Bei Tagesanbruch kam der CIA-Direktor zu einer Besprechung mit Roberta Alonzo-Ortiz, der Nationalen Sicherheitsberaterin, zusammen. Sie trafen sich im Lageraum des Präsidenten, einem kreisförmigen Raum tief unter dem Weißen Haus. Viele Stockwerke über ihnen lagen die holzgetäfelten, wundervoll ausgestatteten Räume, die die meisten Leute mit diesem sagenumwobenen historischen Gebäude in Verbindung brachten, aber hier unten gaben ausschließlich Macht und Muskeln der Pentagon-Oligarchen den Ton an. Wie die großen Tempel der alten Zivilisationen war der Lageraum unter dem Weißen Haus für Jahrhunderte erbaut. Und wie es einem solchen Monument der Unbesiegbarkeit zustand, waren seine Abmessungen einschüchternd.
Alonzo-Ortiz, der CIA-Direktor und ihre engsten Mitarbeiter — sowie einige ausgesuchte Secret-Service-Agenten besprachen zum hundertsten Mal die Sicherheitsmaßnahmen beim Terrorismusgipfel in Reykjavik. Auf einer Projektionsfläche standen detaillierte Grundrisse des Hotels Oskjuhlid — mit Hinweisen zu Ein- und Ausgängen, Treppenhäusern, Aufzügen, Dachluken, Fenstern und dergleichen. Zu dem Hotel bestand eine direkte Videoverbindung, sodass Jamie Hull, der dortige Emissär des Direktors, an der Besprechung teilnehmen konnte.
«Fehler werden definitiv nicht toleriert«, sagte Alonzo-Ortiz gerade. Sie war eine imposante Erscheinung mit ra-benschwarzem Haar und glänzenden, scharfen Augen.»Sämtliche Abläufe dieses Gipfels müssen wie ein Uhrwerk funktionieren«, fuhr sie fort.»Jeder Verstoß gegen Sicherheitsmaßnahmen, und sei er noch so geringfügig, hätte fatale Folgen. Er würde das Ansehen Amerikas in den wichtigsten islamischen Staaten, das der Präsident in den letzten achtzehn Monaten mühsam aufgepäppelt hat, wieder ruinieren. Ihnen brauche ich nicht zu erzählen, dass unter der angeblichen Kooperationsbereitschaft angeborenes Misstrauen gegenüber westlichen Werten, der jüdisch-christlichen Ethik und allem, was sie verkörpert, lauert. Jeder Hinweis darauf, der Präsident könnte die Führer der islamischen Staaten irgendwie getäuscht haben, hätte sofort katastrophale Folgen. «Sie sah sich langsam am Konferenztisch um. Zu ihren besonderen Fähigkeiten gehörte die Gabe, jedem einzelnen Teilnehmer das Gefühl zu vermitteln, sie spreche mit ihm persönlich.»Über eines müssen Sie sich im Klaren sein, Gentlemen. Wir sprechen hier über nichts Geringeres als einen globalen Krieg, einen umfassenden Dschihad, wie wir ihn noch nie erlebt haben und den wir uns vermutlich nicht einmal vorstellen können.«
Sie wollte gerade Jamie Hull das Wort erteilen, als ein schlanker junger Mann den Raum betrat, wortlos zum CIA-Direktor ging und ihm einen zugeklebten Umschlag übergab.
«Entschuldigung, Dr. Alonzo-Ortiz«, sagte er, als er den Umschlag aufriss. Obwohl sein Puls sich verdoppelt hatte, las er den Inhalt mit ausdrucksloser Miene durch. Die Nationale Sicherheitsberaterin konnte es nicht leiden, wenn ihre Besprechungen unterbrochen wurden. Er merkte, dass sie ihn anstarrte, als er seinen Stuhl zurückschob und aufstand.
Alonzo-Ortiz bedachte ihn mit einem so schmallippi-gen Lächeln, dass ihre Lippen nahezu verschwanden.»Sie haben bestimmt gute Gründe, uns so plötzlich zu verlassen?«
«Die habe ich in der Tat, Dr. Alonzo-Ortiz. «Der CIA-Direktor war lange genug im Amt, um selbst beträchtliche Macht zu besitzen; trotzdem hütete er sich davor, eine Konfrontation mit der Frau zu suchen, die zur engsten Vertrauten des Präsidenten aufgestiegen war. Er blieb vorbildlich höflich, obwohl er Roberta Alonzo-Ortiz aus zwei Gründen nicht ausstehen konnte: weil sie ihn in seiner traditionellen Rolle beim Präsidenten verdrängt hatte und weil sie eine Frau war. Deswegen nützte er diese Gelegenheit, ihr wenigstens eine Information vorzuenthalten, die sie brennend interessierte: Weshalb er die Besprechung vorzeitig verlassen musste.
Das Lächeln der Nationalen Sicherheitsberaterin wurde noch eisiger.»Dann wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich ausführlich über die eingetretene Krise informieren würden, sobald Sie dazu in der Lage sind.«
«Selbstverständlich«, sagte der CIA-Direktor, während er sich hastig zurückzog. Als die schwere Tür des Lageraums hinter ihm ins Schloss fiel, fügte er trocken hinzu:»Eure Hoheit. «Darüber musste der Agent, den sein Büro als Boten eingesetzt hatte, laut lachen.
Der Direktor brauchte keine Viertelstunde, um die CIA-Zentrale zu erreichen, in der die versammelten Hauptabteilungsleiter auf seine Ankunft warteten. Das Thema: der Doppelmord an Alexander Conklin und Dr. Morris Panov. Der Hauptverdächtige: Jason Bourne. Diese Herren waren blasse Männer, die tadellos geschnittene konservative Anzüge, Krawatten aus Seidenrips und blank geputzte feste Schuhe trugen. Für sie gab es keine gestreiften Hemden, farbig abgesetzte Kragen oder sonstige vergängliche Moden. Sie waren es gewöhnt, sich innerhalb des Beltways auf den Korridoren der Macht zu bewegen, und sie veränderten sich ebenso wenig wie ihre Kleidung. Sie waren konservative Denker, die von konservativen Colleges kamen; sie stammten aus den richtigen Familien und waren von ihren Vätern frühzeitig bei den richtigen Leuten eingeführt worden, deren Vertrauen sie gewonnen hatten — Führungskräfte mit Energie und Visionen, die wussten, wie man Dinge tatkräftig anpackte. Die Zentrale, in der sie jetzt saßen, war der Mittelpunkt einer eifersüchtig verteidigten geheimen Welt, deren Tentakel jedoch die Erde umspannten.
