassen. Das bedeutet, dass Schiffers Arbeit so wichtig gewesen sein muss, dass Alex ihn unbedingt in Sicherheit bringen wollte. Und wie sich herausgestellt hat, hatte er Recht, denn jemand hat Dr. Schiffer entführt. Dein Vater und seine Leute haben ihn in Conklins Auftrag zurückgeholt und in ein Versteck gebracht, das nur Molnar kannte. Dein Vater ist jetzt tot, Laszlo Molnar ebenfalls. Der Unterschied ist lediglich, dass Molnar vor seinem Tod gefoltert wurde.«
Chan setzte sich auf, er fühlte sein Herz jagen. Dein Vater? Konnte die Begleiterin Bournes, die er bisher kaum beachtet hatte… konnte sie wirklich Annaka Va-das sein?
Annaka stand in einem Sonnenfleck, der durch ihr Erkerfenster einfiel.»Woran hat Dr. Schiffer gearbeitet, dass es alle so brennend interessiert? Was glaubst du?«
«Ich dachte, Dr. Schiffer sei dir egal«, sagte Bourne.
«Keine abfälligen Bemerkungen. Beantworte einfach meine Frage.«
«Schiffer ist der weltweit führende Fachmann fürs Teilungsverhalten von Bakterien. Das habe ich auf der Website des Forums gesehen, die Molnar besucht hat. Ich hab’s dir erzählt, aber du warst zu sehr damit beschäftigt, die Leiche des armen Kerls zu finden.«
«Das klingt wie Geschwafel, finde ich.«
«Erinnerst du dich an die Webseite, die Molnar aufgerufen hatte?«
«Argentinisches hämorrhagisches Fieber, Kryptoko-ckose…«
«Lungenpest, Milzbrand. Ich halte es für möglich, dass der gute Doktor mit diesen tödlichen Krankheitserregern gearbeitet hat — oder mit anderen, die vielleicht noch gefährlicher sind.«
Annaka starrte ihn sekundenlang an, dann schüttelte sie den Kopf.
«Was Alex so aufgeregt — und geängstigt — hat, war meiner Ansicht nach, dass Dr. Schiffer etwas entwickelt hat, das sich als biologische Waffe einsetzen lässt. Damit hätte er ein Wissen, nach dem alle Terroristen gieren.«
«Großer Gott! Aber das ist nur eine Vermutung. Wie willst du feststellen, ob du Recht hast?«
«Ich muss einfach weitergraben«, sagte Bourne.»Interessiert dich noch immer nicht, wo Dr. Schiffer steckt?«
«Allmählich interessiert es mich, aber ich sehe nicht, wie wir ihn finden sollen. «Sie wandte sich ab und trat an ihren Flügel, als sei er ein Prüfstein oder ein Talisman, der sie vor Schaden beschützen könnte.
«Wir«, sagte Bourne.»Du hast >wir< gesagt.«
«Das war ein Versprecher.«
«Ein Freudscher Versprecher, denke ich.«
«Schluss damit«, sagte sie verärgert.»Kein Wort mehr!«
Inzwischen kannte er sie gut genug, um zu wissen, dass das ihr Ernst war. Er setzte sich an ihren Schreibsekretär. Dabei sah er das LAN-Kabel, das ihren Laptop mit dem Internet verband.
«Ich habe eine Idee«, sagte er. In diesem Augenblick sah er die Kratzspuren. Das schräg einfallende Sonnenlicht traf die Klavierbank und ließ einige frische Kratzer deutlich hervortreten. In ihrer Abwesenheit war jemand in der Wohnung gewesen. Wozu? Er sah sich nach kleinsten Veränderungen im Raum um.
«Was hast du?«, fragte Annaka.»Was ist los?«
«Nichts«, sagte er. Aber das Kissen lag nicht ganz so da, wie er’s zurückgelassen hatte; es war etwas nach rechts
Annaka stemmte eine Hand in die Hüfte.»Was vermutest du also?«
«Ich muss erst noch etwas holen«, improvisierte er.»Aus dem Hotel. «Er wollte sie nicht beunruhigen, aber er musste eine Möglichkeit finden, heimliche Nachforschungen anzustellen. Es war denkbar — vielleicht sogar wahrscheinlich —, dass der Eindringling, der in ihrem
Apartment gewesen war, noch in der Nähe war. Schließlich waren sie auch in Laszlo Molnars Apartment überrascht worden. Aber wie zum Teufel hat der Beschatter uns hierher verfolgt? fragte er sich. Er war so vorsichtig wie nur möglich gewesen. Darauf gab es natürlich eine logische Antwort: Chan hatte ihn aufgespürt.
Bourne griff sich seine Lederjacke und ging zur Wohnungstür.»Ich bleibe nicht lange fort, versprochen. Willst du dich inzwischen nützlich machen, könntest du diese Website besuchen und weitere Informationen einholen.«
Jamie Hull, der amerikanische Sicherheitschef beim Terrorismusgipfel in Reykjavik, hatte eine Abneigung gegen Araber. Er mochte sie nicht, traute ihnen nicht. Sie glauben nicht mal an Gott — zumindest nicht an den richtigen —, erst recht nicht an Christus den Erlöser, sagte er sich verdrießlich, während er auf einem Korridor des weitläufigen Hotels Oskjuhlid unterwegs war.
