Nachts glich das Parlamentsgebäude in Budapest einem großen ungarischen Bollwerk gegen die wilden Horden, die in der Vergangenheit über das Land hereingebrochen waren. Dem durchschnittlichen Touristen, der wegen der Größe und Schönheit des Bauwerks von Ehrfurcht ergriffen war, erschien es solide, zeitlos, unantastbar. Aber Jason Bourne, der vor kurzem nach anstrengender Reise von Washington, D.C. über Paris in Budapest angekommen war, erschien es nur als ein fantastischer Bau, der geradewegs aus einem Märchenbuch hätte stammen können: ein Gebilde aus überirdisch weißem Stein und blassgrünem Kupfer, das bei einsetzender Dunkelheit jederzeit einstürzen konnte.
Bourne war in trüber Stimmung, als das Taxi ihn am Moszkva ter in der Nähe der beleuchteten Kuppel des Einkaufszentrums Mammut absetzte, in dem er sich neu einkleiden wollte. Als der französische Militärkurier Pierre Montefort war er bei der Einreise an der ungarischen Pass- und Zollkontrolle durchgewinkt worden. Aber er musste seine Uniform, die Robbinet ihm besorgt hatte, loswerden, bevor er im Hotel Danubius als Alex Conklin auftreten konnte.
Er kaufte eine Cordsamthose, ein Baumwollhemd von Sea Island und einen schwarzen Pullover mit rundem Halsausschnitt, schwarze Stiefel mit dünnen Sohlen und eine Bomberjacke aus schwarzem Leder. Während er durch die Geschäfte und die Ladenpassagen mit dem Gedränge der Kauflustigen streifte, absorbierte er allmählich ihre Energie und fühlte sich erstmals seit Tagen wieder als der Alltagsweit zugehörig. Er erkannte, dass sein jäher Stimmungsumschwung daher rührte, dass er das Rätsel Chan gelöst hatte. Natürlich war er nicht Joshua; er war nur ein genialer Hochstapler. Irgendein unbekanntes Wesen — Chan selbst oder seine Auftraggeber —, hatte es auf ihn abgesehen, wollte ihm einen solchen Schrecken einjagen, dass er sich nicht mehr konzentrieren konnte und die Ermordung von Alex Conklin und Mo Panov für belanglos hielt. Konnten sie ihn nicht beseitigen, konnten sie zumindest erreichen, dass er sich mit der vergeblichen Suche nach seinem Phantomsohn verzettelte. Woher Chan oder seine Auftraggeber überhaupt von Joshua wussten, war eine weitere Frage, auf die er eine Antwort suchte. Aber seit er den anfänglichen Schock nun auf ein rationales Problem reduziert hatte, konnte sein überragender logischer Verstand das Problem in seine Bestandteile zerlegen, woraus dann ein Angriffsplan entstehen würde.
Bourne brauchte Informationen, die nur Chan liefern konnte. Er musste den Spieß umdrehen und Chan in eine Falle locken. Der erste Schritt dazu war, dass er Chan wissen ließ, wo er sich aufhielt. Er bezweifelte nicht, dass Chan, der den Bestimmungsort des Frachtflugzeugs gekannt hatte, jetzt in Paris war. Chan konnte sogar von seinem» Unfalltod «auf der Ai gehört haben. Tatsächlich war er nach allem, war Bourne von ihm wusste, genau so ein Chamäleon wie er selbst. An seiner Stelle hätte Bourne als Erstes versucht, Erkundigungen bei der Surete Nationale einzuziehen.
Zwanzig Minuten später verließ Bourne das Einkaufszentrum, nahm ein Taxi, das eben einen Fahrgast absetzte, und stieg nach kurzer Fahrt auf der Margareteninsel vor dem imposanten Säulenportal des Grandhotels Danubius aus. Ein livrierter Türsteher geleitete ihn hinein.
Bourne war in einem Zustand, als hätte er seit einer Woche nicht mehr geschlafen. Er durchquerte die in poliertem Marmor gehaltene Hotelhalle. Am Empfang stellte er sich als Alexander Conklin vor.
«Ah, Mr. Conklin, wir haben Sie erwartet. Einen Augenblick, wenn ich bitten darf.«
Der Angestellte verschwand im Büro hinter der Rezeption. Als er wenig später zurückkam, brachte er den Hoteldirektor mit.
«Willkommen, willkommen! Mein Name ist Hazas, ich stehe zu Ihrer Verfügung. «Dieser Gentleman war klein, untersetzt und schwarzhaarig; er hatte ein Menjoubärtchen und einen wie mit dem Lineal gezogenen Scheitel. Er streckte Bourne eine Hand hin, die warm und trocken war.»Mr. Conklin, es ist mir ein Vergnügen. «Er machte eine Handbewegung.»Folgen Sie mir bitte!«
Er führte Bourne in sein Büro, in dem er einen Wandsafe öffnete und ein Päckchen etwa von der Größe eines Schuhkartons herausnahm, dessen Empfang er sich von Bourne quittieren ließ. Auf dem Packpapier stand: MR. ALEXANDER CONKLIN. WIRD ABGEHOLT. Das Päckchen war nicht frankiert.
«Es ist hier abgegeben worden«, sagte Hazas auf Bournes Frage.
«Von wem?«, fragte Bourne.
Der Hotel direktor breitete die Hände aus.»Tut mir Leid, das weiß ich nicht.«
Bourne empfand jähen Zorn.»Was soll das heißen? Sie wissen es nicht! Das Hotel führt doch bestimmt Buch über von Boten zugestellte Sendungen?«
«Oh, gewiss, Mr. Conklin. Wie auf allen Gebieten nehmen wir es damit sehr genau. Aber in diesem speziellen Fall — und ich weiß nicht, weshalb — scheint es keinerlei Aufzeichnungen zu geben. «Hazas lächelte hoffnungsvoll, während er hilflos mit den Schultern zuckte.
Nach dreitägigem Überlebenskampf, in dem er einen Schock nach dem anderen hatte überwinden müssen, war Bourne mit seiner Geduld am Ende. Zorn und Frustration ließen blinde Wut aufflammen. Er schloss die Tür mit einem Fußtritt, packte Hazas an seinem steif gestärkten Hemd und knallte ihn mit solcher Gewalt an die Wand, dass die Augen des Hoteldirektors aus den Höhlen zu quellen drohten.
«Mr. Mr. Conklin«, stammelte er,»ich habe wirklich keine.«
«Ich will eine Antwort!«, knurrte Bourne.»Und ich will sie sofort!«
Der sichtlich verängstigte kleine Mann war den Tränen nahe.»Aber ich weiß keine. «Seine dicken Finger machter eine flatternde Bewegung.»Da. da liegt die Kladde! Seher Sie selbst nach!«
Er ließ Hazas los, dessen Knie sofort nachgaben, so-dass er die Wand entlang zu Boden rutschte. Bourne ignorierte ihn trat an seinen Schreibtisch und zog die Kladde zu sich heran Er sah Eintragungen in zwei verschiedenen Handschriften — eine krakelig, die andere pedantisch exakt —, vermutlich die Schriften des Tag- und Nachtportiers. Dass er die Eintragungen lesen konnte, weil er aus einem früheren Leben Ungarisch konnte, über-raschte ihn nur wenig. Indem er die Kladde leicht schief ins Licht hielt, suchte er nach radierten Flächen oder anderen Manipulationen. Aber er entdeckte nichts.
Er fuhr herum, packte Hazas, zog ihn vom Fußboden hoch.»Wie erklären Sie sich, dass dieses Päckchen nicht eingetragen wurde?«
«Mr. Conklin, ich war selbst da, als es abgegeben wurde. «Der Hoteldirektor war so erschrocken, dass das Weiße seiner Augen um die Pupillen herum sichtbar war. Er war auffällig blass geworden, und auf seiner Stirn standen Schweißperlen.»Ich hatte Dienst, meine ich. Ich schwöre Ihnen, dass das Päckchen von einem Augenblick zum anderen auf der Empfangstheke gelegen hat. Es ist einfach aufgetaucht. Weder ich noch meine Angestellten haben den Überbringer gesehen. Es war gegen zehn Uhr, wenn die meisten Gäste abreisen und wir immer viel zu tun haben. Das Päckchen muss absichtlich anonym abgegeben worden sein — das ist die einzig logische Erklärung.«
Damit hatte er natürlich Recht. Bournes wilder Zorn verflog so rasch, wie er aufgeflammt war, und er fragte sich, warum er diesen harmlosen kleinen Mann so terrorisiert hatte. Er ließ den Hoteldirektor los.
«Bitte entschuldigen Sie, Herr Hazas. Ich habe einen langen Tag mit schwierigen Verhandlungen hinter mir.«
«Ja, Sir. «Hazas tat sein Bestes, um Jackett und Krawatte ohne Spiegel zurechtzurücken, und behielt Bourne dabei im Auge, als befürchte er jeden Augenblick einen weiteren Angriff.»Natürlich, Sir. Das Geschäftsleben ist für uns alle ein großer Stress. «Er hüstelte, gewann seine Fassung einigermaßen wieder.»Darf ich Ihnen unser Wellness-Bad empfehlen? Nichts stellt das innere Gleich-gewicht schneller wieder her als ein Dampfbad und eine Massage.«
«Sehr freundlich von Ihnen«, sagte Bourne.»Vielleicht später.«
«Das Bad schließt um einundzwanzig Uhr«, sagte Ha-zas, der sichtlich erleichtert war, weil er von diesem Verrückten eine vernünftige Antwort bekommen hatte.»Aber ich brauche nur anzurufen, damit es für Sie länger offen hält.«
«Ein andermal, vielen Dank. Bitte lassen Sie mir Zahnpasta und eine Zahnbürste hinaufschicken. Ich habe meinen Kulturbeutel vergessen«, sagte Bourne beim Hinausgehen.
