Nairobi wurde Ende des 19. Jahrhunderts als britisches Arbeiterlager beim Bau der Eisenbahnlinie Mombasa-Uganda gegründet. Die Stadt hat heute eine deprimierend banale Skyline voller eleganter moderner Hochhäuser. Nairobi liegt auf einer weiten Ebene in flachem Grasland, das vor der Einführung der westlichen Zivilisation viele Jahrhunderte lang die Heimat der Massai gewesen war. Gegenwärtig ist es die am schnellsten wachsende Großstadt Ostafrikas. Die Stadt leidet unter den üblichen Wachstumsbeschwerden und bietet den verwirrenden Anblick von Altem und Neuem nebeneinander, während gewaltiger Reichtum und bitterste Armut aufeinander prallen, dass die Funken fliegen, die Gemüter sich erhitzen und immer wieder mit Gewalt Ruhe hergestellt werden muss. Wegen der hohen Arbeitslosigkeit sind Unruhen ebenso häufig wie nächtliche Raubüberfälle — vor allem in dem westlich der Innenstadt gelegenen Uhuru Park und seiner Umgebung.
Keine dieser Unannehmlichkeiten brauchte die kleine Reisegruppe zu kümmern, die eben in zwei gepanzerten Limousinen vom Wilson Airport kommend eintraf, obwohl die Insassen die vor Gewaltverbrechen warnenden Schilder und die Wachleute privater Sicherheitsdienste wahrnahmen, die in der Innenstadt und westlich davon, wo die Ministerien und ausländischen Botschaften lagen, sowie entlang der Latema und River Road patrouillierten.
Sie kamen am Rand des Basars vorbei, auf dem buchstäblich alle Arten von ausgemustertem Kriegsmaterial, von Flammenwerfern bis zu von der Schulter abzufeuernden Fliegerabwehr-Raketen, ebenso zum Verkauf angeboten wurden wie billige Kattunkleider und in farbenprächtigen Stammesmustern gewebte Textilien.
Spalko fuhr mit Hassan Arsenow in der vorderen Limousine. Im zweiten Wagen hinter ihnen saß Sina mit Magomet und Achmed, zwei der wichtigsten Unterführer Arsenows. Die beiden Männer hatten sich nicht die Mühe gemacht, sich die dichten, lockigen Vollbärte abzunehmen. Sie trugen ihre traditionelle schwarze Kleidung und starrten Sinas westliche Aufmachung verwirrt an. Die junge Frau lächelte sie an, beobachtete ihre Mienen sorgfältig auf irgendwelche Veränderungen hin.
«Alles ist bereit, Scheich«, sagte Arsenow.»Meine Leute sind perfekt ausgebildet und vorbereitet. Sie sprechen einigermaßen Isländisch; sie haben die Einrichtungen des Hotels und die von dir angegebenen Verfahren im Kopf. Sie warten nur noch auf meinen endgültigen Befehl, um mit der Ausführung zu beginnen.«
Spalko starrte nach draußen, wo auf den Straßen Nairobis Einheimische und Ausländer von der Abendsonne rot angestrahlt unterwegs waren, und lächelte vor sich hin.»Entdecke ich einen skeptischen Unterton in deiner Stimme?«
«Falls du’s tust«, sagte Arsenow rasch,»liegt das nur an meinen großen Erwartungen. Ich habe mein Leben lang auf eine Chance gewartet, das russische Joch abzuschütteln. Meine Landsleute haben sich zu lange als Ausgestoßene fühlen müssen; sie haben Jahrhunderte darauf ge-wartet, in der islamischen Gemeinschaft willkommen geheißen zu werden.«
Spalko nickte geistesabwesend. Für ihn war längst irrelevant, was Arsenow dachte; bald würde er den Wölfen zum Fraß vorgeworfen werden und spurlos verschwinden.
An diesem Abend versammelten die fünf sich in dem privaten Speisezimmer, das Spalko im obersten Stock des Hotels 360 an der Kenyatta Avenue gebucht hatte. Wie ihre Zimmer bot es einen prachtvollen Blick über die Stadt zum Nairobi National Park hinüber, der nicht nur mit Giraffen, Gnus, Thomsongazellen und Nashörnern, sondern auch mit Löwen, Leoparden und Wasserbüffeln besetzt war. Beim Abendessen wurde nicht über ihr Unternehmen gesprochen; es gab keinerlei Hinweise darauf, was sie hergeführt hatte.