Sobald der Direktor den Raum betrat, wurde die Beleuchtung gedämpft. Auf der Projektionsfläche erschienen Polizeifotos der Mordopfer am Tatort.
«Um Himmels willen, weg damit!«, rief der Direktor.»Das ist doch obszön. So dürfen wir uns diese Männer nicht ansehen!«
Martin Lindros, der stellvertretende CIA-Direktor, drückte auf einen Knopf und ließ die Bilder verschwinden.»Damit alle auf demselben Stand sind: Seit gestern Abend steht fest, dass der dritte Wagen vor Conklins Haus David Webb gehört. «Er machte eine Pause, als der Alte sich räusperte.
«Nennen wir das Kind doch beim rechten Namen. «Der Direktor beugte sich nach vorn und stemmte beide Fäuste auf die polierte Tischplatte.»Die Welt im Allgemeinen mag diesen… diesen Mann als David Webb kennen, aber hier ist er als Jason Bourne bekannt. Deshalb werden wir nur diesen Namen benützen.«
«Ja, Sir«, sagte Lindros, der sich auf keinen Fall mit dem Direktor, der heute äußerst schlecht gelaunt war, anlegen wollte. Er brauchte kaum in seine Notizen zu sehen, so frisch und deutlich standen ihm die Ermittlungsergebnisse vor Augen.»W… Bourne ist zuletzt auf dem Campus der Georgetown University gesehen worden — ungefähr eine Stunde vor dem Doppelmord. Ein Zeuge hat ihn zu seinem Auto hasten gesehen. Wir können annehmen, dass er direkt zu Alex Conklins Haus gefahren ist. Ungefähr zum Zeitpunkt der Tat war Bourne nachweisbar in dem Haus. Seine Fingerabdrücke sind an einem halb leeren Glas Scotch im Medienraum gefunden worden.«
«Was ist mit dem Revolver?«, fragte der Direktor.»Ist er die Tatwaffe?«
Lindros nickte.»Durch ballistische Untersuchungen eindeutig bestätigt.«
«Und er gehört Bourne, wissen Sie das bestimmt, Martin?«
Lindros suchte eine Fotokopie heraus, ließ sie über den Tisch zu dem Direktor hinübersegeln.»Die Registrierung bestätigt, dass die Tatwaffe einem gewissen David Webb gehört. Unserem David Webb.«
«Verdammt!«Die Hände des Direktors zitterten.»Hat der Scheißkerl seine Fingerabdrücke drangelassen?«
«Die Waffe ist abgewischt worden«, sagte Lindros, in seinen Notizen blätternd.»Die Spurensicherer haben keinen einzigen Abdruck gefunden.«
«So arbeitet ein Profi. «Der CIA-Direktor wirkte plötzlich müde. Es war nicht leicht, einen alten Freund zu verlieren.
«Ja, Sir. Absolut.«
«Und Bourne?«, knurrte der Direktor. Für ihn schien es schmerzlich zu sein, den Namen auch nur auszusprechen.
«In den frühen Morgenstunden haben wir einen Tipp bekommen. Bourne soll sich in einem Motel in Virginia in der Nähe einer der Straßensperren verkrochen haben«, sagte Lindros.»Das Gebiet wurde sofort abgesperrt, ein Einsatzteam zum Motel entsandt. Falls Bourne tatsächlich dort gewesen ist, war er bereits geflüchtet und irgendwie durch die Absperrung gelangt. Im Augenblick ist er spurlos verschwunden.«
«Verdammter Mist!«Der Direktor war rot angelaufen.
Lindros’ Assistent kam schweigend herein und legte ihm ein Blatt Papier hin. Er überflog es, dann sah er auf.»Zuvor hatte ich ein Team zu Webbs Haus entsandt — für den Fall, dass er dort aufkreuzt oder versucht, mit seiner Frau Verbindung aufzunehmen. Das Team hat das Haus abgesperrt und leer vorgefunden. Keine Spur von Bournes Frau oder den beiden Kindern. Spätere Ermittlungen haben ergeben, dass sie in ihrer Schule aufgekreuzt ist und sie ohne weitere Erklärungen aus dem Unterricht geholt hat.«
«Damit ist alles klar!«Der CIA-Direktor schien einem Schlaganfall nahe zu sein.»Er ist uns auf allen Gebieten einen Schritt voraus, weil er diese Morde langfristig geplant hat!«Auf der kurzen, raschen Fahrt nach Langley hatte er zugelassen, dass seine Emotionen die Herrschaft über seinen Verstand eroberten. Alex Conklins Ermordung und Alonzo-Ortiz’ Trickserei hatten bewirkt, dass er schon wütend in diese Besprechung gegangen war. Als er jetzt mit den belastenden Ergebnissen der Spurensicherung konfrontiert wurde, war er gleich bereit, Bourne zu verurteilen.
«Jason Bourne ist durchgedreht. «Der Alte, der weiterhin stand, zitterte jetzt förmlich.»Alexander Conklin war ein bewährter alter Freund. Ich kann nicht einmal andeutungsweise aufzählen, wie oft er seinen Ruf — und sogar sein Leben — für diese Organisation aufs Spiel gesetzt hat. Er war ein wahrer Patriot im schönsten Sinn des Wortes, ein Mann, auf den wir alle mit Recht stolz sind.«
Lindros seinerseits dachte an die vielen Gelegenheiten, bei denen der Alte über Conklin und seine Cowboymethoden, tollkühnen Unternehmen und inoffiziell verfolgten Ziele geschimpft hatte. Die Toten zu preisen war schön und gut, fand er, aber in dieser Branche war es geradezu töricht, gefährliche Neigungen früherer und gegenwärtiger Agenten zu ignorieren. Dazu gehörte natürlich auch Jason Bourne. Als Agent war er eine Art» Schläfer«- die schlimmste Sorte, die nicht ganz unter CIA-Kontrolle stand. In der Vergangenheit war er stets durch die Umstände, und niemals auf eigenen Wunsch aktiviert worden. Lindros, der nur sehr wenig über Jason Bourne wusste, war entschlossen, diese Wissenslücken zu schließen, sobald diese Besprechung zu Ende war.