Sobald Hazas wieder allein war, zog er eine Schublade seines Schreibtischs auf und holte mit grässlich zitternder Hand eine Flasche Schnaps heraus. Als er sich ein Glas einschenkte, verschütterte er etwas Schnaps auf seine Kladde. Aber das kümmerte ihn nicht; er kippte den Schnaps und spürte das wohlige Brennen bis in den Magen hinunter. Nachdem er sich einigermaßen beruhigt hatte, griff er nach dem Telefonhörer und tippte eine Budapester Nummer ein.
«Er ist vor zehn Minuten angekommen«, berichtete er der Stimme am anderen Ende. Er brauchte seinen Namen nicht zu nennen.»Mein Eindruck? Ein Verrückter! Ich kann Ihnen sagen, wie ich das meine. Er hat mich fast erwürgt, weil ich ihm nicht sagen wollte, wer das Päckchen abgeliefert hat.«
Der Telefonhörer wäre ihm beinahe aus den schweißnassen Fingern gerutscht, und er wechselte die Hand. Er schenkte sich noch einen Schnaps ein.
«Natürlich habe ich’s ihm nicht gesagt, und die Zustellung ist nirgends verzeichnet. Dafür habe ich selbst gesorgt. Er hat alles sehr sorgfältig kontrolliert, das muss man ihm lassen. «Hazas hörte einen Augenblick zu.»Er ist in seine Suite hinaufgefahren. Ja, das weiß ich bestimmt.«
Er legte den Hörer auf, dann wählte er ebenso rasch eine weitere Nummer und übermittelte dieselbe Nachricht — diesmal einem anderen, weit schrecklicheren Herrn und Gebieter. Danach sank er in seinen Sessel zurück und schloss die Augen. Gott sei Dank, dass mein Part in dieser Sache damit beendet ist, dachte er.
Bourne fuhr mit dem Aufzug in die oberste Etage hinauf. Mit seiner Magnetkarte ließ sich eine der zweiflügligen Türen aus poliertem Teakholz öffnen, und er betrat eine luxuriös eingerichtete Suite. Vor den Fenstern lag die hundert Jahre alte Parklandschaft als kompakte, dunkle und dicht belaubte Masse. Die Insel war nach Margarete, der Tochter König Belas IV, benannt, die im 13. Jahrhundert hier in einem Dominikanerinnenkloster gelebt hatte, dessen Ruine hell angestrahlt am Ostufer stand. Bourne zog sich bereits aus, als er die Suite durchquerte, und hinterließ auf seinem Weg in das blitzende Luxusbad eine Spur aus Kleidungsstücken. Das Päckchen warf er ungeöffnet aufs Bett.
Er verbrachte zehn beglückende Minuten unter der Dusche, die er so heiß einstellte, wie er es aushalten konnte; dann seifte er sich ein und schrubbte den angesammelten Schmutz und Schweiß von seinem Körper. Dabei tastete er vorsichtig seine Rippen, seine Brustmuskeln ab, um abschätzen zu können, welche Schäden
Chans Angriffe angerichtet hatten. Seine rechte Schulter war sehr druckempfindlich, und er verbrachte weitere zehn Minuten damit, sie behutsam zu dehnen und sanft zu bewegen. Er hatte sie sich fast ausgerenkt, als er die Eisenleiter des Tanklasters gepackt hatte, und sie tat verdammt weh. Vermutlich hatte er eine Bänderzerrung und einen Muskelfaserriss, aber dagegen konnte er im Augenblick nicht mehr tun, als die Schulter möglichst zu schonen.
Nach drei Minuten unter eiskaltem Wasser trat er aus der Dusche und frottierte sich ab. In einem flauschigen Bademantel setzte er sich auf die Bettkante und riss das Päckchen auf. Es enthielt eine Pistole mit zwei vollen Reservemagazinen. Alex, fragte er sich nicht zum ersten Mal, in was warst du um Himmels willen verwickelt?
Er blieb lange sitzen und starrte die Waffe an. Sie wirkte ominös böse, als krieche Finsternis aus ihrem Lauf. Aber dann erkannte Bourne, dass die Finsternis aus den Tiefen seines eigenen Unterbewusstseins heraufstieg. Plötzlich wurde ihm klar, dass seine Realität nicht so aussah, wie er sie sich im Einkaufszentrum Mammut vorgestellt hatte. Sie war nicht nett und ordentlich, nicht rational wie eine mathematische Gleichung. Die reale Welt war chaotisch, Rationalität war nur das System, das die Menschen zufälligen Ereignissen zu oktroyieren versuchten, um sie geordnet erscheinen zu lassen. Sein Wutanfall hatte nicht dem Hoteldirektor gegolten, das erkannte er jetzt ziemlich schockiert, sondern — Chan. Er hatte ihn beschattet, ihm zugesetzt und ihn schließlich reingelegt. Bourne wünschte sich nichts mehr, als dieses Gesicht in den Staub zu drücken, um es aus seiner Erinnerung zu tilgen.
Beim Anblick des Buddhas war vor seinem inneren Auge wieder sein vierjähriger Joshua aufgetaucht. Über Saigon sank der Abend herab, der Himmel war safrangelb und grün-golden. Joshua kam aus dem Haus am Fluss gelaufen, als David Webb aus dem Büro heimkam. Webb schloss den Kleinen in die Arme, schwenkte ihn im Kreis herum und küsste ihn auf die Wangen, obwohl der Junge sich dagegenstemmte. Er ließ sich nie gern von seinem Vater küssen.
Jetzt sah Bourne seinen kleinen Sohn abends im Bett liegen. Zikaden und Baumfrösche ließen ihre Stimmen hören, und die Lichter vorbeifahrender Boote wurden von der Wand gegenüber dem Fenster zurückgeworfen. Joshua hörte zu, als Webb ihm eine Geschichte vorlas. Jeden Samstagmorgen spielte Webb mit Joshua Fangball, wofür er einen Baseball benützte, den er bis aus Amerika mitgebracht hatte. Der Widerschein der Lichter glitt über Joshuas unschuldiges Kindergesicht und ließ es sanft leuchten.
Bourne blinzelte und sah nun gegen seinen Willen den aus Stein geschnittenen kleinen Buddha, den Chan an einer Kette um den Hals trug. Er sprang auf und wischte mit einem gutturalen Schrei, aus dem tiefste Verzweiflung sprach, Tischlampe, Schreibunterlage, Briefmappe und Kristallascher von dem Schreibtisch im Schlafzimmer. Mit zu Fäusten geballten Händen schlug er sich mehrmals an den Kopf. Verzweifelt aufstöhnend sank er auf die Knie und wiegte sich in dieser Haltung vor und zurück. Erst das Klingeln des Telefons brachte ihn wieder zu sich.
Mit brutaler Gewalt zwang er sich dazu, wieder klar zu denken. Das Telefon klingelte weiter, und er empfand einen Augenblick lang den Drang, es klingeln zu lassen. Stattdessen nahm er den Hörer ab.»Hier ist Janos Va-das«, flüsterte eine heisere Raucherstimme.»Matthiaskirche. Mitternacht, keinen Augenblick später. «Dann wurde aufgelegt, bevor Bourne ein Wort sagen konnte.
Als Chan erfuhr, dass Jason Bourne tot war, hatte er das Gefühl, sein Inneres sei nach außen gekehrt worden, so-dass alle seine Nerven für einen Moment der ätzenden Außenluft ausgesetzt waren. Er berührte seine Stirn mit dem Handrücken, war sich sicher, von innen heraus zu verbrennen.
Er war auf dem Flughafen Orly, wo er mit Beamten der Surete Nationale sprach. Informationen von ihnen zu erhalten war lachhaft einfach. Mit einem Presseausweis, den sein Pariser Kontaktmann ihm — für einen unanständig hohen Preis — besorgt hatte, gab Chan sich als Reporter der hiesigen Zeitung Le Monde aus. Allerdings spielte Geld für ihn keine Rolle. Er besaß mehr, als er sinnvoll ausgeben konnte, aber die Warterei auf den Presseausweis hatte ihn nervös gemacht. Als die Minuten zu Stunden wurden, der Nachmittag in den Abend überging, hatte er erkannt, dass er mit seiner berühmten Geduld am Ende war. In dem Augenblick, in dem er David Webb — Jason Bourne — gesehen hatte, war die Zeit umgekrempelt worden: Die Vergangenheit war zur Gegenwart geworden. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, und er spürte seinen Puls in den Schläfen hämmern. Zum wievielten Mal seit seiner ersten Begegnung mit Bourne hatte er das Gefühl, den Verstand zu verlieren? Den absolut schlimmsten Augenblick hatte er durchlitten, als er in der Altstadt von Alexandria neben ihm auf einer Parkbank gesessen und mit ihm gesprochen hatte, als stünde nichts zwischen ihnen, als sei die Vergangenheit eine belanglos gewordene akademische Frage, als gehöre sie zum Leben eines anderen, den Chan sich nur eingebildet hatte. Das Irreale dieses Augenblicks, von dem er jahrelang geträumt, den er herbeigesehnt hatte, hatte ihn aller Substanz beraubt mit dem Gefühl zurückgelassen, alle Nerven seines Körpers seien wund gerieben. Sämtliche Emotionen, die er über Jahre hinweg zu zügeln und zu unterdrücken versucht hatte, hatten rebelliert, waren an die Oberfläche aufgestiegen, hatten Übelkeit verursacht. Und nun hatte ihn diese Nachricht wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Er hatte das Gefühl, als sei die Leere in seinem Inneren, von der er gehofft hatte, sie werde bald ausgefüllt sein, nur noch weiter und tiefer geworden, bis sie ihn ganz zu verschlingen drohte. Er konnte es hier keine Sekunde länger aushalten.