Aber sie kontrollierten drei Viertel der weltweiten Ölvorkommen. Ein weiterer Grund, sie nicht zu mögen. Wäre diese Tatsache nicht gewesen, hätte kein Mensch sie im Geringsten beachtet, und sie hätten sich unter sonst gleichen Voraussetzungen in ihren rätselhaften Stammeskriegen zerfleischt. Hier in Reykjavik gab es vier arabische Sicherheitsteams — eines aus jedem der teilnehmenden Staaten —, aber Fahd al-Sa’ud koordinierte ihre Arbeit.
Für einen Araber war Fahd al-Sa’ud gar nicht so übel. Er war ein Sa’udi… oder ein Sunnit? Hull schüttelte den Kopf. Er wusste nicht, was das für einen Unterschied machte. Das war ein weiterer Grund für seine Abnei-gung: Man wusste nie, wer zum Teufel sie waren oder wessen Hand sie abhacken würden, wenn man ihnen Gelegenheit dazu gab. Fahd al-Sa’ud hatte sogar im Westen studiert, irgendwo in London, in Oxford… oder vielleicht in Cambridge? Als ob das einen Unterschied gemacht hätte! Der Vorteil war nur, dass man mit dem Kerl normales Englisch sprechen konnte, ohne dass er einen wie ein Mondkalb anglotzte.
Außerdem hatte Hull den Eindruck, er sei ein vernünftiger Mann, was bedeutete, dass er wusste, wem er Respekt schuldete. Ging es um die Bedürfnisse und Wünsche des US-Präsidenten, dann stimmte al-Sa’ud in praktisch allen Punkten Hulls Anordnungen zu — ganz im Gegensatz zu diesem sozialistischen Hundesohn Boris Iljitsch Karpow. Hull bedauerte heftig, sich bei dem Alten über ihn beklagt zu haben, was ihm einen Anschiss eingebracht hatte, aber tatsächlich war Karpow der fieseste Kerl, mit dem Hull jemals das Unglück gehabt hatte, zusammenarbeiten zu müssen.
Hull betrat den in mehrere Ränge unterteilten Konferenzsaal, in dem das eigentliche Gipfeltreffen stattfinden würde. Der Saal war ein perfektes Oval mit einer wellenförmigen Decke aus blauen Schalldämmplatten. Hinter diesen Platten verbargen sich die gewaltigen Lufteinlässe der von der komplexen Belüftungsanlage des Hotels völlig unabhängigen Klimaanlage. Ansonsten bestanden die Wände aus poliertem Teakholz, die Sitze waren blau gepolstert, alle waagrechten Flächen waren aus Bronze oder Rauchglas.
Seit dem Tag seiner Ankunft traf Hull hier jeden Morgen mit seinen Kollegen zusammen, um die umfangreichen Sicherheitsvorkehrungen zu besprechen und zu verfeinern. Nachmittags trafen sie mit ihren jeweiligen Mitarbeitern zusammen, um über Einzelheiten zu diskutieren und die neuesten Verfahren zu erläutern. Seit ihrer Ankunft war das gesamte Hotel für den Publikumsverkehr gesperrt, damit die Sicherheitsteams das Gebäude durchsuchen, elektronisch auf Wanzen überprüfen und in jeder Beziehung sichern konnten.
Als er den hell beleuchteten Konferenzsaal betrat, sah er seine Kollegen: Fahd al-Sa’ud, schlank, mit schwarzen Augen über seiner Hakennase und dem überaus selbstbewussten Betragen eines Prinzen; Boris Iljitsch Karpow, Kommandeur der Alpha-Einheit des Sicherheitsdiensts FSB, muskulös und bullig, mit breiten Schultern und schmalen Hüften, einem brutal wirkenden, flachen Tatarengesicht unter buschigen Augenbrauen und dichtem schwarzem Haar. Hull hatte Karpow noch nie lächeln gesehen; was Fahd al-Sa’ud betraf, bezweifelte er, dass er überhaupt wusste, wie man das machte.
«Guten Morgen, Kollegen«, sagte Boris Iljitsch Kar-pow in seiner ernsthaft schwerfälligen Art, die Hull an einen Nachrichtensprecher aus den fünfziger Jahren erinnerte.»In nur drei Tagen beginnt das Gipfeltreffen, und vor uns liegt noch viel Arbeit. Sollen wir gleich anfangen?«
«Unbedingt«, sagte Fahd al-Sa’ud und nahm seinen gewohnten Platz auf dem Podium ein, auf dem in nur zweiundsiebzig Stunden die Führer der fünf wichtigsten arabischen Staaten mit den Präsidenten Amerikas und Russlands zusammensitzen würden, um die erste gemeinsame Initiative auszuarbeiten, die dem internationalen Terrorismus den Nährboden entziehen sollte.»Ich habe Stellungnahmen von meinen Kollegen aus den anderen teilnehmenden islamischen Staaten erhalten und bin gern bereit, sie hier zu erläutern.«
«Forderungen, meinen Sie«, meinte Karpow aggressiv. Er war nie über ihren Beschluss, bei ihren Treffen Englisch zu reden, hinweggekommen; er war zwei zu eins überstimmt worden.