«Falls Alexander Conklin eine Schwäche oder einen blinden Fleck hatte, dann war es Jason Bourne«, fuhr der CIA-Direktor fort.»Viele Jahre vor der Eheschließung mit seiner jetzigen Frau Marie hat er alle seine Angehörigen — seine thailändische Frau und zwei Kinder — bei einem Luftangriff auf Phnom Penh verloren. Der Mann war vor Kummer und Schuldbewusstsein fast wahnsinnig, als Alex ihn in Saigon aufgegabelt und ausgebildet hat. Auch Jahre später, selbst nachdem Alex Dr. Panov hinzugezogen wurde, hat es noch Schwierigkeiten mit Bourne gegeben — obwohl Dr. Panov in seinen Berichten regelmäßig das Gegenteil behauptet hat. Irgendwie ist auch er unter den Einfluss von Jason Bourne geraten.
Ich habe Alex immer wieder gewarnt, ich habe ihn gebeten, Bourne herzubringen, wo unsere Gerichtspsychiater ihn begutachten sollten, aber er hat sich stets geweigert. Alex, Gott hab ihn selig, konnte schrecklich stur sein; er hat fest an Bourne geglaubt.«
Das Gesicht des Direktors war schweißnass, als er sich mit geweiteten Augen in dem Raum umsah.»Und wozu hat dieser Glaube geführt? Beide Männer sind von dem Kerl, den sie unter Kontrolle zu haben glaubten, wie tolle Hunde abgeknallt worden. Die schlichte Wahrheit lautet, dass Bourne unkontrollierbar ist. Und er ist gefährlich, eine giftige Viper.«
Der Direktor schlug mit der Faust auf den Tisch.»Aber ich lasse nicht zu, dass diese abscheulichen, eiskalt verübten Morde ungesühnt bleiben. Ich werde einen weltweit gültigen Befehl unterzeichnen, der Jason Bournes sofortige Liquidierung anordnet.«
Bourne war inzwischen durchgefroren und zitterte vor Kälte. Er sah auf und richtete den Strahl seiner Stablampe auf das Gitter, durch das die kalte Luft einströmte. Er folgte dem Mittelgang nach vorn, kletterte rechts über die Kisten hinauf, kroch über sie hinweg bis zum Lüftungsgitter. Mit dem Rücken der Klinge des Schnappmessers löste er die Schrauben, die das Gitter hielten. Erstes graues Tageslicht erfüllte den Laderaum. Die Öffnung schien groß genug zu sein, dass ein Mann sich hindurchzwängen konnte. Hoffentlich.
Er nahm die Schultern nach vorn, zwängte sich in die Öffnung und fing an, sich hindurchzuschlängeln. Das klappte einige Handbreit weit, aber dann wurde sein Vorwärtskommen abrupt gestoppt. Er konnte sich nicht mehr bewegen. Er saß fest. Bourne atmete aus, ließ seinen Oberkörper schlaff werden. Er stieß sich mit den Füßen ab. Eine Kiste verrutschte, aber er war ein Stück vorangekommen. Er ließ die Beine sinken, bis seine Füße erneut Halt gefunden hatte, stemmte die Absätze ein, drückte nochmals und bewegte sich wieder. Beharrlich wiederholte er dieses Manöver und gelangte endlich mit Armen, Kopf und Schultern ins Freie. Er sah blinzelnd zu dem rosaroten Morgenhimmel auf, an dem Wattebauschwölkchen ihre Form veränderten, während er unter ihnen hindurchfuhr. Er griff nach oben, bekam die Dachkante des Trailers zu fassen, zog sich aus dem Laderaum und lag nun ausgestreckt auf dem Dach.
An der nächsten roten Ampel sprang er zu Boden und rollte sich über eine Schulter ab, um den Aufprall abzumildern. Er kam wieder auf die Beine, erreichte den Gehsteig und klopfte seine Kleidung ab. Die Straße war menschenleer. Als der Sattelschlepper, in bläulichen Dieselqualm gehüllt, weiterrollte, schickte er dem ahnungslosen Guy einen knappen Gruß nach.
Er befand sich in einem Außenbezirk von D.C. im armen Nordosten. Der Morgenhimmel wurde rasch heller, und die langen Schatten bei Tagesanbruch wichen vor der Sonne zurück. In der Ferne war Verkehrslärm zu hören, in den sich eine Polizeisirene mischte. Er atmete tief durch. Für ihn enthielt die Luft außer städtischem Gestank auch etwas Erfrischendes: das Hochgefühl von Freiheit nach einer langen Nacht, in der er darum gekämpft hatte, nicht entdeckt zu werden und frei zu bleiben.
Er ging weiter, bis er das Flattern verblasster rot-weißblauer Fähnchen sah. Der Gebrauchtwagenhändler würde erst in einigen Stunden öffnen. Bourne betrat den verlassenen Verkaufsplatz, wählte das nächstbeste unauffällige Auto und vertauschte seine Kennzeichen mit denen des Wagens daneben. Er knackte das Türschloss, öffnete die Fahrertür und schloss die Zündung kurz. Im nächsten Augenblick fuhr er vom Verkaufsplatz auf die Straße hinaus.
Er hielt vor einem Schnellimbiss, dessen verchromte Fassade ein Relikt aus den fünfziger Jahren war. Auf dem Dach lockte eine riesige Kaffeetasse, deren Neonröhren längst durchgebrannt waren. Drinnen war es schwülheiß. Der Geruch von Kaffeesatz und Frittierfett hatte sich auf allen Oberflächen festgesetzt. Links befand sich eine lange Resopaltheke, vor der rote Kunstlederhocker mit verchromten Beinen standen; rechts vor den sonnenhellen Fenstern befanden sich Sitznischen — jede mit einer dieser individuellen Musikboxen mit den Titelkärtchen aller Songs, die man für einen Quarter abspielen konnte.
Bournes weiße Haut wurde von den schwarzen Gesichtern, die sich ihm zuwandten, als die Tür sich mit leisem Gebimmel hinter ihm schloss, schweigend registriert. Niemand erwiderte sein Lächeln. Den meisten war er wohl gleichgültig, aber einige, die empfindlicher waren, schienen sein Aufkreuzen für ein schlimmes Omen zu halten.