Gerade noch hatte er mit einem Notizblock in der Hand die Pressesprecherin der Surete interviewt; im nächsten Augenblick fühlte er sich in die Vergangenheit, in den vietnamesischen Dschungel zurückversetzt — in das aus Holz und Bambus erbaute Haus des Missionars Richard Wick, des großen, hageren Mannes, der ihn nach seiner Flucht vor dem vietnamesischen Waffenschmuggler, den er ermordet hatte, aus der Wildnis gerettet hatte. Obgleich Wick stets melancholisch wirkte, lachte er gern, und der sanfte Ausdruck seiner braunen Augen kündete von großer Menschenliebe. Wick war ein unerbittlicher Zuchtmeister, wenn es darum ging, aus dem Heidenkind Chan ein Kind Gottes zu machen, aber in der entspannten Atmosphäre des Abendessens und des ruhigen Tagesausklangs war er freundlich und sanft, so-dass er schließlich Chans Vertrauen gewann.
So sehr, dass Chan eines Abends beschloss, Wick sein Leben zu erzählen, ihm seine Seele zu offenbaren, um geheilt zu werden. Chan wünschte sich nichts sehnlicher, als geheilt zu werden: den Abszess herauszuwürgen, der ihn innerlich vergiftete, weil er stetig wuchs. Er wollte seine Wut darüber bekennen, dass sein Vater ihn verlassen hatte; er wollte von ihr befreit werden, denn er hatte in letzter Zeit verstehen gelernt, dass er ein Gefangener seiner extremen Gefühle war.
Er sehnte sich danach, sich Wick anzuvertrauen und ihm den Gefühlsaufruhr zu schildern, der in seinem Inneren tobte, aber die Gelegenheit dazu ergab sich nie. Wick war stets damit ausgelastet, diesem» verlassenen, gottlosen Weltwinkel «das Wort Gottes zu verkünden. Zu diesem Zweck förderte er Bibelkreise, an denen Chan teilnehmen musste. Tatsächlich hatte Wick eine Vorliebe dafür, Chan vor seiner Gruppe aufstehen und auswendig aus der Bibel rezitieren zu lassen, als sei er ein genialischer Idiot, der auf Jahrmärkten für Geld gezeigt wurde.
Chan hasste diese Auftritte, er fühlte sich durch sie ge-demütigt. Seltsamerweise empfand er die Demütigung umso stärker, je stolzer Wick auf ihn zu sein schien. Bis der Missionar eines Tages einen weiteren Jungen ins Haus brachte: das einzige Kind eines tödlich verunglückten Missionarsehepaars. Weil er ein Weißer war, überhäufte Wick ihn mit der Liebe und Fürsorge, nach der Chan sich vergeblich gesehnt hatte — und die ihm, wie er jetzt sah, niemals zuteil werden würde. Trotzdem gingen die grässlichen Litaneien aus der Bibel weiter, während der andere Junge stumm dabeisaß und zuhörte, ohne unter der Demütigung zu leiden, die Chan peinigte.
Er konnte die Tatsache, dass Wick ihn benützte, nie überwinden, und verstand erst an dem Tag, an dem er weglief, die Ungeheuerlichkeit von Wicks Verrat an ihm. Sein Wohltäter, sein Beschützer interessierte sich nicht für ihn, sondern war nur darauf bedacht, einen weiteren Konvertiten zu gewinnen, einen weiteren Wilden der göttlichen Erleuchtung teilhaftig werden zu lassen.
In diesem Augenblick klingelte sein Handy und holte ihn in die schreckliche Gegenwart zurück. Nachdem er mit einem Blick aufs Display festgestellt hatte, von wem der Anruf kam, entschuldigte er sich bei der Pressesprecherin und trat in die betriebsame Anonymität des Terminals hinaus.
«Das nenne ich eine Überraschung«, sagte er ins Handy.
«Wo sind Sie?«, fragte Stepan Spalko knapp, als sei er sehr beschäftigt.
«Flughafen Orly. Ich habe gerade von der Surete erfahren, dass David Webb tot ist.«
«Wirklich?«
«Nach meinen Informationen ist er mit einem Motorrad frontal gegen einen Lastwagen geknallt. «Chan machte eine Pause, wartete auf eine Reaktion.»Sie sind offenbar nicht gerade begeistert, muss ich sagen. Ist das nicht, was Sie wollten?«
«Es ist verfrüht, Webbs Tod zu feiern, Chan«, sagte Spalko trocken.»Mein Kontaktmann an der Rezeption des Grandhotels Danubius hier in Budapest hat mir gemeldet, dass Alexander Conklin eben dort angekommen ist.«
Chan war so schockiert, dass er spürte, dass er weiche
Knie bekam. Er trat an die nächste Wand, lehnte sich dagegen.»Webb?«
«Bestimmt nicht Alex Conklins Geist!«
Zu seinem Verdruss merkte er, dass ihm kalter Schweiß auf der Stirn stand.»Warum sind Sie so sicher, dass er’s ist?«
«Mein Kontaktmann hat ihn mir beschrieben. Ich kenne das Phantombild, das in Umlauf gebracht worden ist.«
Chan knirschte mit den Zähnen. Obwohl er wusste, dass dieses Gespräch wahrscheinlich ein schlimmes Ende nehmen würde, hörte er sich unaufhaltsam weitersprechen.»Sie haben gewusst, dass David Webb mit Jason Bourne identisch ist. Warum haben Sie mir das nicht gesagt?«
«Weil ich keinen Grund dafür gesehen habe«, sagte Spalko gelassen.»Sie haben nach Webb gefragt, und ich habe die gewünschten Informationen geliefert. Es ist nicht meine Gewohnheit, anderer Leute Gedanken zu lesen. Aber ich finde Ihren Unternehmungsgeist lobenswert.«
Chan erlebte einen so starken krampfartigen Hassanfall, dass er sich zittern fühlte. Aber er achtete darauf, weiter ruhig zu sprechen.»Wie lange dürfte Bourne Ihrer Meinung nach brauchen, um seine Hinweise zu Ihnen zurückzuverfolgen, nachdem er nun in Budapest ist?«
«Ich habe bereits Schritte unternommen, um sicherzustellen, dass das nicht passiert«, sagte Spalkos.»Andererseits fällt mir natürlich auf, dass ich mir all diese Mühe hätte sparen können, wenn Sie den Scheißkerl umgelegt hätten, als Sie die Gelegenheit dazu hatten.«
Chan, der diesem Mann misstraute, der ihn belogen und außerdem versucht hatte, ihn als Handlanger zu missbrauchen, spürte einen weiteren Hassanfall wie einen Stich ins Herz. Spalko wollte, dass er Bourne ermordete — aber weshalb? Das würde er herausbekommen müssen, bevor er selbst Rache übte. Als er jetzt weitersprach, hatte er ein wenig von seiner eisigen Selbstbeherrschung eingebüßt, sodass seine Stimme entschieden scharf klang.»Okay, ich lege Bourne um«, sagte er.»Aber das tue ich zu meinen Bedingungen und nach meinem Fahrplan, nicht nach Ihrem.«
Humanistas, Ltd. besaß drei eigene Hangars auf dem Flughafen Ferihegy. In einem davon war ein Lastwagen, der einen Container trug, rückwärts an einen kleinen Jet herangestoßen, dessen silberner Rumpf das Symbol der Hilfsorganisation trug: ein grünes Kreuz mit einer beschützenden Hand. Uniformierte Männer verluden die letzten Waffenkisten in das Geschäftsreiseflugzeug, während Hassan Arsenow den Frachtbrief kontrollierte.
Als er wegging, um mit einem der Uniformierten zu sprechen, wandte Spalko sich an Sina und sagte fast beiläufig:»In einigen Stunden fliege ich nach Kreta. Ich möchte, dass du mich begleitest.«
Sie bekam vor Überraschung große Augen.»Scheich, ich soll mit Hassan nach Tschetschenien zurückkehren, um die letzten Vorbereitungen für unseren Einsatz zu treffen.«
Er hielt ihren Blick fest.»Mit den letzten Vorbereitungen kommt Arsenow auch allein zurecht. Tatsächlich ist er meiner Einschätzung nach besser dran, wenn er nicht durch deine… Nähe abgelenkt wird.«
Sina, die sich von seinem Blick wie aufgespießt fühlte, öffnete leicht den Mund.
«Eines muss unmissverständlich klar sein, Sina. «Spal-ko sah Arsenow zu ihnen zurückkommen.»Ich werde dir nichts befehlen. Die Entscheidung liegt allein bei dir.«
Trotz der Dringlichkeit des Augenblicks sprach er langsam und deutlich, und Sina erfasste die Bedeutung seiner Worte nur allzu gut. Er bot ihr eine Chance — auch wenn sie nicht wusste, wozu —, und ihr war bewusst, dass sie an einem Wendepunkt in ihrem Leben angelangt war. Wofür sie sich auch entschied, ein Zurück würde es nicht geben — das hatte er ihr durch seine nachdrückliche Art unmissverständlich klar gemacht. Die Entscheidung mochte bei ihr liegen, aber sie war sich sicher, dass eine Zurückweisung auf eine noch unbestimmte Weise ihr Ende bedeuten würde. Aber sie wollte gar nicht Nein sagen.
«Ich wollte schon immer mal nach Kreta«, flüsterte sie, bevor Arsenow sie erreichte.