«Boris, wieso müssen Sie alles immer ins Negative ziehen?«, fragte Hull.
Karpow reagierte ungehalten; Hull wusste, dass er seine amerikanische Ungezwungenheit nicht leiden konnte.»Forderungen haben einen gewissen Geruch an sich, Mr. Hull. «Er tippte sich an die Spitze seiner geröteten Nase.»Ich kann sie riechen.«
«Mich wundert’s, dass Sie nach jahrelanger Wodkatrinkerei überhaupt noch etwas riechen, Boris.«
«Wodka macht uns stark, macht uns zu richtigen Männern. «Karpow verzog seine roten Lippen zu einem geringschätzigen Lächeln.»Im Gegensatz zu euch Amerikanern.«
«Ich soll auf Sie hören, Boris? Auf einen Russen? Ihr Land ist ein Totalversager. Der Kommunismus hat sich als so korrupt erwiesen, dass Russland unter seiner Last implodiert ist. Und Ihr Volk ist moralisch bankrott.«
Karpow sprang auf, sein ganzes Gesicht war nun so rot wie Nase und Lippen.»Ich habe langsam genug von Ihren Beleidigungen!«
«Pech für Sie. «Hull stand so ruckartig auf, dass er dabei seinen Stuhl umwarf. Die Ermahnungen des CIA-Direktors waren in diesem Augenblick vergessen.»Ich fange gerade erst richtig an.«
«Gentlemen, Gentlemen!«Fahd al-Sa’ud trat zwischen die Streithähne.»Erklären Sie mir bitte, wie dieser kindische Streit uns hilft, die Aufgaben zu bewältigen, die vor uns liegen. «Seine Stimme klang ruhig und gelassen, während er von einem zum anderen sah.»Jeder von uns dient seinem jeweiligen Staatsoberhaupt unbeirrbar loyal. Habe ich Recht? Dann sind wir verpflichtet, ihnen nach besten Kräften zu dienen. «Er ließ nicht locker, bis ihm beide widerstrebend beipflichteten.
Karpow nahm wieder Platz, behielt aber die Arme vor der Brust verschränkt. Hull stellte seinen Stuhl auf, rückte ihn an den Tisch und warf sich mit verdrießlicher Miene darauf.
«Wir mögen uns vielleicht nicht, aber wir müssen lernen, zusammenzuarbeiten«, sagte Fahd al-Sa’ud und beobachtete sie dabei aufmerksam.
Hull war vage bewusst, dass Karpow außer seiner aggressiven Halsstarrigkeit noch einen Wesenzug hatte, der ihn aufbrachte. Er brauchte einen Augenblick, um die Ursache dafür zu erkennen, aber bei näherer Überlegung wurde sie ihm klar. Irgendwas an Karpow — sein unerschütterliches Selbstbewusstsein — erinnerte ihn an David Webb oder Jason Bourne, wie alle CIA-Mitarbeiter ihn auf Befehl des Alten nennen mussten. Trotz allem Aktionismus und aller Lobbyarbeit Hulls zu seinen eigenen Gunsten war Bourne immer Alex Conklins Liebling geblieben, bis Hull schließlich aufgegeben hatte und ins Zentrum für Terrorismusbekämpfung übergewechselt war. Dort hatte er Karriere gemacht, kein Zweifel, aber er konnte es nie verwinden, um welche Position Bourne ihn gebracht hatte. Conklin war eine Legende innerhalb der Agency gewesen. Mit ihm zusammenzuarbeiten war Hulls Traum gewesen, seit er vor zwanzig Jahren zur CIA gegangen war. Es gab Träume, die man als Kind hatte;von diesen konnte man sich später leicht trennen. Aber die Träume eines Erwachsenen nun, die waren etwas ganz anderes. Die Verbitterung wegen unerfüllter Träume ließ sich nicht überwinden, zumindest nicht nach Hulls Erfahrung.
Er hatte tatsächlich gefeiert, als der Direktor ihm mitgeteilt hatte, Bourne könnte nach Reykjavik unterwegs sein. Die Vorstellung, Bourne habe seinen alten Mentor ermordet und sei zu einem bösartigen Einzelgänger geworden, hatte sein Blut in Wallung gebracht. Hätte Conklin sich bloß für Jamie Hull entschieden, dachte er, dann wäre er noch am Leben. Der Gedanke, er könnte derjenige sein, der Bourne im Auftrag der Agency liquidierte, war ihm als wahr gewordener Traum erschienen. Aber dann hatte er die Nachricht von Bournes Unfalltod erhalten, und seine Hochstimmung hatte sich in Niedergeschlagenheit verwandelt. Hull war zunehmend reizbar geworden — auch im Umgang mit den Secret-Service-Agenten, mit denen er offen und vertrauensvoll hätte zusammenarbeiten müssen. Da es für ihn nun keinerlei Erfüllung gab, bedachte er Karpow mit einem mörderischen Blick, der nicht minder grimmig erwidert wurde.