Er war sich der feindseligen Blicke bewusst, als er in eine der Nischen mit klumpigen Sitzpolstern glitt. Eine Bedienung mit orangeroter Afrofrisur und einem Gesicht wie Eartha Kitt ließ eine Speisekarte mit Fliegendreck auf dem Umschlag vor ihm auf den Tisch fallen und goss ihm dampfend heißen Kaffee ein. Wache, übertrieben stark geschminkte Augen in einem von Sorgen gezeichneten Gesicht betrachteten ihn mit einer Mischung aus Neugier und etwas anderem, das vielleicht Mitgefühl war.»Lass’n Sie die Leute ruhig gaff n, Schätzchen«, sagte sie leise.»Die ham bloß Angst vor Ihn’.«
Bourne aß ein mittelmäßiges Frühstück: Spiegelei, Schinken und Bratkartoffeln, alles mit bitterem Kaffee hinuntergespült. Aber er brauchte Proteine, und das Koffein ließ ihn zumindest vorläufig seine Erschöpfung vergessen.
Die Bedienung goss ihm Kaffee nach, den er mit kleinen Schlucken trank, um die Zeit totzuschlagen, bis das Maßatelier Lincoln Fine Tailors geöffnet haben würde. Aber er war nicht untätig. Er zog den Notizblock, den er aus Conklins Medienraum mitgenommen hatte, aus der Tasche und betrachtete erneut den Abdruck auf dem obersten Blatt: NX 20. Das klang irgendwie experimentell, irgendwie bedrohlich, aber in Wirklichkeit konnte es alles Mögliche, vielleicht nur irgendein neuer Computer sein.
Er sah auf und verfolgte, wie Bewohner dieses Viertels kamen und gingen, wie sie über Sozialhilfeschecks, Drogenbeschaffung, Polizeibrutalität, den plötzlichen Tod von Angehörigen und die Erkrankung von Freunden im Strafvollzug diskutierten. Dies war ihr Leben — ihm fremder als das Leben in Asien oder Mikronesien. Ihr Zorn und ihre Trauer verfinsterten die Atmosphäre in dem Schnellimbiss.
Einmal glitt draußen langsam ein Streifenwagen vorbei wie ein Hai, der ein Riff umkreist. Alle Gäste erstarrten, als habe das Objektiv eines Fotografen diesen be-deutsamen Augenblick eingefangen. Bourne drehte den Kopf zur Seite und sah die Bedienung an. Sie beobachtete, wie die Schlusslichter des Streifenwagens den Block entlang verschwanden. Ein hörbarer Seufzer der Erleichterung ging durch den Raum. Auch Bourne war erleichtert. Er befand sich anscheinend doch in Gesellschaft von Leuten, die wie er allen Grund hatten, im Schatten zu bleiben.
Er dachte wieder an den Mann, der ihn verfolgte. Sein Gesicht hatte einen asiatischen Schnitt, aber doch nicht ganz. Hatte es etwas Vertrautes an sich — der kühne Schwung der Nase, der gar nicht asiatisch war, oder die vollen Lippen, die es sehr wohl waren? War er jemand aus Bournes Vergangenheit, vielleicht aus Vietnam? Aber nein, das war unmöglich. Er schätzte den Unbekannten auf höchstens Ende zwanzig, was bedeutete, dass er zu Bournes Zeit erst fünf oder sechs Jahre alt gewesen war. Wer war er also? Und was wollte er? Diese Fragen bedrückten Bourne. Er stellte seine noch halb volle Tasse ab. Der Kaffee fing an, ihm ein Loch in die Magenwand zu brennen.
Wenig später saß er wieder in dem geklauten Wagen, stellte das Radio an und suchte die Sender ab, bis er einen Nachrichtensprecher fand, der nach einem Bericht über den bevorstehenden Terrorismusgipfel und einer Zusammenfassung wichtiger nationaler Nachrichten die Lokalnachrichten verlas. Ganz oben stand natürlich der Doppelmord an Alex Conklin und Mo Panov, aber seltsamerweise schien es keine neuen Ermittlungsergebnisse zu geben.
«Weitere Nachrichten in Kürze«, sagte der Sprecher,»aber zuvor eine wichtige Mitteilung für Sie.«
«… eine wichtige Mitteilung für dich.« In dieser Sekunde stand ihm das Büro in Paris mit dem Blick auf die Champs-Elysees und den Eiffelturm wieder schlagartig vor Augen, und diese Erinnerung verdrängte den Schnellimbiss mitsamt seinen Gästen. Neben ihm stand ein schokoladebrauner Sessel, aus dem er gerade aufgestanden war. In seiner rechten Hand hielt er ein geschliffenes Kristallglas, das zur Hälfte mit einer bernsteingelben Flüssigkeit gefüllt war. Eine Stimme — tief, volltönend, melodisch — sprach darüber, wie lange es dauern würde, alles zu beschaffen, was Bourne benötigte.»Keine Sorge, mein Freund«, sagte die Stimme in stark akzentgefärbtem Englisch,»ich habe eine wichtige Mitteilung für dich.«
Im Theater seines Verstands drehte Bourne sich um, bemühte sich, das Gesicht des Mannes zu erkennen, der gesprochen hatte, aber er sah nur eine leere Wand. Die Erinnerung hatte sich verflüchtigt wie der Scotchduft und nur Bourne zurückgelassen, der trübselig in die schmutzigen Scheiben des heruntergekommenen Schnellimbisses starrte.
Ein Wutanfall brachte Chan dazu, nach seinem Handy zu greifen und Spalko anzurufen. Das dauerte einige Zeit und kostete ihn viel Mühe, aber zuletzt wurde sein Anruf doch durchgestellt.
«Was verschafft mir diese Ehre, Chan?«, nuschelte Spalko. Chan fiel sofort auf, dass er leicht undeutlich sprach, als habe er getrunken. Seine Kenntnis der Gewohnheiten seines gelegentlichen Auftraggebers reichte tiefer, als Spalko vielleicht vermutet hätte — falls er jemals darüber hätte nachdenken wollen. So wusste er beispielsweise, dass Spalko eine Vorliebe für Alkohol, Ziga-retten und Frauen hatte, jedoch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge, aber allen drei Freuden frönte er unmäßig. Ist er auch nur halb so betrunken, wie du vermutest, sagte Chan sich, bist du im Vorteil. Bei Spalko war das verdammt selten.