Spalko nickte ihr zu. Dann wandte er sich an den tschetschenischen Terroristenführer.»Alles vollständig?«
Arsenow sah von seinem Schreibbrett auf.»Wie könnte es anders sein, Scheich?«Er sah auf seine Uhr.»Sina und ich fliegen binnen einer Stunde ab.«
«Tatsächlich begleitet Sina die Waffen«, sagte Spalko leichthin.»Die Sendung soll von meinem Fischerboot auf den Färöerinseln übernommen werden. Ich möchte, dass einer von euch beiden die Übergabe und den Weitertransport der Waffen nach Island beaufsichtigt. Du wirst bei deinen Leuten in der Heimat gebraucht. «Er lächelte.»Ich bin überzeugt, dass du Sina ein paar Tage entbehren kannst.«
Arsenow runzelte die Stirn, starrte Sina an, die raffiniert genug war, seinen Blick ausdruckslos zu erwidern, und nickte dann.»Es soll natürlich geschehen, wie du wünschst, Scheich.«
Sina fand es interessant, dass der Scheich Hassan belogen hatte, was seine Absichten in Bezug auf sie betraf. Sie fand sich in der von ihm gewobenen kleinen Verschwörung gefangen: aufgeregt und zugleich nervös vor banger Erwartung. Sie sah den Ausdruck auf Hassans Gesicht und spürte einen kleinen Stich ins Herz, aber dann dachte sie an das Geheimnis, das sie erwartete, und den Honig in der Stimme des Scheichs: In einigen Stunden fliege ich nach Kreta. Ich möchte, dass du mich begleitest.
Neben Sina stehend, streckte Spalko die Hand aus, und Arsenow umfasste nach Kriegerart mit der Linken seinen Unterarm, als er sie ergriff. »La illaha ill Allah.«
«La illaha ill Allah«, erwiderte Arsenow und beugte den Kopf.
«Draußen steht eine Limousine, die dich zum Abflugterminal bringt. Auf Wiedersehen in Reykjavik, mein Freund. «Spalko wandte sich ab, ging zu der Maschine, um kurz mit dem Piloten zu sprechen, und überließ es Sina, sich von ihrem gegenwärtigen Geliebten zu verabschieden.
Chan fühlte sich von ungewohnten Emotionen bedrängt. Als er eine Dreiviertelstunde später darauf wartete, an Bord des Flugzeugs nach Budapest zu gehen, hatte er den Schock über die Nachricht, dass Jason Bourne in Wirklichkeit keineswegs tot war, noch immer nicht überwunden. Er hockte da, hatte seine Ellbogen auf die Knie gestützt, hielt sich den Kopf mit beiden Händen und bemühte sich — jämmerlich vergebens —, die Welt zu verstehen. Für jemanden wie ihn, dessen Vergangenheit jeden Augenblick seiner Gegenwart durchdrang, war es unmöglich, ein Denkschema zu finden, das diese Entwicklung verständlich machte. Die Vergangenheit war ein Rätsel — und seine Erinnerung daran war eine Hure, die den Befehlen seines Unterbewusstseins gehorchte, Tatsachen verzerrte und Ereignisse verkürzte oder ganz ausließ, alles im Dienst des Gifts, das sich in ständig wachsender Menge in ihm ansammelte.
Aber diese Emotionen, die zügellos in seinem Inneren tobten, waren noch zerstörerischer. Er war wütend darüber, dass er Stepan Spalko gebraucht hatte, um zu erfahren, dass Jason Bourne noch lebte. Warum hatte sein normalerweise sehr feiner Instinkt ihn nicht dazu veranlasst, etwas gründlicher nachzuforschen? Wäre ein Agent von Bournes Kaliber frontal gegen einen Lastzug geknallt? Er hatte sich weismachen lassen, die Gerichtsmediziner seien noch dabei, die sterblichen Überreste zu untersuchen, aber die Explosion und der anschließende Brand hätten so wenig übrig gelassen, dass die Identifizierung noch Stunden, vielleicht sogar Tage dauern könne — falls sie überhaupt möglich sei. Er hätte einfach misstrauischer sein müssen. Dies war ein Trick, den er selbst hätte benützen können; tatsächlich hatte er vor drei Jahren, als er eiligst aus den Docks von Singapur hatte verschwinden müssen, eine Variante dieses Tricks benützt.
Aber es gab noch eine weitere Frage, die ihm immer wieder durch den Kopf ging, und obwohl er sich bemühte, sie abzublocken, gelang ihm das nicht. Was hatte er in exakt dem Augenblick empfunden, in dem er erfahren hatte, dass Jason Bourne noch lebte? Freudige Erregung? Angst? Wut? Verzweiflung? Oder eine Kombination aus allen diesen Empfindungen — ein beängstigendes Kaleidoskop, dessen Bilder ständig wechselten?
Er hörte, wie sein Flug aufgerufen wurde, und reihte sich leicht benommen in die Schlange ein, um an Bord zu gehen.
Spalko ging, tief in Gedanken versunken, am Portal der Klinik Eurocenter Bio-I im Gebäude 75 Hattyu utca vorbei. Vermutlich würde Chan Schwierigkeiten machen. Er war ein nützlicher Handlanger, denn es gab niemanden, der Zielpersonen wirkungsvoller liquidierte als er, das stand außer Zweifel, aber auch diese seltene Begabung verblasste vor der Gefahr, die Chan nach Spal-kos Einschätzung zu werden drohte. Genau diese Frage beschäftigte ihn, seit es Chan beim ersten Versuch nicht geschafft hatte, Jason Bourne umzulegen. Das Unnatürliche dieser Situation steckte ihm wie eine Fischgräte im Hals, und er hatte sich seither bemüht, sie herauszuhusten oder zu verschlucken. Aber sie steckte weiter fest und ließ sich nicht entfernen. Seit dem letzten Telefongespräch mit Chan war er sich darüber im Klaren, dass er ohne weitere Verzögerung dafür sorgen musste, seinen ehemaligen Auftragskiller schnellstens zu beseitigen. Er durfte nicht zulassen, dass jemand das bevorstehende Unternehmen in Reykjavik gefährdete. Bourne oder Chan, das machte nun keinen Unterschied mehr. In dieser Beziehung waren beide gleich gefährlich.
Er betrat das Cafe neben dem hässlichen modernen Zweckbau der Klinik. Er lächelte in das farblose Gesicht des Mannes, der jetzt zu ihm aufsah.
«Sorry, Peter«, sagte er, als er an seinem Tisch Platz nahm.
Dr. Peter Sido winkte gelassen ab.»Kein Problem, Stepan. Ich weiß, wie beschäftigt Sie sind.«
«Nicht zu beschäftigt, um Dr. Schiffer aufzuspüren.«
«Gott sei Dank nicht!«Sido löffelte Schlagsahne in seine Kaffeetasse. Er schüttelte den Kopf.»Ehrlich, Stepan, ich weiß nicht, was ich ohne Sie und Ihre Kontakte täte. Als ich entdeckt habe, dass Felix verschwunden ist, bin ich beinahe ausgeflippt.«
«Keine Sorge, Peter. Wir sind jeden Tag näher dran, ihn zu finden. Verlassen Sie sich auf mich.«
«Oh, das tue ich. «Körperlich war Sido in jeder Beziehung unscheinbar: Er war mittelgroß, weder dick noch dünn, und hatte schlammfarbene Augen, die von seiner Nickelbrille unnatürlich vergrößert wurden, und kurzes braunes Haar, das er nicht bewusst zu scheiteln und nur selten zu kämmen schien. Er trug einen an den Ellbogen schon etwas abgewetzten braunen Tweedanzug mit Fischgrätenmuster, ein weißes Hemd und eine braunschwarze Krawatte, die seit mindestens zehn Jahren unmodern war. Er hätte ein kleiner Handelsvertreter oder Bestattungsunternehmer sein können, aber das war er nicht, denn sein unscheinbares Äußeres tarnte einen ganz außergewöhnlichen Verstand.
Spalko beugte sich etwas zu ihm hinüber.»Meine Frage an Sie lautet: Haben Sie das Produkt für mich?«
Diese Frage schien Sido erwartet zu haben, denn er nickte sofort.»Es ist vollständig synthetisiert und steht Ihnen bei Bedarf zur Verfügung.«
«Haben Sie’s mitgebracht?«
«Nur die Probe. Der Rest lagert sicher im Kühlraum der Klinik. Und machen Sie sich wegen der Probe keine Sorgen; sie ist in einem Transportbehälter eingeschlos-sen, den ich selbst konstruiert habe. Das Produkt ist äußerst empfindlich, wissen Sie. Bis zu dem Augenblick, in dem es zum Einsatz kommen soll, muss es bei minus zweiunddreißig Grad gelagert werden. Der von mir konstruierte Behälter hat ein eingebautes Kühlaggregat, das diese Temperatur achtundvierzig Stunden lang hält. «Er legte seinen Aktenkoffer auf den Tisch, klappte ihn auf und holte eine kleine Metallbox heraus, die ungefähr die Größe zweier aufeinandet gelegter Taschenbücher hatte.»Ist das lange genug?«
«Das genügt durchaus, danke. «Spalko griff nach der Box. Sie war schwerer, als sie aussah, was bestimmt auf das Kühlaggregat zurückzuführen war.»Die Probe befindet sich in der von mir angegebenen Phiole?«
«Natürlich. «Sido seufzte leicht.»Ich verstehe noch immer nicht recht, wozu Sie einen so tödlichen Krankheitserreger brauchen.«
Spalko betrachtete ihn einen Augenblick lang nachdenklich. Er zündete sich eine Zigarette an. Er wusste, dass eine zu rasch angebotene Erklärung den Effekt verderben würde, und bei Dr. Peter Sido war Effekt alles. Obwohl er ein Genie war, was die Herstellung von Pathogenen betraf, die sich in der Luft verbreiteten, ließ die soziale Intelligenz des guten Doktors einiges zu wünschen übrig. Darin unterschied er sich nur wenig von anderen Wissenschaftlern mit der Nase in ihren Reagenzgläsern, aber in diesem Fall kam Sidos Naivität Spal-kos Absichten wunderbar entgegen. Er wollte seinen Freund zurückhaben, nur das interessierte ihn, und deshalb achtete er nicht allzu genau auf Spalkos Erklärungen. Sein Gewissen musste beruhigt werden, das war alles.