Bourne fuhr nicht mit dem Aufzug nach unten, als er Annakas Wohnung verließ. Stattdessen ging er die kurze Betontreppe zum Dach hinauf. Oben war die Tür mit einer Alarmanlage gesichert, die er leicht und schnell überwand.
Die Sonne hatte den Nachmittag schiefergrauen Wolken und einem böigen frischen Wind überlassen. Ein Blick nach Süden zeigte Bourne die vier prächtigen Kuppeln der Kiraly-Bäder. Er trat an die Dachbrüstung und lehnte sich an ungefähr der Stelle hinüber, an der Chan vor weniger als einer Stunde gestanden hatte.
Von diesem Aussichtspunkt aus suchte er die Straße ab, erst nach jemandem, der in einem dunklen Hauseingang stand, dann nach Fußgängern, die zu langsam gingen oder ganz stehen blieben. Er beobachtete zwei junge Frauen, die eingehakt vorbeispazierten, eine Mutter mit Kinderwagen und einen alten Mann, den er genauer betrachtete, weil er sich an Chans chamäleonartige Wandelbarkeit erinnerte.
Als er nichts Verdächtiges fand, konzentrierte er seine Aufmerksamkeit auf die unten geparkten Autos und hielt Ausschau nach etwas Ungewöhnlichem. Alle ungarischen Leihwagen mussten einen Aufkleber tragen, der sie als solche auswies. In diesem Wohnviertel war ein Leihwagen etwas, für das er sich würde interessieren müssen.
Er entdeckte einen schwarzen Skoda, der schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite stand, und begutachtete seine Position. Am Steuer sitzend musste man den Eingang des Gebäudes 106–108 Fo utca ungehindert beobachten können. Im Augenblick saß jedoch niemand am Steuer oder im Fond des Leihwagens.
Bourne wandte sich ab und ging mit großen Schritten übers Dach zurück.
Chan kauerte im Treppenhaus in Bereitschaft und sah Bourne auf sich zukommen. Dies war seine große Chance, das wusste er. Bourne dachte bestimmt nur an Überwachungsprobleme und war völlig ahnungslos. Wie in einem Traum — ein Traum, der ihn seit vielen Jahren quälte — sah er Bourne mit geistesabwesendem Blick direkt auf sich zukommen. Chan fühlte Wut in sich aufsteigen. Dies war der Mann, der neben ihm gesessen und ihn nicht wiedererkannt hatte; der sich geweigert hatte, ihn zu akzeptieren, als er sich zu erkennen gegeben hatte. Das verstärkte nur Chans Überzeugung, Bourne habe ihn nie gewollt, er sei nur allzu gern bereit gewesen, wegzulaufen und ihn im Stich zu lassen.
Und so erhob Chan sich jetzt mit dem Zorn des Gerechten. Als Bourne in den Schatten hinter der Tür trat, traf er seine Nase mit einem Kopfstoß. Blut spritzte, und Bourne taumelte rückwärts. Um seinen Vorteil auszunützen, setzte Chan sofort nach, aber Bourne trat nach ihm.
«Che-sah!«, keuchte Bourne.
Chan steckte den Tritt weg, indem er ihn teilweise ablenkte, und klemmte Bournes Fußknöchel mit dem linken Arm gegen seinen Körper. Aber sein Gegner überraschte ihn. Statt das Gleichgewicht zu verlieren, richtete er sich auf, stemmte Gesäß und Rücken gegen die Stahltür, trat mit dem rechten Fuß nach Chan und traf seine rechte Schulter mit einem so gewaltigen Tritt, dass Chan seinen linken Fuß loslassen musste.
«Mee-sah!«, rief Bourne halblaut.
Er stürzte sich auf Chan, der wie vor Schmerzen zitterte, während er mit starr gestreckten Fingern Bournes Brustbein traf. Im nächsten Augenblick bekam er Bournes Kopf mit beiden Händen zu fassen und schlug ihn gegen die Stahltür zum Dach. Bournes Blick wurde verschwommen.
«Was hat Spalko vor?«, fragte Chan scharf.»Weißt du’s?«
Schock und Schmerzen bewirkten, dass sich vor Bournes Augen alles drehte. Er strengte sich an, um wieder deutlich sehen und klar denken zu können.
«Wer… ist Spalko?«Seine Stimme klang schwammig, schien aus weiter Ferne zu kommen.
«Das weißt du natürlich!«
Bourne schüttelte den Kopf, was einen Hagel von Schlägen auslöste, die seinen Kopf fast gleichzeitig trafen. Er schloss kurz die Augen.