«Das Dossier, das Sie mir gegeben haben, scheint unzutreffend oder zumindest unvollständig zu sein.«
«Und wie kommen Sie zu diesem bedauerlichen Schluss?«Die Stimme war augenblicklich hart geworden, als erstarre Wasser zu Eis. Chan erkannte zu spät, dass er sich zu aggressiv ausgedrückt hatte. Spalko mochte ein großer Denker sein — vielleicht sogar ein Visionär, wie er sich zweifellos selbst sah —, aber im Grunde seines Wesens reagierte er meist rein instinktiv. Daher hatte er sich aus halber Betäubung aufgerafft, um Aggression mit Aggression zu begegnen. Er besaß ein aufbrausendes Temperament, das gar nicht zu seinem in der Öffentlichkeit kultivierten Bild passte. Andererseits florierten weite Bereiche seines Egos unter dem rosa Zuckerguss, mit dem sein Alltag überzogen war.
«Webb hat sich eigenartig benommen«, sagte Chan ruhig.
«Oh? In welcher Beziehung?«Spalko sprach wieder nachlässig, leicht undeutlich.
«Er hat sich nicht wie ein Professor verhalten.«
«Ich frage mich, wieso das wichtig ist. Haben Sie ihn denn nicht umgelegt?«
«Noch nicht. «Chan saß in seinem geparkten Wagen und beobachtete einen Bus, der an der Haltestelle auf der anderen Straßenseite hielt. Die Tür öffnete sich zischend, und Leute stiegen aus: ein alter Mann, zwei Jugendliche, eine Mutter mit ihrem kleinen Sohn.
«Also haben Sie Ihren Plan geändert, nehme ich an…?«
«Sie wissen, dass ich erst noch mit ihm spielen wollte.«
«Gewiss, aber wie lange?«
Sie lieferten sich sozusagen ein verbales Duell, in dem so verdeckt wie fieberhaft gekämpft wurde, und Chan konnte nur Vermutungen über die Hintergründe anstellen. Ging es dabei um Webb? Weshalb hatte Spalko beschlossen, Webb den Doppelmord an den Regierungsbeamten Conklin und Panov anzuhängen? Wieso hatte Spalko die beiden überhaupt ermorden lassen? Chan zweifelte keinen Augenblick daran, dass er den Auftrag zu dem Doppelmord gegeben hatte.
«Bis ich so weit bin. Bis er weiß, wer’s auf ihn abgesehen hat.«
Chans Blick folgte der Mutter, als sie ihr Kind auf den Gehsteig stellte. Der Kleine schwankte beim Gehen etwas, worüber sie lachen musste. Er sah zu ihr auf, dann lachte er ebenfalls, weil er ihre Erheiterung imitierte. Sie nahm seine kleine Hand in ihre.
«Sie haben sich die Sache doch nicht anders überlegt, oder?«
Chan glaubte, eine gewisse Anspannung, ein Zittern wie von einem unerbittlichen Vorsatz zu entdecken, und fragte sich plötzlich, ob Spalko überhaupt betrunken war. Er überlegte, ob er fragen sollte, was es für ihn bedeutete, ob er David Webb liquidierte oder nicht. Aber nach kurzem Nachdenken kam er davon ab, weil er fürchtete, dadurch die eigenen Motive preiszugeben.»Nein, ich hab’s mir nicht anders überlegt«, sagte Chan.
«Weil wir im Innersten gleich sind, Sie und ich. Unsere Nüstern blähen sich beim Geruch des Todes.«
Gedankenverloren und weil er nicht recht wusste, was er darauf antworten sollte, klappte Chan sein Handy zu. Er legte eine Hand mit gespreizten Fingern an die Scheibe und beobachtete durch die Zwischenräume, wie die Frau mit ihrem Kleinen die Straße entlangging. Sie machte winzige Schritte und tat ihr Bestes, um ihr Tempo dem schwankenden Gang des Kindes anzupassen.
Spalko belog ihn, das wusste Chan sicher. Genau wie er seinerseits Spalko belogen hatte. Sekundenlang verschwamm sein Blick, und er war wieder im kambodschanischen Dschungel. Er hatte sich ein Jahr lang in der Gewalt eines vietnamesischen Waffenschmugglers befunden, war wie ein Kettenhund angebunden gewesen und hatte wenig zu essen, aber dafür umso mehr Prügel bekommen. Beim dritten Fluchtversuch hatte er seine Lektion gelernt und den im Drogenrausch bewusstlosen Waffenschmuggler mit dem Spaten erschlagen, mit dem er sonst Latrinen ausheben musste. Er hatte sich zehn Tage lang von dem wenigen ernährt, das er finden konnte, bis ihn ein amerikanischer Missionar namens Richard Wick bei sich aufgenommen hatte. Bei ihm hatte er Essen, Kleidung, ein heißes Bad und ein sauberes Bett bekommen. Als Gegenleistung hatte er beim Englischunterricht des Missionars aufgepasst. Sobald er lesen konnte, bekam er eine Bibel, aus der er vieles auswendig lernen musste. In gewisser Weise begann er zu verstehen, dass er sich nach Wicks Ansicht nicht auf dem Weg zur Erlösung, sondern zur Zivilisation befand. Einige Male hatte er versucht, Wick das Wesen des Buddhismus zu erklären, aber er war noch sehr jung, und die Grundsätze, die er als Kleinkind gelernt hatte, klangen nicht sehr überzeugend, wie sie nun aus seinem Mund kamen. Allerdings hätten sie Wick ohnehin nicht interessiert. Er hielt nichts von Religionen, die nicht an Gott und an den Heiland glaubten.