Endlich sprach Spalko.»Wie ich schon gesagt habe, ist die Anglo-Amerikanische Sonderkommission zur Terrorismusbekämpfung an mich herangetreten.«
«Ist die auch beim Gipfeltreffen nächste Woche vertreten?«
«Natürlich«, log Spalko. Außer der von ihm erfundenen gab es keine Anglo-Amerikanische Sonderkommission zur Terrorismusbekämpfung.»Jedenfalls steht sie vor einem Durchbruch bei der Bekämpfung der Gefahr durch Bioterrorismus, zu dem logischerweise auch Pathogene gehören, die sich in der Luft verbreiten. Sie muss sie testen, daher hat sie sich an mich gewandt — und deshalb haben wir unsere Abmachung getroffen Ich spüre Dr. Schiffer für Sie auf, und Sie liefern mir das Produkt, das die Sonderkommission braucht.«
«Ja, das weiß ich alles. Sie haben mir ja bereits erklärt…«Sido brachte seinen Satz nicht zu Ende. Er spielte nervös mit dem Kaffeelöffel und trommelte damit auf seiner Serviette herum, bis Spalko ihn aufforderte, damit aufzuhören.
«Entschuldigung«, murmelte er und schob seine Brille wieder hoch.»Aber ich verstehe noch immer nicht, was diese Leute mit dem Produkt wollen. Ich meine, Sie haben von einem Test gesprochen.«
Spalko beugte sich nach vorn. Dies war der kritische Augenblick; jetzt kam es darauf an, Sido einzuwickeln. Als er sprach, senkte er vertraulich die Stimme.»Hören Sie mir gut zu, Peter. Ich habe Ihnen schon mehr erzählt, als ich vielleicht hätte erzählen dürfen. Die ganze Sache ist streng geheim, verstehen Sie?«
Sido saß mit hochgezogenen Schultern leicht nach vorn gebeugt da und nickte wortlos.
«Indem ich Ihnen überhaupt etwas erzählt habe, habe ich tatsächlich schon gegen die Geheimhaltungsverpflichtung verstoßen, die ich unterschreiben musste.«
«Ach, du lieber Gott. «Sido wirkte betroffen.»Ich habe Sie in Gefahr gebracht.«
«Machen Sie sich deswegen bitte keine Sorgen, Peter. Mir passiert nichts«, sagte Spalko.»Aber Sie dürfen keinem Menschen etwas davon erzählen, sonst.«
«Oh, das täte ich nie! Niemals!«
Spalko lächelte.»Ich weiß, dass Sie das nie täten. Peter. Ich vertraue Ihnen, das wissen Sie.«
«Und das weiß ich zu würdigen, Stepan. Das wissen Sie auch!«
Spalko musste sich auf die Unterlippe beißen, um nicht laut herauszulachen. Stattdessen setzte er die Farce fort.»Ich weiß nicht, woraus dieser Test besteht, Peter, denn diese Leute haben es mir nicht erklärt«, sagte er so leise, dass der andere sich weit herüberbeugen musste, bis ihre Nasenspitzen sich fast berührten.»Und ich habe lieber nicht gefragt.«
«Natürlich nicht.«
«Aber ich glaube — und das müssen Sie auch —, dass diese Leute ihr Bestes tun, um uns in einer ständig unsicherer werdenden Welt zu beschützen. Letztlich kam es immer auf Vertrauen an, überlegte Spalko sich. Aber damit der Gimpel — in diesem Fall Sido — auf den Leim ging, musste er wissen, dass man ihm sein Vertrauen geschenkt hatte. Danach konnte man ihm den letzten Groschen rauben, und er würde nie vermuten, dass dahinter sein» guter Freund «steckte.»Meiner Überzeugung nach sollten wir die Kommission bei allem, was sie tun muss, nach Kräften unterstützen. Das habe ich ihrem Beauftragten gesagt, als er an mich herangetreten ist.«
«Das hätte ich auch gesagt. «Sido wischte sich Schweißperlen von seiner wenig bemerkenswerten Oberlippe.»Glauben Sie mir, Stepan, wenn Sie auf irgendwas zählen können, dann können Sie darauf zählen.«
Das U.S. Naval Observatory an der Ecke Massachusetts Avenue und 34th Street ist die offizielle Quelle für alle Zeitsignale in den Vereinigten Staaten. Es gehört zu den wenigen Einrichtungen im ganzen Land, in denen der Mond, die Sterne und die Planeten unter ständiger Beobachtung stehen. Das größte Teleskop des Observatoriums ist über 125 Jahre alt und noch immer in Gebrauch. Mit diesem Spiegelteleskop entdeckte Dr. Asaph Hall im Jahr 1877 die beiden Marsmonde. Niemand weiß, weshalb er sich dafür entschied, sie Deimos (Sorge) und Phobos (Angst) zu nennen, aber der CIA-Diektor wusste, dass er sich zum Observatorium hingezogen fühlte, wenn ihn seine Melancholie fast greifbar dick einhüllte. Deshalb hatte er sich tief im Inneren des Gebäudes, nicht weit von Dr. Halls Teleskop entfernt, ein kleines Büro einrichten lassen.
Dort traf Martin Lindros ihn in einer Videokonferenz mit Jamie Hull an, der für die US-Sicherheitsmaßnah-men in Reykjavik zuständig war.
«Fahd al-Sa’ud macht mir keine Sorgen«, sagte Hull gerade mit seiner ziemlich hochmütigen Stimme.»Die Araber haben keinen blassen Schimmer von heutigen Sicherheitsmaßnahmen, deshalb überlassen Sie sich bereitwillig unserer Führung. «Er schüttelte den Kopf.»Aber der Russe, dieser Boris Iljitsch Karpow, geht mir verdammt auf die Nerven. Er kritisiert grundsätzlich alles. Sage ich weiß, sagt er schwarz. Ich glaube, das macht dem Scheißkerl echt Spaß!«
«Soll das heißen, dass Sie mit einem einzigen gottverdammten russischen Sicherheitsbeamten nicht fertig werden, Jamie?«
«Ah, wie bitte?«In Hulls blaue Augen trat ein verblüffter Ausdruck, sein rötlicher Schnurrbart zitterte leicht.»Nein, Sir. Durchaus nicht.«
«Sonst würde ich Sie nämlich auf der Stelle ablösen lassen. «Die Stimme des Direktors klang grausam scharf.
«Nicht nötig, Sir.«
«Und das tue ich, wenn’s nötig ist. Ich habe keine Lust, mich mit diesem Scheiß…«
«Nicht nötig, Sir«, versicherte Hull ihm hastig.»Ich bekomme Karpow unter Kontrolle.«
«Das will ich auch hoffen. «Lindros hörte die plötzliche Mattigkeit in der Stimme des alten Kriegers und hoffte, dass Jamie sie in der elektronischen Übermittlung nicht entdecken würde.»Vor, während und nach dem Besuch des Präsidenten brauchen wir eine geschlossene Front. Ist das klar?«
«Ja, Sir.«
«Jason Bourne hat sich nicht blicken lassen, was?«
«Bisher nicht, Sir. Und glauben Sie mir, wir sind besonders wachsam gewesen.«
Lindros erkannte, dass der Direktor alle Informationen erhalten hatte, die er im Augenblick brauchte, und räusperte sich dezent.
«Jamie, mein nächster Besucher ist da«, sagte der CIA-Direktor, ohne sich umzudrehen.»Ich melde mich morgen wieder. «Er schaltete die Kamera aus, blieb mit aneinander gelegten Händen sitzen und starrte ein großes Farbfoto an, das den Mars und seine beiden unbewohnbaren Monde zeigte.
Lindros hängte seinen Regenmantel auf und setzte sich dem Boss gegenüber. Der Raum, den der CIA-Direktor sich ausgesucht hatte, war klein, eng und selbst mitten im Winter überheizt. An einer Wand hing ein Porträt des Präsidenten. Gegenüber befand sich das einzige Fenster, vor dem hohe Tannen aufragten: schwarz und weiß — alle Einzelheiten wurden durch die aus Sicherheitsgründen installierten starken Scheinwerfer überstrahlt.»Gute Nachrichten aus Paris«, sagte er.»Jason Bourne ist tot.«
Der Direktor hob ruckartig den Kopf. Seine Gesichtszüge, die eben noch schlaff gewesen waren, wirkten plötzlich belebt.»Sie haben ihn erwischt? Wie? Hoffentlich ist er unter Schmerzen gestorben!«
«Höchstwahrscheinlich, Sir. Er ist bei einem Verkehrsunfall auf der Ai knapp nordwestlich von Paris umgekommen. Sein Motorrad ist frontal mit einem Sattelschlepper zusammengestoßen. Eine Surete-Agentin war Augenzeugin.«
«Mein Gott«, flüsterte der Direktor.»Nichts übrig außer einer Ölspur. «Er runzelte die Stirn.»Dass er’s war, steht außer Zweifel?«
«Bis er eindeutig identifiziert ist, bleiben immer Zweifel«, sagte Lindros.»Wir haben Bournes Zahnschema und eine DNA-Probe übermittelt, aber die französischen Stellen sagen, dass es eine Explosion mit anschließendem Brand gegeben hat, der vielleicht sogar alle Knochen vernichtet hat. Jedenfalls werden sie ein bis zwei Tage brauchen, um den Unfallort unter die Lupe zunehmen. Sie haben mir zugesichert, mich sofort zu informieren, wenn es neue Erkenntnisse gibt.«
Der CIA-Direktor nickte.
«Und Jacques Robbinet ist unverletzt«, fügte Lindros hinzu.
«Wer?«
«Der französische Kulturminister, Sir. Er war ein Freund Conklins, hat früher für ihn gearbeitet. Wir haben befürchtet, Bourne könnte es als Nächstes auf ihn abgesehen haben.«
Die beiden Männer saßen ganz still. Der Blick des Direktors war nach innen gerichtet. Vielleicht dachte er an Alex Conklin, vielleicht dachte er über die Rolle nach, die Sorge und Angst im modernen Leben spielten, und fragte sich, wie Dr. Hall das hatte voraussehen können. Er selbst war in der irrigen Annahme zum Geheimdienst gegangen, diese Arbeit könne seine angeborenen Angstzustände lindern. Und trotzdem hatte er nie daran gedacht, diesen Beruf aufzugeben. Er konnte sich kein Leben ohne ihn vorstellen; sein ganzes Wesen wurde dadurch definiert, was er war und was er in der für Zivilisten unsichtbaren Welt der Geheimdienste leistete.