«Ich dachte. ich dachte, du wolltest mich umbringen.«
«Hör mir gefälligst zu!«
«Wer bist du?«, flüsterte Bourne heiser.»Woher weißt du von meinem Sohn? Woher weißt du von Joshua?«
«Hör mir zu!«Chan brachte seinen Kopf dicht an Bournes heran.»Stepan Spalko ist der Mann, der Alex Conklin hat ermorden lassen und dir diesen Mord angehängt hat — er hat uns beide reingelegt. Weshalb hat er das getan, Bourne? Du weißt es, und ich muss es wissen!«
Bourne hatte das Gefühl, sich in einem Traum zu befinden, in dem alles unendlich langsam ablief. Er konnte nicht klar denken und keinen vernünftigen Gedanken fassen. Dann fiel ihm etwas auf, das so merkwürdig war, dass es die seltsame Trägheit überwand, die ihn befallen hatte. Es handelte sich um etwas, das in Chans rechtem Ohr steckte. Aber was war das? Als er den Kopf unter Schmerzen leicht drehte, sah er, dass das Ding ein elektronischer Miniempfänger war.
«Wer bist du?«, fragte er.»Gottverdammt noch mal, wer bist du?«
Hier schienen zwei Gespräche gleichzeitig stattzufinden, als gehörten die beiden Männer verschiedenen Welten an, als lebten sie in zwei unterschiedlichen Leben. Sie erhoben die Stimmen, ihre Emotionen brachten sie bis zur Weißglut, und je mehr sie sich anschrien, desto weiter schienen sie sich voneinander zu entfernen.
«Ich hab’s dir gesagt!«Chans Hände waren mit Bournes Blut bedeckt, das jetzt um seine Nasenlöcher herum zu gerinnen schien.»Ich bin dein Sohn!«
Mit diesen Worten wurde der Stillstand durchbrochen, und ihre Welten kollidierten erneut. Die Wut, die bis in Bournes Faust vorgedrungen war, als der Hoteldirektor ihn abwimmeln wollte, donnerte wieder in seinen Ohren. Mit einem Aufschrei trieb er Chan rückwärts durch die Tür, aufs Dach hinaus.
Er ignorierte seine Kopfschmerzen, hakte einen Fuß hinter Chans Beine und brachte ihn so zu Fall. Aber Chan riss ihn im Fallen mit, zog die Beine an, als er auf den Rücken krachte, stemmte Bourne hoch und stieß ihn mit solcher Gewalt fort, dass er sich in der Luft überschlug.
Bourne zog den Kopf ein und landete mit einer Schulterrolle, sodass der größte Teil der Aufprallenergie absorbiert wurde. Beide kamen mit ausgestreckten Armen und den Gegner abtastenden Fingern gleichzeitig wieder auf die Beine. Dann zuckten Bournes Arme plötzlich herab, schlugen auf Chans Handgelenke, lösten seinen Griff und drehten ihn zur Seite. Bourne brachte einen Kopfstoß an, der den Nervenknoten dicht hinter Chans linkem Ohr traf. Eine Körperhälfte des Getroffenen wurde taub, und Bourne nutzte seinen Vorteil und traf Chans Gesicht mit einer rechten Geraden.
Chan taumelte mit leicht nachgebenden Knien, aber wie ein angeschlagener Schwergewichtler weigerte er sich, zu Boden zu gehen. Bourne griff wie ein gereizter Stier wieder und wieder an und trieb ihn mit jedem Boxhieb weiter in Richtung Dachbrüstung zurück. In seiner blinden Wut machte er jedoch den Fehler, seine Deckung zu vernachlässigen. Er war völlig überrascht, als Chan nach dem nächsten Schlag nicht weiter zurückwich, sondern sich im Gegenteil mit seinem vollem Gewicht nach vorn warf. Eine ansatzlos geschlagene Gerade ließ Bournes Zähne klappern, bevor sie ihn von den Beinen holte.
Bourne sank auf die Knie, und Chan traf ihn mit einem gewaltigen Tritt in die Herzgrube. Er wäre zur Seite gekippt, aber Chan packte ihn an der Kehle und drückte zu.
«Raus mit der Sprache«, verlangte er heiser.»Sag mir alles, was du weißt.«
Bourne keuchte vor Anstrengung und Schmerzen.»Zum Teufel mit dir!«
Chan traf seinen Unterkiefer mit einem Handkantenschlag.
«Wann wirst du endlich vernünftig?«
«Versuchs mit mehr Kraft«, sagte Bourne.
«Du bist komplett übergeschnappt.«
«Darauf legst du’s an, was?«Bourne schüttelte verbissen den Kopf.»Diese ganze verrückte Geschichte, dass du Joshua sein sollst.«
«Ich bin dein Sohn.«
«Hör dir das bloß an — du kannst nicht mal seinen Namen sagen. Schluss jetzt mit dieser Farce; sie nützt dir nichts mehr. Du bist ein international gesuchter Attentäter namens Chan. Ich denke gar nicht daran, dich zu diesem Spalko oder sonst jemandem zu führen. Ich lasse mich von niemandem mehr als Werkzeug missbrauchen.«
«Du weißt nicht, was du tust. Du weißt nicht, was. «Chan verstummte, schüttelte heftig den Kopf, versuchte es anders. Mit der freien Hand wies er den kleinen aus
Stein geschnittenen Buddha vor.»Sieh dir den an, Bourne!«Er spuckte die Wörter aus, als seien sie vergiftet. »Sieh ihn dir an!«
«Ein Talisman, den jeder in Südostasien kaufen kann.«
«Aber nicht diesen. Den hast du mir geschenkt — ja, das hast du getan. «Seine Augen blitzten, und in seiner Stimme schwang ein Beben mit, das er nicht unterdrücken konnte, so peinlich es ihm auch war.»Und dann hast mich verlassen, damit ich im Dschungel.«
In diesem Augenblick fiel ein Schuss. Als die Kugel neben Chans rechtem Bein einschlug und als Querschläger davonsurrte, ließ er Bourne los und sprang zurück. Ein zweiter Schuss hätte ihn fast an der Schulter getroffen, doch er wich hastig hinter den Mauerwürfel mit der Aufzugmechanik zurück.