Chan stellte seinen Blick jäh wieder scharf. Die Mutter rührte ihren Kleinen jetzt an der Chromfassade des Schnellimbisses mit der riesigen Kaffeetasse auf dem Dach vorbei. Etwas weiter die Straße entlang konnte Chan den Mann, den er als David Webb kannte, durch das mit Reflexen überzogene Glas einer Autoscheibe sehen. Eines musste er Webb lassen: Er war vom Rand von Conklins Anwesen aus gewiss nicht leicht zu beschatten gewesen. Chan hatte die Gestalt des Beobachters auf der Hügelstraße gesehen. Bis er den Aussichtspunkt erreicht hatte, nachdem er aus Webbs cleverer Falle entkommen war, war der Mann verschwunden gewesen, aber mit seinem IR-Nachtglas hatte Chan verfolgen können, wie Webb den Highway erreichte. So war er zur Verfolgung bereit gewesen, als Webb als Anhalter mitgenommen wurde. Während er ihn jetzt beobachtete, wusste er, was Spalko schon immer gewusst hatte: Webb war ein höchst gefährlicher Mann. Jemandem wie ihm machte es bestimmt keine Sorgen, in einem Schnellimbiss der einzige Weiße zu sein. Er wirkte einsam, obwohl Chan das nicht sicher beurteilen konnte, weil Einsamkeit ihm gänzlich fremd war.
Sein Blick kehrte zu Mutter und Kind zurück. Ihr Lachen drang an sein Ohr, unwirklich wie ein Traum.
Bourne betrat das Maßatelier Lincoln Fine Tailors in Alexandria um fünf nach neun. Das Ladenlokal sah wie fast alle übrigen Geschäfte in der Old Town aus: Es hatte eine Fassade in nachempfundenem Kolonialstil. Bourne überquerte den Klinkergehsteig, stieß die Tür auf und trat ein. Die Ladenfläche wurde durch eine Barriere zweigeteilt, die aus einer hüfthohen Theke links und dem Zuschneidetisch rechts bestand. Die Nähmaschinen standen direkt hinter der Theke und waren mit drei Latinas besetzt, die nicht mal aufsahen, als er hereinkam. Ein dünner Mann in Hemdsärmeln und einer aufgeknöpften gestreiften Weste stand hinter der Theke und starrte stirnrunzelnd auf etwas hinunter. Er hatte eine gewölbte hohe Stirn, eine hellbraune schüttere Haarkrause und ein hageres Gesicht mit schlammigen Augen. Die Brille hatte er hoch auf die Stirnglatze geschoben. Er hatte die Angewohnheit, sich in seine Habichtsnase zu kneifen. Obwohl er nicht auf die Ladentür geachtet hatte, sah er auf, als Bourne an die Theke trat.
«Ja?«, fragte er erwartungsvoll.»Was kann ich für Sie tun?«
«Sie sind Leonard Fine? Ich habe Ihren Namen im Schaufenster gelesen.«
«Der bin ich«, sagte Fine.
«Alex schickt mich.«
Der Schneider blinzelte.»Wer?«
«Alex Conklin«, wiederholte Bourne.»Mein Name ist Jason Bourne. «Er sah sich um. Niemand achtete im Geringsten auf sie. Das Geräusch der Nähmaschinen schien die Luft glitzern und summen zu lassen.
Fine zog sehr bedächtig die Brille auf seinen schmalen Nasensattel herunter. Er starrte Bourne unverhohlen und forschend an.
«Ich bin ein Freund von ihm«, sagte Bourne, der das Gefühl hatte, ihm auf die Sprünge helfen zu müssen.
«Bei uns liegen keine Kleidungsstücke für einen Mr. Conklin.«
«Ich glaube nicht, dass er welche dagelassen hat«, sagte Bourne.
Fine kniff sich in die Nase, als habe er Schmerzen.»Sie sind ein Freund, sagen Sie?«
«Seit vielen Jahren.«
Ohne ein weiteres Wort öffnete Fine die in die Theke eingelassene Klappe, damit Bourne hindurchgehen konnte.»Vielleicht sollten wir das in meinem Büro besprechen. «Er rührte Bourne durch eine Tür und einen staubigen Korridor entlang, auf dem es nach Appretur und Sprühstärke roch.
Das Büro war nichts Besonderes, nur ein Kabuff mit abgetretenem Linoleumboden voller kleiner Löcher, nackten Wasser- und Heizungsrohren vom Boden bis zur Decke, einem verkratzten grünen Stahlschreibtisch, einem Drehstuhl, einem gewöhnlichen Stuhl, zwei billigen Karteischränken und in einer Ecke aufgestapelten Kartons. Von der ganzen Einrichtung stieg wie Dampf ein Geruch von Moder und Schimmel auf. Das quadratische kleine Fenster hinter dem Drehstuhl war so verdreckt, dass die draußen vorbeiführende Gasse kaum zu sehen war.
Fine trat hinter seinen Schreibtisch, zog eine Schublade auf.»Drink?«
«Dafür ist’s noch ein bißchen früh«, sagte Bourne.»Finden Sie nicht auch?«
«Stimmt eigentlich«, murmelte Fine. Er nahm eine Pistole aus der Schublade und zielte damit auf Bournes Bauch.»Die Kugel ist nicht gleich tödlich, aber während Sie verbluten, werden Sie sich wünschen, sie sei’s gewesen.«
«Kein Grund zur Aufregung«, sagte Bourne gelassen.
«Da bin ich anderer Meinung«, widersprach der Schneider. Seine Augen standen so eng zusammen, dass der Eindruck entstand, er schiele leicht.»Conklin ist tot, und wie ich höre, haben Sie ihn umgelegt.«
«Ich war’s nicht«, sagte Bourne.
«Das behauptet ihr alle. Leugnen, leugnen, leugnen. Für den Staatsdienst typisch, nicht wahr?«Fine lächelte schlau.»Nehmen Sie doch Platz, Mr. Webb… oder Bourne… oder wie nennen Sie sich heute…«
Bourne starrte ihn an.»Sie sind bei der Agency.«
«Durchaus nicht. Ich arbeite selbstständig. Falls Alex mich nicht erwähnt hat, bezweifle ich, dass überhaupt jemand in der Agency weiß, dass ich existiere. «Der Schneider grinste zufrieden.»Deswegen ist Alex ja zu mir gekommen.«
Bourne nickte.»Darüber wüsste ich gern mehr.«
«Oh, das glaube ich. «Fine griff nach dem Hörer des Telefons auf dem Schreibtisch.»Aber wenn Ihre Leute Sie erst mal in den Klauen haben, sind Sie so damit beschäftigt, ihre Fragen zu beantworten, dass Ihnen alles andere egal ist.«
«Lassen Sie das!«, sagte Bourne scharf.