«Sir, es ist spät, wenn ich das sagen darf.«
Der Direktor seufzte.»Erzählen Sie mir etwas, das ich nicht weiß, Martin.«
«Ich denke, Sie sollten zu Madeleine heimfahren«, sagte Lindros halblaut.
Sein Boss rieb sich die Stirn. Er war plötzlich sehr müde.»Maddy ist bei ihrer Schwester in Phoenix. Das Haus ist heute Abend dunkel.«
«Sie sollten trotzdem heimfahren.«
Als Lindros aufstand, sah der Direktor zu ihm auf.»Hören Sie, Martin, Sie glauben vielleicht, der Fall Bourne sei abgeschlossen, aber das ist er nicht.«
Lindros war dabei, seinen Regenmantel anzuziehen; jetzt hielt er inne.»Das verstehe ich nicht, Sir.«
«Bourne mag tot sein, aber in den letzten Stunden seines Lebens hat er uns gründlich zum Narren gehalten.«
«Sir.«
«Er hat uns vorgeführt. Das dürfen wir nicht auf uns sitzen lassen. Heutzutage wird einfach zu viel geschnüf-felt. Und wo geschnüffelt wird, werden peinliche Fragen gestellt, und wenn solche Fragen nicht gleich beantwortet werden, haben sie unweigerlich schlimme Konsequenzen. «Die Augen des CIA-Direktors glitzerten.»Uns fehlt nur ein wichtiges Element, damit wir diese betrübliche Episode abschließen und auf den Müllhaufen der Geschichte werfen können.«
«Und das wäre, Sir?«
«Wir brauchen einen Sündenbock, Martin — jemanden, an dem die ganze Scheiße hängen bleibt, während wir wie Rosenknospen im Mai duften. «Er starrte seinen Stellvertreter durchdringend an.»Haben Sie jemanden, der sich für diese Rolle eignet, Martin?«
Lindros hatte das Gefühl, in seinem Magen bilde sich ein Eisklumpen.
«Los, los, Martin!«, drängte der Direktor scharf.»Reden Sie schon!«
Aber Lindros starrte ihn weiter stumm an. Seine Stimme schien ihm den Dienst zu versagen.
«Klar haben Sie jemanden, Martin«, knurrte sein Boss.
«Das macht Ihnen Spaß, stimmt’s?«
Diese Beschuldigung ließ den Direktor innerlich zusammenzucken. Nicht zum ersten Mal war er froh, dass seine Söhne nicht in dieser Branche waren, in der er sie hätte decken müssen. Niemand würde ihn übertreffen;
dafür würde er sorgen.»Wenn Sie den Namen nicht sagen wollen, sage ich ihn: Detective Harris.«
«Das dürfen wir ihm nicht antun«, sagte Lindros mit gepresster Stimme. Er fühlte Zorn in sich aufwallen, wie Kohlensäure in einer eben aufgerissenen Getränkedose aufsteigt.
«Wir? Wer hat irgendwas von >wir< gesagt, Martin? Dies war Ihr Fall. Das habe ich von Anfang an klar gemacht. Jetzt bleibt’s ganz Ihnen überlassen, Schuldzuweisungen vorzunehmen.«
«Aber Harris hat nichts falsch gemacht.«
Der Direktor zog die Augenbrauen hoch.»Das bezweifle ich sehr, aber wen kümmert das, selbst wenn’s wahr wäre?«
«Mich kümmert’s, Sir.«
«Auch gut, Martin. Dann sind Sie sicher bereit, die Verantwortung für die Pleiten in der Old Town und am Washington Circle zu übernehmen.«
Lindros presste die Lippen zusammen.»Ist das die Wahl, die mir bleibt?«
«Ich sehe keine andere — Sie etwa? Das Hexenweib legt’s darauf an, mir sein Pfund Fleisch aus den Rippen zu schneiden. Muss ich jemanden opfern, wäre mir ein ältlicher Kriminalbeamter der Virginia State Police verdammt viel lieber als mein eigener Stellvertreter. Welches Licht würde es auf mich werfen, wenn Sie sich in Ihr Schwert stürzen, Martin?«
«Jesus«, sagte Lindros vor Wut kochend,»wie zum Teufel haben Sie es bloß geschafft, in dieser Schlangengrube so lange zu überleben?«
Der CIA-Direktor stand auf und zog seinen Mantel an.»Worauf führen Sie das zurück?«
Bourne erreichte den gotischen Steinbau der Matthiaskirche um 23.40 Uhr. Die folgenden zwanzig Minuten verbrachte er damit, die Umgebung der Kirche zu erkunden. Die Luft war still und kühl, der Nachthimmel klar. Aber am Horizont im Westen stand eine dunkle Wolkenwand, und der auffrischende Wind brachte feuchten Regengeruch mit. Zwischendurch weckten einzelne Laute oder Gerüche Teile seiner verschütteten Erinnerungen. Er wusste bestimmt, dass er schon einmal hier gewesen war, konnte sich aber nicht erinnern, wann und mit welchem Auftrag das gewesen war. Als er wieder die Leere aus Verlustgefühl und Sehnsucht empfand, dachte er so intensiv an Alex und Mo, dass er sie in diesem Augenblick fast hätte heraufbeschwören können.
Mit einer Grimasse setzte er seine Arbeit fort, kontrollierte die Umgebung der Kirche und vergewisserte sich so gut wie irgend möglich, dass der Treffpunkt nicht unter feindlicher Überwachung stand.
Als es Mitternacht schlug, näherte er sich der gewaltigen Südfassade der Matthiaskirche mit ihrem achtzig Meter hohen gotischen Steinturm, der mit Wasserspeiern überladen war. Auf der untersten Stufe der zum Portal hinaufführenden Treppe stand eine junge Frau. Sie war groß, schlank und auffallend schön. Ihr langes rotes Har leuchtete im Licht der Straßenlaternen. Hinter ihr, über dem Portal, befand sich ein Relief aus dem 14. Jahrhundert, das die Jungfrau Maria zeigte. Die junge Frau wollte seinen Namen wissen.
«Alex Conklin«, antwortete er.
«Ihren Pass, bitte«, sagte sie so energisch wie eine Kontrolleurin auf dem Flughafen.
Er gab ihn ihr und beobachtete, wie sie ihn durchblätterte und das Papier zwischen Daumen und Zeigefinger prüfte. Sie hatte interessante Hände: schmal, langfingrig, kräftig, mit kurz geschnittenen Nägeln. Die Hände einer Musikerin. Er schätzte sie auf höchstens Mitte dreißig.
«Woher weiß ich, dass Sie wirklich Alexander Conklin sind?«, fragte sie.
«Was weiß man schon gewiss?«, erkundigte Bourne sich.»Man muss daran glauben.«
Die Frau schnaubte.»Wie heißen Sie mit Vornamen?«
«Der steht vorn im Pass.«
Sie schüttelte den Kopf.»Ich meine Ihren wirklichen Vornamen. Den Sie bei Ihrer Geburt bekommen haben.«
«Alexej«, sagte Bourne, dem einfiel, dass Conklins Eltern aus Russland eingewandert waren.
Die junge Frau nickte. Sie hatte ein gut geschnittenes Gesicht, in dem große grüne ungarische Augen dominierten, eine schmale Nase und volle, schön geschwungene Lippen. Sie zeigte eine gewisse steife Förmlichkeit, die jedoch mit einer Fin-de-siecle-Ausstrahlung kombiniert war, die unterschwellig und reizvoll an ein harmloseres Jahrhundert erinnerte, in dem das Unausgesprochene oft wichtiger gewesen war als das offen Gesagte.»Willkommen in Budapest, Mr. Conklin. Ich bin Anna-ka Vadas. «Sie hob einen wohl geformten Arm, machte eine einladende Bewegung.»Bitte kommen Sie mit.«
Sie führte ihn über den Platz vor der Kirche und um die nächste Ecke. Die Gasse war so schlecht beleuchtet, dass die mit schweren Eisenbändern beschlagene Holztür kaum zu erkennen war. Die junge Frau nahm eine kleine Stablampe aus ihrer Umhängetasche und schaltete sie ein. Sie lieferte einen blendend hellen Lichtstrahl. Dann steckte sie einen altmodischen Bartschlüssel ins Schloss und drehte ihn erst in eine Richtung, dann in die andere. Die Tür öffnete sich knarrend» Mein Vater erwartet Sie bereits«, sagte sie. Sie betraten den riesigen Innenraum der Matthiaskirche. Im schwankenden Lichtstrahl der Stablampe konnte Bourne sehen, dass die verputzten Wände farbig bemalt waren. Die Fresken stellten Szenen aus dem Leben ungarischer Heiliger dar.
«Im Jahr 1541 wurde Buda von den Türken erobert, und diese Kirche diente hundertfünfzig Jahre als Hauptmoschee der Stadt«, sagte sie, während sie den Lichtstrahl über die Fresken gleiten ließ.»Die Türken räumten sie leer und übermalten die herrlichen Fresken. Aber jetzt ist alles so wiederhergestellt, wie es im dreizehnten Jahrhundert war.«
Vor ihnen sah Bourne einen schwachen Lichtschein. Annaka führte ihn in den aus mehreren Kapellen bestehenden Nordteil der Kirche. In der Kapelle neben der Kanzel standen die genau parallel ausgerichteten Sarkophage des ungarischen Königs Bela III. aus dem zehnten Jahrhundert und seiner Gemahlin Anne de Chatillon. In der ehemaligen Krypta stand unter einer Reihe geschnitzter Holzfiguren aus dem Mittelalter eine Gestalt im Halbdunkel.