Bourne drehte den Kopf zur Seite und sah Annaka, die ihre Waffe mit beiden Händen umklammert hielt, oben an der Treppe kauern. Jetzt kam sie vorsichtig näher. Sie riskierte einen kurzen Blick zu Bourne hinüber.
«Bist du in Ordnung?«
Er nickte, aber im selben Augenblick nutzte Chan die Gelegenheit, um sein Versteck zu verlassen, mit wenigen Sätzen das Dach zu überqueren und aufs Dach des Nachbarhauses zu springen. Bourne war es recht, dass Annaka nicht wild hinter ihm her schoss, sondern ihre Pistole sinken ließ und sich ihm zuwandte.
«Du bist nicht in Ordnung!«, sagte sie.»Du bist voller Blut!«
«Das ist nur Nasenbluten. «Er fühlte sich leicht schwindlig, als er sich aufsetzte. Ihr zweifelnder Gesichtsausdruck veranlasste ihn dazu, hinzuzufügen:»Es sieht vielleicht nach viel Blut aus, ist aber nicht weiter schlimm.«
Sie drückte einige Papiertaschentücher an seine Nase, als er wieder zu bluten begann.
«Danke.«
Annaka betrachtete ihn stirnrunzelnd.»Du hast gesagt, du müsstest etwas aus deinem Hotel holen. Wieso bist du dann aufs Dach gegangen?«
Er rappelte sich langsam auf, was ihm jedoch nicht ohne ihre Hilfe gelang.»Augenblick!«Sie sah in die Richtung, in die Chan verschwunden war, dann wandte sie sich wieder Bourne zu. Ihr Gesichtsausdruck zeigte, dass ihr ein Licht aufgegangen war.»Das war der Kerl, der uns beobachtet hat, stimmt’s? Der Mann, der die Polizei angerufen hat, als wir in Laszlo Molnars Apartment waren.«
«Das weiß ich nicht.«
Sie schüttelte den Kopf.»Ich glaube dir nicht. Nur damit lässt sich erklären, weshalb du mich belogen hast. Du wolltest mich nicht beunruhigen, weil du behauptet hattest, in meiner Wohnung wären wir sicher. Was hat sich geändert?«
Bourne zögerte einen Augenblick, dann sah er ein, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als ihr die Wahrheit zu sagen.»Als wir aus dem Cafe gekommen sind, habe ich an deiner Klavierbank frische Kratzer gesehen.«
«Was?«Sie machte große Augen und schüttelte den Kopf.»Das verstehe ich nicht.«
Er dachte an den elektronischen Empfänger in Chans Ohr.»Komm, wir gehen in deine Wohnung, dann zeige ich’s dir.«
Sie zögerte noch, als er sich in Bewegung setzte.»Ich weiß nicht recht.«
Er drehte sich nach ihr um.»Was weißt du nicht?«, fragte er müde.
Ihr Gesichtsausdruck hatte sich verhärtet, doch zugleich wirkte er irgendwie wehmütig.»Du hast mich angelogen.«
«Das habe ich getan, um dich zu schützen, Annaka.«
Ihre großen Augen glitzerten feucht.»Wie soll ich dir jetzt noch vertrauen?«
«Annaka…«
«Sag’s mir bitte, weil ich’s wirklich wissen möchte. «Sie blieb unbeirrbar stehen, und er wusste, dass sie keinen einzigen Schritt in Richtung Treppe machen würde.»Ich brauche eine Antwort, an die ich mich klammern, an die ich glauben kann.«
«Was soll ich denn sagen?«
Sie hob die Arme, ließ sie mit einer Geste, die ärgerliche Verzweiflung ausdrückte, herabfallen.»Merkst du eigentlich, was du tust — dass du alles, was ich sage, gegen mich verwendest?«Sie schüttelte den Kopf.»Wo hast du gelernt, Leute so zu behandeln, dass sie sich wie ein Haufen Scheiße fühlen?«
«Ich wollte verhindern, dass dir etwas passiert«, sagte er. Annaka hatte ihn zutiefst gekränkt, und obwohl er sich um einen gleichmütigen Gesichtsausdruck bemühte, vermutete er, dass sie das sehr wohl wusste.»Ich dachte, ich hätte das Richtige getan. Dieser Meinung bin ich noch immer, auch wenn es bedeutet hat, dir die Wahrheit vorzuenthalten — zumindest für gewisse Zeit.«
Sie starrte ihn lange an. Der böige Wind fuhr in ihr kupferrotes Haar, breitete es wie Vogelschwingen aus. Von der Fo utca drangen die gereizten Stimmen von Leuten herauf, die wissen wollten, was für Geräusche das gewesen waren — Fehlzündungen eines Automotors oder doch Schüsse? Als sie keine Antwort bekamen, wurde es in der Umgebung wieder still, nur ab und zu kläffte ein Hund.