Fines Hand mit dem Telefonhörer machte mitten in der Luft Halt.»Sagen Sie mir einen Grund dafür.«
«Ich habe Alex nicht ermordet. Ich versuche rauszukriegen, wer der Täter war.«
«Doch, Sie haben ihn umgelegt. In der Zeitung steht, dass Sie zum Zeitpunkt seiner Ermordung in seinem Haus waren. Haben Sie dort jemand anders gesehen?«
«Nein, aber Mo Panov und Alex waren bereits tot, als ich angekommen bin.«
«Bockmist. Ich frage mich nur, warum Sie ihn ermordet haben. «Fine kniff die Augen zusammen.»Vermutlich wegen Dr. Schiffer.«
«Ich kenne keinen Dr. Schiffer.«
Der Schneider lachte humorlos.»Noch mehr Bockmist. Und Sie wissen vermutlich auch nicht, was die DARPA ist?«
«Natürlich kenne ich die«, sagte Bourne.»Die Abkürzung bedeutet Defense Advanced Research Projects Agency. Ist das die Forschungseinrichtung, bei der Dr. Schiffer arbeitet?«
Fine schüttelte angewidert den Kopf und murmelte:»Jetzt reicht’s. «Als er sekundenlang die Augen abwandte, um eine Nummer einzutippen, stürzte Bourne sich auf ihn.
Der CIA-Direktor saß in seinem geräumigen Eckbüro und telefonierte mit Jamie Hull. Durchs Fenster fiel strahlender Sonnenschein und ließ die Farben des Orientteppichs prächtig aufleuchten, doch das herrliche Farbenspiel blieb ohne Wirkung auf den Direktor. Seine Stimmung war düster. Er betrachtete trübselig die gerahmten Fotos, die ihn mit Präsidenten im Oval Office zeigten, mit ausländischen Spitzenpolitikern in Paris, Berlin und Dakar, Entertainern in L.A. und Las Vegas, Erweckungspredigern in Atlanta und Salt Lake City, absurderweise sogar mit dem Dalai Lama mit seinem ewigen Lächeln und seiner safrangelben Robe bei einem Besuch in New York. Diese Bilder holten ihn jedoch keineswegs aus seiner Depression heraus, sondern ließen ihn im Gegenteil seine Jahre spüren, als seien sie ein mehrschichtiges Kettenhemd, das ihn niederdrückte.
«Das Ganze ist ein gottverdammter Albtraum, Sir«, berichtete Hull aus dem fernen Reykjavik.»Zum Ersten ist die Abstimmung von Sicherheitsmaßnahmen mit Russen und Arabern eine Sisyphusarbeit. Ich meine, die halbe Zeit weiß ich nicht, wovon zum Teufel sie reden, und in der anderen Hälfte der Zeit habe ich meine Zweifel, ob die Dolmetscher — unsere und ihre — genau wiedergeben, was die anderen sagen.«
«Sie hätten in der Schule als Wahlfach Fremdsprachen belegen sollen, Jamie. Arbeiten Sie einfach weiter. Wenn Sie wollen, schicke ich Ihnen andere Dolmetscher.«
«Tatsächlich? Und wo wollen Sie die herkriegen? Wir haben unsere Arabisten alle entlassen, stimmt’s?«
Der CIA-Direktor seufzte. Das war allerdings ein Problem. Fast alle Agenten, die Arabisch konnten, waren als Sympathisanten der islamischen Sache eingestuft worden, weil sie immer heftig mit den Falken debattierten und zu erklären versuchten, wie friedliebend die meisten Islamisten in Wirklichkeit waren. Wie sollte man das den Israelis begreiflich machen?»Übermorgen bekommen wir vom Center for the Study of Intelligence einen ganzen Jahrgang neuer Leute. Ich setze sofort ein paar zu Ihnen in Marsch.«
«Das ist noch nicht alles, Sir.«
Der Direktor machte ein finsteres Gesicht, weil ihn ärgerte dass er im Tonfall des anderen keine Spur von Dankbarkeit hörte.»Was noch?«, knurrte er. Du könntest alle Fotos abhängen, dachte er im Stillen. Würde das die trübselige Atmosphäre im Raum verbessern?
«Ich will nicht jammern, Sir, aber ich tue mein gottverdammt Bestes, um in einem Land, das keine speziellen Bindungen an die Vereinigten Staaten hat, vernünftige Sicherheitsmaßnahmen durchzusetzen. Diese Leute be-kommen keine Wirtschaftshilfe von uns, deshalb sind sie uns nicht verpflichtet. Ich spreche vom Präsidenten, und was tun sie? Sie starren mich ausdruckslos an. Das macht meine Arbeit dreimal so schwierig. Ich handle im Auftrag des mächtigsten Staats der Welt. Ich verstehe mehr von Sicherheit als alle Isländer zusammen. Wo bleibt der Respekt, den ich als.«
Seine Gegensprechanlage summte, und der Alte verbannte Hull mit gewisser Befriedigung in die Warteschleife.»Was gibt’s?«, blaffte er in die Anlage.
«Entschuldigen Sie die Störung«, sagte der Offizier vom Dienst,»aber eben ist unter Mr. Conklins Notfallnummer ein Anruf eingegangen.«
«Was? Alex ist tot. Wissen Sie das bestimmt?«
«Hundertprozentig, Sir. Diese Nummer ist noch nicht wieder vergeben worden.«
«Also gut. Bitte weiter.«
«Ich habe eine kurze Rangelei gehört, und jemand hat einen Namen gesagt. Bourne, glaube ich.«
Der CIA-Direktor setzte sich ruckartig auf. Seine düstere Stimmung verflog so rasch, wie sie gekommen war.»Bourne. ist das der Name, den Sie gehört haben, Sohn?«
«So hat’s jedenfalls geklungen. Und dieselbe Stimme hat irgendwas von >erschießen< gesagt.«
«Wo ist der Anruf hergekommen?«, wollte der Alte wissen.
«Die Verbindung ist abgerissen, aber ich habe die Nummer ermitteln lassen. Sie gehört einem Herrenausstatter hier in Alexandria. Lincoln Fine Tailors.«
«Gut gemacht!«Der Direktor war aufgestanden. Seine Stimme zitterte leicht.»Setzen Sie sofort zwei Agenten-teams in Marsch. Sagen sie ihnen, dass Bourne aufgetaucht ist! Sagen sie ihnen, dass er sofort zu liquidieren ist!«
Bourne hatte Leonard Fine die Pistole entrissen, ohne dass ein Schuss gefallen war. Er stieß ihn so heftig gegen die schmuddelige Wand, dass ein Kalender von seinem Nagel zu Boden fiel. Den Telefonhörer hielt Bourne in der Hand; er hatte eben die Verbindung unterbrochen. Er horchte auf Geräusche aus dem Laden, auf irgendeinen Hinweis darauf, dass die drei Näherinnen auf den kurzen, aber heftigen Kampf aufmerksam geworden waren.