Janos Vadas streckte die Rechte aus. Als Bourne sie ergreifen wollte, tauchten drei finster dreinblickende Männer aus den Schatten auf. Bourne zog blitzschnell seine Pistole. Aber Vadas lächelte nur.
«Sehen Sie sich den Schlagbolzen an, Mr. Bourne. Glauben Sie etwa, wir hätten eine funktionierende Waffe für Sie hinterlegt?«
Bourne sah, dass Annaka mit einer Pistole auf ihn zielte.
«Alexej Conklin war ein alter Freund von mir, Mr.
Bourne. Und Ihr Gesicht war oft genug im Fernsehen. «Er hatte den wachsamen Gesichtsausdruck eines Jägers, dunkel und mit dichten Augenbrauen, einem energischen Kinn und glitzernden Augen. In seiner Jugend hatte er einen in der Stirnmitte spitz zulaufenden Haaransatz gehabt, aber jetzt, Mitte sechzig, hatte er eine Stirnglatze, die in Gegenrichtung ausgriff.»Sie haben offenbar Alexej und einen weiteren Mann — einen Dr. Panov, glaube ich — ermordet. Allein wegen Alexejs Tod könnte ich Sie auf der Stelle umlegen lassen.«
«Für mich war er ein alter Freund, sogar mein Mentor.«
Vadas machte ein trauriges, resigniertes Gesicht.»Und Sie haben sich gegen ihn gewandt, weil Sie’s wie alle anderen auf das abgesehen haben, was Felix Schiffer in seinem Kopf hat.«
«Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«
«Nein, natürlich nicht«, sagte Vadas ziemlich skeptisch.
«Woher habe ich Ihrer Meinung nach Alex’ richtigen Namen gewusst? Alexej und Mo Panov waren meine Freunde.«
«Also wäre der Mord an den beiden die Tat eines Verrückten gewesen.«
«Genau.«
«Herr Hazas ist der Überzeugung, dass Sie unzurechnungsfähig sind«, sagte Vadas gelassen.»Sie erinnern sich an den Hoteldirektor, den Sie fast zu Brei geschlagen haben? Er hat Sie als Verrückten bezeichnet, glaube ich.«
«Von ihm haben Sie also gewusst, wo Sie mich anrufen konnten«, sagte Bourne.»Ich habe ihn vielleicht etwas zu hart angefasst, aber ich wusste, dass er lügt.«
«Er hat für mich gelogen«, sagte Vadas mit unverkennbarem Stolz.
Während Annaka und die drei Männer ihn wachsam beobachteten, trat Bourne auf Vadas zu und hielt ihm die unbrauchbare Pistole hin. Als Vadas danach griff, riss Bourne ihn zu sich heran. Im selben Augenblick zog er seine Keramikpistole und drückte sie an Vadas’ Schläfe.»Glauben Sie wirklich, dass ich eine fremde Waffe benützen würde, ohne sie vorher zu überprüfen?«
Er wandte sich an Annaka und sagte mit ruhiger, nüchterner Stimme:»Legen Sie die Pistole auf den Boden, wenn Sie nicht wollen, dass das Gehirn Ihres Vaters über fünf Jahrhunderte Geschichte verspritzt wird. Sehen Sie ihn nicht an; tun Sie einfach nur, was ich sage.«
Annaka legte ihre Waffe auf den Fußboden.
«Befördern Sie sie mit dem Fuß zu mir her.«
Sie tat wie geheißen.
Keiner der drei Männer hatte eine Bewegung gemacht, und nun würden sie nicht mehr angreifen. Trotzdem behielt Bourne sie für alle Fälle im Auge. Er nahm die Mündung von Vadas’ Schläfe, ließ ihn los.
«Ich hätte Sie erschießen können, wenn ich das gewollt hätte.«
«Und dann hätte ich Sie umgelegt«, sagte Annaka wild entschlossen.
«Sie hätten’s bestimmt versucht«, sagte Bourne. Er hielt die Keramikpistole so, dass Vadas’ Männer und sie merkten, dass er nicht die Absicht hatte, sie zu benützen.»Aber das wäre feindselig gehandelt. Um das zu tun, müssten wir Feinde sein. «Er hob Annakas Pistole auf und hielt sie ihr mit dem Griff voraus hin.
Sie griff wortlos danach und zielte sofort wieder auf ihn.
«Was haben Sie aus Ihrer Tochter gemacht, Herr Va-das? Sie würde für Sie töten, ja, aber ich habe den Eindruck, dass sie zu impulsiv und ohne ausreichenden Grund handelt.«
Vadas trat zwischen Bourne und seine Tochter, drückte ihre Waffe mit einer Hand herunter.»Ich habe schon genügend Feinde, Annaka«, sagte er leise.
Annaka steckte die Pistole weg, aber Bourne sah in ihrem Blick weiter Feindseligkeit blitzen.
Vadas wandte sich an Bourne.»Hätten Sie Alexej ermordet, wäre das zweifellos die Tat eines Verrückten gewesen. Und trotzdem scheinen Sie das genaue Gegenteil eines Wahnsinnigen zu sein.«
«Man hat die Morde mir angehängt, damit der wahre Täter auf freiem Fuß bleiben konnte.«
«Interessant. Weshalb?«
«Um das rauszukriegen, bin ich hergekommen.«
Vadas starrte Bourne an. Dann sah er sich um, hob die Arme.»Wäre Alexej am Leben geblieben, hätte ich mich hier mit ihm getroffen, wissen Sie. Diese Kirche ist für uns Ungarn von großer geschichtlicher Bedeutung. Im frühen vierzehnten Jahrhundert hat hier Budas erste Pfarrkirche gestanden. Die riesige Orgel auf der Empore hat bei beiden Hochzeiten König Matthias’ gespielt. Die beiden letzten ungarischen Könige, Franz Joseph I. und Karl IV, wurden hier gekrönt. Ja, dies ist geschichtsträchtiger Boden, und Alexej und ich wollten hier Geschichte machen.«
«Mit Hilfe von Dr. Felix Schiffer, stimmt’s?«, fragte Bourne.
Vadas hatte keine Zeit mehr, seine Frage zu beantworten. Im nächsten Augenblick hallte ein Schuss durch den weiten Kirchenraum, und er taumelte mit hochgerisse-nen Armen rückwärts. Blut sickerte aus einer Einschusswunde mitten in seiner Stirn. Bourne stürzte sich auf Annaka, begrub sie auf dem Marmorboden unter sich. Vadas’ Männer warfen sich herum, liefen auseinander und begannen zu schießen, während sie in Deckung flüchteten. Einer von ihnen wurde sofort getroffen: Er schlitterte über den Steinboden und war tot, bevor er aufschlug. Der zweite Mann erreichte den Rand einer Bankreihe und bemühte sich verzweifelt, hinter sie zu gelangen, als auch er von einer Kugel in die Wirbelsäule gefällt wurde. Er bäumte sich auf, und sein Revolver krachte zu Boden.
Von dem dritten Mann, der eben in Deckung ging, sah Bourne zu Vadas hinüber, der in einer größer werdenden Blutlache auf dem Rücken lag. Er bewegte sich nicht mehr, sein Brustkorb ließ keine Atmung mehr erkennen. Weitere Schüsse lenkten Bournes Aufmerksamkeit wieder auf den dritten Mann, der sich jetzt aus geduckter Haltung erhob und mehrmals in Richtung Orgelempore schoss. Plötzlich warf er den Kopf zurück und breitete die Arme weit als, während ein Blutfleck auf seiner Brust sich rasch vergrößerte. Er griff sich noch an die Wunde, verdrehte aber bereits die Augen nach oben.
Bourne blickte zu der düsteren Empore auf, glaubte einen noch dunkleren Schatten zu erkennen, griff sich die Pistole des ersten Mannes und drückte ab. Steinsplitter spritzten. Im nächsten Augenblick rannte er mit An-nakas Stablampe in der Hand zu der steinernen Wendeltreppe, die zur Empore hinaufführte. Annaka konnte sich endlich aufrichten und das Chaos um sie herum in Augenschein nehmen. Sie sah ihren Vater leblos daliegen und schrie entsetzt auf.
«Zurück!«, rief Bourne.»Das ist zu gefährlich!«
Annaka ignorierte ihn und beugte sich über ihren Vater.
Bourne gab ihr Feuerschutz, indem er nochmals ins Dunkel der Orgelempore schoss, und war nicht überrascht, als sein Feuer nicht erwidert wurde. Der Attentäter hatte sein Ziel erreicht; vermutlich war er längst auf der Flucht.
Nun war keine Zeit mehr zu verlieren. Bourne hetzte die Wendeltreppe zur Empore hinauf. Als er dort eine leere Patronenhülse liegen sah, rannte er weiter. Auf der Empore war anscheinend niemand. Ihr Boden bestand aus Steinplatten, und die Wand hinter der Orgel war reich aus Holz geschnitzt. Bourne warf einen Blick dahinter, aber dieser Raum war leer. Er kontrollierte den Boden um die Orgel herum, dann die Holzwand. Der Spalt um eines der Paneele schien sich von den anderen zu unterscheiden, war auf einer Seite mehrere Millimeter breiter…
Als er ihn mit den Fingerspitzen abtastete, zeigte sich, dass dieses Paneel in Wirklichkeit eine schmale Tür war. Dahinter lag eine steil nach oben führende Wendeltreppe. Mit schussbereiter Pistole stieg Bourne die Steinstufen hinauf, die vor einer weiteren Tür endeten. Als er sie aufstieß, sah er, dass sie aufs Kirchendach hinausführte. Sobald er den Kopf ins Freie steckte, schlug ein Geschoss neben ihm ein. Er wich hastig zurück, sah aber noch eine Gestalt, die sich über das extrem steile Ziegeldach von ihm wegbewegte. Um alles schlimmer zu machen, hatte es zu regnen begonnen, sodass die Dachpfannen rutschig waren. Positiv war jedoch, dass der Attentäter zu sehr damit beschäftigt war, das Gleichgewicht zu bewahren — er konnte nicht riskieren, noch einmal zu schießen.