«Du hast geglaubt, du könntest die Situation meistern«, sagte Annaka.»Du hast geglaubt, du könntest ihn meistern.«
Bourne ging steifbeinig zur vorderen Brüstung und beugte sich darüber. Obwohl das unwahrscheinlich war, stand der Leihwagen noch immer dort, war weiterhin leer. Vielleicht gehörte er gar nicht Chan, oder Chan war zu Fuß geflüchtet. Leise ächzend richtete Bourne sich auf. Die Schmerzen kamen in Wellen, die immer gewaltiger gegen den Strand seines Bewusstseins brandeten, weil die Wirkung der durch das Schocktrauma freigesetzten Endorphine abzuklingen begann. Jeder Knochen seines Körpers schien zu schmerzen, aber Unterkiefer und Rippen am allermeisten.
Endlich überwand er sich dazu, ihr ehrlich zu antworten:»Ja, das stimmt wohl.«
Sie hob eine Hand, strich ihr Haar von der Wange zurück.»Wer ist er, Jason?«
Damit hatte sie ihn zum ersten Mal mit seinem Vornamen angesprochen, aber er registrierte diese Tatsache kaum. Im Augenblick bemühte er sich — und scheiterte dabei —, ihr eine Antwort zu geben, die ihn selbst befriedigen würde.
Chan lag ausgestreckt auf der Treppe des Hauses, auf dessen Dach er hinübergesprungen war, und starrte blicklos die nichts sagenden Wände des Treppenhauses an. Er wartete darauf, dass Bourne kommen würde, um ihn zu liquidieren. Oder, das fragte er sich mit der Entschlusslosigkeit eines unter Schock stehenden Mannes, wartete er darauf, dass Annaka Vadas ihre Pistole auf ihn richten und abdrücken würde? Er hätte in seinem Leihwagen sitzen und davonrasen müssen, aber stattdessen lag er hier: reglos wie eine in einem Spinnennetz gefangene Fliege.
Das Wort» hätte «beherrschte seinen auf Hochtouren arbeitenden Verstand. Er hätte Bourne erschießen sollen, als er ihn erstmals im Visier gehabt hatte, aber damals hatte er einen Plan gehabt, der ihm vernünftig erschienen war, den er sorgfältig ausgearbeitet hatte, der ihm — das hatte er damals geglaubt! — das Maximum an Rache bringen würde, auf das er ein Anrecht hatte. Er hätte Bourne im Laderaum des nach Paris startenden Frachtflugzeugs erledigen sollen. Das war natürlich seine Absicht gewesen- genau wie vorhin.
Er hätte sich leicht einreden können, er sei durch An-naka Vadas bei der Ausführung seines Plans gestört worden, aber die erschreckende, unbegreifliche Wahrheit war, dass er seine Chance gehabt hatte, bevor sie auf der Bildfläche erschienen war, und sich dazu entschlossen hatte, sich nicht an Bourne zu rächen.
Weshalb? Das konnte er sich trotz aller Mühe unmöglich erklären.
Sein Verstand, der sonst so unerschütterlich ruhig war, sprang von Erinnerung zu Erinnerung, als finde er die Gegenwart unerträglich. Er erinnerte sich an den Raum, in dem er in den Jahren bei dem vietnamesischen Waffenschmuggler eingesperrt gewesen war, an seinen kurzen Augenblick der Freiheit, bevor der Missionar Richard Wick ihn gerettet hatte. Er erinnerte sich an Wicks
Haus, sein Gefühl von Ungebundenheit und Freiheit, das allmählich erodiert war, und an den schleichenden Horror seiner Zeit bei den Roten Khmer.
Der schlimmste Teil — der Teil, den er zu vergessen versuchte — war jedoch, dass er sich ursprünglich zur Philosophie der Roten Khmer hingezogen gefühlt hatte. Weil die Bewegung von jungen Kambodschanern gegründet worden war, die ihre Ausbildung in Paris genossen hatten, wollte es eine Ironie des Schicksals, dass ihr Ethos auf dem französischen Nihilismus basierte.»Die Vergangenheit bedeutet Tod! Zerstört alles, um eine neue Zukunft zu erschaffen!«Das war das Mantra der Roten Khmer, das gebetsmühlenartig wiederholt wurde, bis diese Wahnvorstellung schließlich alle anderen Gedanken oder Ansichten zermalmt hatte.
Dass ihre Weltsicht anfangs auf Chan — selbst ein unfreiwilliger Flüchtling, verlassen, an den Rand gedrängt —, der nicht aus freien Stücken, sondern durch widrige Umstände zu einem Verlorenen geworden war, anziehend wirken würde, war kaum überraschend. Für Chan war die Vergangenheit gleichbedeutend mit Tod — das bezeugte sein wiederkehrender Albtraum. Aber wenn er erstmals bei den Roten Khmer lernte, wie man zerstörte, dann lag das daran, dass sie zuerst ihn zerstört hatten.