«Sie sind unterwegs«, sagte Fine.»Ihr Spiel ist aus.«
«Das glaube ich nicht. «Bourne dachte angestrengt nach.»Ihr Anruf ist bei der Vermittlung gelandet. Dort kann niemand etwas damit anfangen.«
Fine schüttelte hämisch grinsend den Kopf.»Mein Anruf ist nicht über die Vermittlung, sondern direkt zum Offizier vom Dienst gegangen. Conklin hat darauf bestanden, dass ich diese Nummer auswendig lerne und sie nur im Notfall benütze. «Bourne schüttelte Fine, dass ihm die Zähne klapperten.»Sie Idiot! Was haben Sie getan?«
«Alex Conklin einen letzten Dienst erwiesen.«
«Aber ich habe Ihnen gesagt, dass ich ihn nicht ermordet habe. «In diesem Augenblick fiel Bourne etwas ein. Er unternahm einen verzweifelten letzten Versuch, Fine auf seine Seite zu ziehen und ihn dazu zu bringen, von Conklins Aktivitäten zu erzählen, die vielleicht einen Hinweis auf das Tatmotiv liefern konnten.»Ich kann Ihnen beweisen, dass Alex mich hergeschickt hat.«
«Noch mehr Bockmist«, sagte Fine.»Es ist zu spät, um.«
«Ich weiß von NX 20.«
Fine erstarrte. Sein Gesicht wurde schlaff; seine Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen.»Nein«, sagte er.»Nein, nein, nein!«
«Er hat’s mir erzählt«, sagte Bourne.»Alex hat mir davon erzählt. Darum hat er mich zu Ihnen geschickt, wissen Sie.«
«Niemand hätte Alex dazu zwingen können, von NX 20 zu erzählen. Niemand!«Fines Schock flaute allmählich ab und wurde durch die Erkenntnis abgelöst, dass er einen schweren Fehler gemacht hatte.
Bourne nickte.»Wir waren alte Freunde. Alex und ich haben uns in Vietnam kennen gelernt. Das habe ich Ihnen zu erklären versucht.«
«Großer Gott, ich habe mit ihm telefoniert, als… als es passiert ist. «Fine schlug die Hände vors Gesicht.»Ich hab den Schuss gehört!«
Bourne packte den Schneider vorn an der Weste.»Leonard, reißen Sie sich zusammen. Wir haben keine Zeit für eine Wiederholung.«
Fine starrte ihm ins Gesicht. Wie die meisten Leute hatte er auf seinen Vornamen reagiert.»Ja. «Er führ sich mit der Zungenspitze über die Lippen. So glich er einem Mann, der aus einem Traum erwacht.»Ja, ich verstehe.«
«Die Agency ist in ein paar Minuten hier. Bis dahin muss ich weg sein.«
«Ja, ja. Natürlich. «Fine schüttelte bekümmert den Kopf.»Lassen Sie mich jetzt los. Bitte. «Sobald Bourne ihn losließ, kniete er unter dem Fenster nieder, schob den Heizkörper zur Seite und legte so einen in die Gipswand mit Drahtnetzeinlage eingebauten modernen Safe frei. Er drehte das Zahlenschloss, entriegelte die schwere
Tür, zog sie auf und nahm einen kleinen braunen Umschlag heraus. Nachdem er den Safe wieder geschlossen und den Heizkörper davorgeschoben hatte, stand er auf und gab Bourne den Umschlag.
«Der ist neulich Nacht für Alex abgegeben worden. Er hat mich gestern Morgen angerufen, um danach zu fragen. Er wollte vorbeikommen und ihn abholen.«
«Von wem ist er?«
In diesem Augenblick hörten sie vorn im Laden Stimmen, die in lautem Befehlston sprachen.
«Sie sind da«, sagte Bourne.
«O Gott!«Fines Gesicht war spitz, blutleer.
«Hier muss es einen zweiten Ausgang geben.«
Der Schneider nickte. Er gab Bourne rasche Anweisungen.»Los jetzt!«, sagte er drängend.»Ich halte sie auf, so gut ich kann.«
«Trocknen Sie sich das Gesicht ab«, sagte Bourne; als Fine sich den Schweißfilm abgetupft hatte, nickte er.
Während der Schneider in den Laden zurückhastete, um die CIA-Agenten aufzuhalten, rannte Bourne lautlos den schmutzigen Korridor entlang. Er konnte nur hoffen, dass Fine bei der Befragung nicht gleich zusammenklappen würde; sonst war er erledigt. Der Duschraum mit WC war größer als erwartet. An der linken Wand hing ein altes Keramikwaschbecken, unter dem angebrochene Farbdosen mit zugerosteten Deckeln gestapelt waren. An der Rückwand stand das WC, links daneben war die Duschkabine installiert. Bourne befolgte Fines Anweisungen, trat in die Dusche, entdeckte die schmale Tür in der Kachelwand und zog sie auf. Er schlüpfte hindurch und schloss sie hinter sich.
Dann hob er eine Hand und betätigte den altmodi-schen Zugschalter, um Licht zu machen. Er stand auf einem engen Gang, der sich schon im Nachbarhaus befinden musste. Hier stank es wie auf einer Müllkippe, denn zwischen die rauen Holzstreben waren — vielleicht zur Isolierung — schwarze Müllsäcke gestopft worden. Hier und da hatten Ratten die Plastikfolie aufgebissen, um an den Müll heranzukommen, der nun auf dem Boden verstreut war.
Im schwachen Licht der nackten Glühbirne an der Decke sah Bourne eine grau gestrichene Stahltür, die auf die Gasse hinter der Ladenzeile hinausführte. Als er zu ihr unterwegs war, flog die Tür auf, und zwei Agenten in Anzügen kamen hereingestürmt: mit schussbereiten Waffen, den Blick starr auf ihn gerichtet.