Da Bourne erkannte, dass die Sohlen seiner neuen Stiefel rutschen würden, zog er sie aus und ließ sie über die Brüstung fallen. Dann bewegte er sich auf allen vieren übers Dach. Dreißig Meter unter ihm, aus seiner Perspektive in gähnender Tiefe, lag der Platz um die Matthiaskirche im schwachen Lichtschein altmodischer Straßenlaternen. Bourne krallte sich mit Fingern und Zehen fest und verfolgte den Attentäter. Unterschwellig vermutete er, der Unbekannte sei Chan — aber wie hätte er vor ihm in Budapest eintreffen können und weshalb hätte er statt Bourne Vadas erschießen sollen?
Als er den Kopf hob, sah er, dass die Gestalt zum Südturm unterwegs war. Bourne war entschlossen, ihn zu stellen, und beeilte sich, ihm zu folgen. Die Dachziegel waren alt und porös. Eine Pfanne zerbrach unter seinem Griff der Länge nach und blieb in seiner Hand, sodass er einen Augenblick, wild mit den Armen rudernd, ums Gleichgewicht kämpfte. Sobald er es zurückgewonnen hatte, warf er den Ziegel weg, der drei Meter unter ihm auf dem Dach eines kleinen Kapellenanbaus zerschellte.
Sein Verstand eilte voraus. Der für ihn gefährlichste Augenblick stand bevor, wenn der Attentäter die sichere Zuflucht des Südturms erreichte. Befand Bourne sich dann noch in exponierter Lage auf dem Dach, konnte der Unbekannte ihn in aller Ruhe aufs Korn nehmen. Der Regen war stärker geworden, er machte die Dachplatten rutschiger und verschlechterte die Sicht. Der Südturm war kaum mehr als eine fünfzehn Meter entfernte schemenhafte Silhouette.
Bourne hatte drei Viertel des Weges bis zum Südturm zurückgelegt, als er etwas hörte — das Klirren von Metall auf Stein — und sich flach aufs Dach drückte. Wasser strömte über ihn hinweg, und er glaubte, ein an seinem Ohr vorbeisurrendes Geschoss zu hören, bevor die Dachziegel neben seinem rechten Knie explodierten, wobei er den Halt verlor. Er rutschte über das steile Dach hinunter und fiel über den Rand.
Er ließ seinen Körper instinktiv locker, und als er mit der linken Schulter aufs Kapellendach prallte, rollte er sich zu einer Kugel zusammen und benützte seinen Schwung, um sich übers Dach zu wälzen und so die Bewegungsenergie aufzuzehren. Er blieb, an ein buntes Glasfenster gelehnt, liegen, wo er außer Sichtweite des Attentäters war.
Als er nun den Kopf hob, stellte er fest, dass er nicht weit von dem Kirchturm entfernt war. Dicht vor ihm ragte ein niedrigerer Turm mit einer ihm zugekehrten schmalen Fensteröffnung auf. Dieses mittelalterliche Fenster war unverglast. Er zwängte sich hindurch, stieg eine steile Wendeltreppe hinauf und gelangte so auf eine schmale Steinbalustrade, die direkt zum Südturm hinüberführte.
Bourne konnte nicht abschätzen, ob der Attentäter ihn sehen würde, wenn er die Balustrade überquerte. Er holte tief Luft, stürmte aus der Tür, spurtete über die schmale Steinbalustrade. Als er vor sich eine schemenhafte Bewegung sah, rollte er sich zu einer Kugel zusammen, während ein Schuss knallte. Im nächsten Augenblick war er schon wieder auf den Beinen, und bevor der Attentäter den nächsten Schuss abgeben konnte, war er in der Luft und gelangte diesmal mit einem Hechtsprung durch das offene Turmfenster vor ihm.
Weitere Schüsse hallten ohrenbetäubend laut, und Steinsplitter umsummten ihn, als er die Wendeltreppe im Inneren des Turms hinaufhetzte. Über sich hörte er ein metallisches Klicken, das ihm sagte, dass sein Gegner seine Munition verschossen hatte. Er nahm jetzt zwei Stufen auf einmal, um diesen vorübergehenden Vorteil auszunützen. Er hörte ein weiteres metallisches Klirren, dann kam eine leere Patronenhülse sich überschlagend die Steintreppe herabgehüpft. Ohne sein Tempo zu verringern, krümmte er den Rücken, um ein möglichst kleines Ziel zu bieten. Je länger kein Schuss mehr fiel, desto höher war die Wahrscheinlichkeit, den Attentäter einzuholen.
Mit Wahrscheinlichkeiten konnte er sich nicht begnügen, er musste sich Gewissheit verschaffen. Er richtete Annakas Stablampe nach oben, schaltete sie ein. Er sah sofort Spuren eines verschwindenden Schattens auf den Stufen über ihm und verdoppelte seine Anstrengungen. Die Lampe schaltete er wieder aus, um dem Attentäter seine Position nicht zu verraten.
Sie befanden sich jetzt in achtzig Metern Höhe dicht unterhalb der Turmspitze. Hier gab es für den Unbekannten keinen Fluchtweg mehr. Er würde Bourne erledigen müssen, um sich aus dieser Falle zu befreien. Seine Verzweiflung würde ihn gefährlicher und zugleich risikobereiter machen. Von Bourne hing es ab, wie er diese Risikobereitschaft zu seinem Vorteil nutzte.
Über sich konnte er sehen, wo der Turm mit einer runden Plattform endete, die von hohen Steinbogen umgeben war, die Wind und Regen ungehindert einließen. Bourne machte Halt. Ihm war bewusst, dass er riskierte, in einen Kugelhagel zu geraten, wenn er seinen Sturmlauf fortsetzte. Und trotzdem durfte er hier nicht bleiben.
Er legte die Stablampe schräg nach oben gerichtet auf eine Stufe über sich, drückte sich flach an die Wand, zog den Kopf ein, machte einen möglichst langen Arm und schaltete die Lampe ein.
Der dadurch ausgelöste Kugelhagel krachte ohrenbetäubend laut. Noch während das Echo der Schüsse durch den Turm hallte, stürmte Bourne die restlichen Stufen hinauf. Er hatte darauf gesetzt, dass der Attentäter aus Verzweiflung sein gesamtes Magazin leer schießen würde, wenn er glaubte, dies sei Bournes endgültiger Angriff.
Durch eine Wolke aus Steinsplittern stürmte Bourne mit gesenktem Kopf gegen den Unbekannten an, drängte ihn über die Plattform zurück, knallte ihn gegen einen der Steinbogen. Der Mann hämmerte mit beiden Fäusten gleichzeitig auf Bournes Rücken, sodass er auf die Knie sank. Dabei senkte er den Kopf, wodurch sein Nacken ein allzu verlockendes Ziel bot. Als der Attentäter einen Handkantenschlag anbringen wollte, packte Bourne den herabzuckenden Arm, nutzte den Schwung des Angreifers gegen ihn aus und holte den Mann so von den Beinen. Als er zu Boden ging, traf Bourne mit einem Fausthieb seine Niere.
Der Attentäter umschlang Bournes Fußknöchel mit den Beinen und verdrehte sie, sodass er auf den Rücken knallte. Der Mann stürzte sich auf ihn. Sie kämpften miteinander, während das Licht der Stablampe von einem Nebel aus aufgewirbeltem Staub verdüstert wurde. In dem schwachen Lichtschein sah Bourne das lange, scharf geschnittene Gesicht des Attentäters, sein blondes Haar, die hellen Augen. Das verblüffte ihn sekundenlang. Ihm wurde bewusst, dass er erwartet hatte, der Attentäter werde Chan sein.
Bourne wollte diesen Mann nicht töten; er wollte ihn verhören. Er wollte unbedingt wissen, wer der Kerl war, wer ihn geschickt hatte und weshalb Vadas hatte sterben müssen. Aber der Mann kämpfte mit der Kraft und Hartnäckigkeit eines Verlorenen, und als er Bournes rechte Schulter traf, wurde dessen Arm gefühllos. Als er sich jetzt aufrappelte, fiel der Attentäter über ihn her, bevor er seine Haltung verändern und sich schützen konnte. Drei wuchtige Fausthiebe nacheinander ließen ihn durch einen der Steinbogen taumeln, bis er mit dem Rücken an der niedrigen Brüstung lehnte. Der Mann setzte sofort nach und hielt seine leer geschossene Pistole am Lauf gepackt, um ihren Griff als Keule zu benützen.
Bourne schüttelte benommen den Kopf und versuchte, die Schmerzen in seiner rechten Schulter loszuwerden. Der Attentäter war nun fast heran und hatte den rechten Arm erhoben, sodass der massive Griff seiner Waffe im Licht der Straßenlaternen auf dem Platz vor der Kirche glänzte. Auf seinem Gesicht stand ein mörderischer Ausdruck, seine Zähne waren zu einem raubtierartigen Knurren gefletscht. Er schwang die Pistole mit brutalem Schwung in weitem Bogen; der Griff kam herabgesaust, sollte Bourne offensichtlich den Schädel einschlagen. Im letzten Augenblick schaffte es Bourne, so zur Seite zu rutschen, dass der Angreifer durch den eigenen Schwung über die Brüstung kippte.
Bourne reagierte augenblicklich, griff über die Brüstung und bekam die Hand des Mannes noch zu fassen. Aber der Regen hatte ihre Haut glitschig gemacht, und die Hand rutschte ihm durch die Finger. Mit einem gellenden Aufschrei fiel der Mann in die Tiefe und stürzte aufs Pflaster vor dem Kirchenportal.