Da sie sich nicht damit zufrieden gegeben hatten, die Geschichte seiner Aussetzung zu glauben, hatten sie ihn langsam seines Lebens und seiner Energie beraubt, indem sie ihn jeden Tag hatten bluten lassen. Sie wollten, so hatte sein Folterer gesagt, alle Erinnerungen aus seinem Verstand tilgen; sie brauchten eine völlig leere Tafel, auf die sie ihre radikale Sicht der Zukunft, die ihnen allen bevorstand, schreiben konnten. Sie ließen ihn zu seinem eigenen Besten zur Ader, behauptete sein lächelnder Folterer, um ihn von den Giftstoffen der Vergangenheit zu reinigen. Jeden Tag las er Chan aus ihrem Manifest vor und zählte danach die Namen der Gegner ihres Rebellenregimes auf, die hingerichtet worden waren. Die meisten kannte Chan natürlich nicht, aber einige — vor allem Mönche sowie ein paar Jungen in seinem Alter — hatte er flüchtig gekannt. Manche dieser Jungen hatten ihn gehänselt und ihm den Mantel des Ausgestoßenen um seine jugendlichen Schultern gehängt. Nach einiger Zeit wurde ein zusätzlicher Punkt auf die Tagesordnung gesetzt: Hatte der Folterer einen bestimmten Abschnitt des Manifests vorgelesen, musste Chan ihn auswendig hersagen. Das tat er mit immer überzeugenderer Stimmge-walt.
Eines Tages las sein Folterer ihm nach der obligaten Rezitation und Chans Wiederholung die Namen derer vor, die kürzlich zur Beförderung der Revolution liquidiert worden waren. Am Schluss der Liste stand Richard Wick, der Missionar, der Chan bei sich aufgenommen hatte, um den Jungen zur Zivilisation und zu Gott zu führen. Welchen Gefühlsaufruhr diese Nachricht bei Chan bewirkte, ließ sich unmöglich schildern, aber die beherrschende Empfindung war ein Gefühl der Verlassenheit. Damit war seine letzte Verbindung zur Außenwelt abgerissen. Nun war er endgültig und völlig allein. In der relativen Abgeschiedenheit der Latrine weinte er, ohne recht zu wissen, warum. Wenn er jemals einen Menschen gehasst hatte, dann war es dieser Mann gewesen, der ihn benützt und emotional im Stich gelassen hatte, und nun beweinte er unerklärlicherweise dessen Tod.
Später an diesem Tag führte sein Folterer ihn aus dem Betonbunker, in dem er seit seiner Gefangennahme festgehalten worden war. Obwohl es aus bleigrauem Himmel stark regnete, blinzelte Chan ins Tageslicht. Das Rad der Zeit hatte sich weitergedreht; die Monsunperiode hatte begonnen.
Im Treppenhaus liegend erkannte Chan jetzt, dass er als Heranwachsender nie über sein eigenes Leben hatte bestimmen können. Das wirklich Eigenartige und Beunruhigende war, dass er das noch immer nicht konnte. Er hatte sich eingebildet, sein eigener Herr zu sein, nachdem er sich große Mühe gegeben hatte, sich in einer Branche zu etablieren, in der man seiner — freilich naiven- Ansicht nach frei und ungebunden agieren konnte.
Wollte er sich jemals von den Ketten befreien, die ihn fesselten, würde er etwas wegen Stepan Spalko unternehmen müssen. Chan wusste, dass er gegen Ende ihres letzten Telefongesprächs unverschämt zu ihm gewesen war, und er bedauerte das jetzt. Mit diesem für ihn so untypischen Wutausbruch hatte er nichts anderes erreicht, als Spalko misstrauisch und wachsam zu machen. Andererseits, das erkannte er nur allzu deutlich, war es mit seiner eiskalten Zurückhaltung vorbei, seit Bourne sich in der Old Town von Alexandria neben ihn auf eine Parkbank gesetzt hatte. Jetzt stiegen Emotionen, die er weder benennen noch verstehen konnte, in ihm an die Oberfläche, wühlten sein Bewusstsein auf und trübten seine Gedanken. Erschrocken wurde ihm klar, dass er in Bezug auf Jason Bourne nicht mehr genau wusste, was er wollte.
Chan setzte sich auf, sah sich um. Er hatte ein Geräusch gehört, das wusste er genau. Er stand auf, legte ei-ne Hand aufs Treppengeländer, spannte fluchtbereit alle Muskeln an. Und dann kam es wieder. Er wandte den Kopf zur Seite. Was war dieses Geräusch? Wo hatte er das schon einmal gehört?
Sein Herz jagte und schlug ihm bis zum Hals, als dieser Ruf im Treppenhaus aufsteigend in seinem Gehirn echote, und nun rief auch er: »Li-Li! Li-Li!«
Aber Li-Li konnte nicht antworten. Li-Li war tot.