Das änderte sich, sobald das Geschirr abgetragen war. Ein Team von Humanistas, Ltd. das vor ihnen in Nairobi eingetroffen war, hatte eine Multimediapräsentation vorbereitet, zu der die nötigen Geräte auf einem Wägelchen hereingerollt wurden. Eine Stativleinwand wurde aufgestellt, und Spalko begann mit einer Power-PointPräsentation, bei der er die isländische Küste, Reykjavik und Umgebung, Luftaufnahmen des Hotels Oskjuhlid sowie Außen- und Innenaufnahmen des Hotels zeigte.»Dies ist das Überwachungssystem. Wie ihr seht, ist es hier und hier durch neueste Bewegungsmelder und Infrarotsensoren ergänzt«, sagte er.»Und dies ist das Schaltpult, das wie alle Systeme des Hotels doppelt gegen Stromausfall gesichert ist — nicht nur durch ein Notstromaggregat, sondern auch durch Akkus mit entsprechend hoher Kapazität. «Er ging das Unternehmen in sämtlichen Details durch, indem er mit dem Augenblick ihrer Ankunft begann und mit dem Verlassen des Hotels aufhörte. Alles war sorgfältig durchgeplant; alles stand bereit.
«Bis morgen früh bei Sonnenaufgang«, sagte Spalko. Als er dann aufstand, folgten die anderen seinem Beispiel. »La illaha ill Allah.«
«La illaha ill Allah«, erwiderten vier ernste Stimmen im Chor.
Spät nachts lag Stepan Spalko im Bett und rauchte eine Zigarette. Obwohl in seinem Zimmer eine Lampe brannte, konnte er die glitzernden Lichter der Großstadt und dahinter die dunkle Wildnis des Nationalparks sehen. Er schien in Gedanken versunken zu sein, aber in Wirklichkeit gab es nichts, das ihm hätte Sorgen machen müssen. Er wartete.
Achmed hörte das ferne Gebrüll von Raubtieren und fand keinen Schlaf. Er setzte sich im Bett auf, rieb sich die Augen mit den Handrücken. Dass er nicht einschlafen konnte, war ungewohnt für ihn, und er wusste nicht recht, was er dagegen tun sollte. Vorerst ließ er sich wieder zurücksinken, aber er war jetzt hellwach, spürte jeden hämmernden Herzschlag und lag mit offenen Augen da.
Er dachte an den kommenden Tag, der so vieles versprach. Allah gewähre uns die Gnade, dass damit auch für unser Volk ein neuer Tag anbricht, betete er.
Dann setzte er sich seufzend auf, schwang die Beine über die Bettkante und stand auf. Er zog die merkwürdige westliche Kleidung — Hemd und Hose — an und fragte sich, ob er sich jemals an sie würde gewöhnen können. Mit Allahs Hilfe niemals.
Achmed war eben dabei, die Tür seines Zimmers zu öffnen, als er draußen Sina vorbeigehen sah. Sie schritt wunderbar anmutig den Korridor entlang und bewegte sich lautlos, mit provokant sich wiegenden Hüften. Er hatte sich schon oft heimlich die Lippen geleckt, wenn sie vor ihm hergegangen war, und versuchte immer, möglichst viel von ihrem Duft einzuatmen.
Er spähte durch den Türspalt. Sie entfernte sich von ihrem Zimmer, sodass er sich fragte, wohin sie unterwegs sein mochte. Im nächsten Augenblick bekam er seine Antwort. Er machte große Augen, als sie leise an die Tür des Scheichs klopfte, die sich sofort öffnete, und der Scheich ließ sie persönlich eintreten. Vielleicht hatte er Sina zu sich beordert, um sie wegen irgendeiner Disziplinlosigkeit zu tadeln, die Achmed nicht mitbekommen hatte.
Dann sagte sie in einem Tonfall, den er bei ihr noch nie gehört hatte:»Hassan schläft«, und er verstand alles.
Als leise angeklopft wurde, drehte Spalko sich zur Seite und drückte seine Zigarette aus; dann stand er auf, ging barfuß durchs Zimmer und öffnete die Tür.
Auf dem Korridor stand Sina.»Hassan schläft«, sagte sie, als müsse sie ihr Kommen begründen.
Spalko trat wortlos einen Schritt zur Seite, und sie kam herein, schloss die Tür lautlos hinter sich. Er packte sie, warf sie aufs Bett. Wenige Augenblicke später stöhnte sie bereits nackt unter ihm. Aus ihrer Art, sich zu lieben, sprach eine gewisse Wildheit, als seien sie am Ende der Welt angelangt. Und als es vorbei war, war es keineswegs vorüber, denn sie lag mit gespreizten Beinen auf ihm, streichelte und liebkoste ihn, flüsterte ihm mit deutlichen Ausdrücken ihre Begierden ins Ohr, bis er sie, wieder erregt, nochmals nahm.
Danach ruhte Sina in seinen Armen, ließ Rauch aus ihrem halb geöffneten Mund quellen. Die Lampe war ausgeknipst, und sie betrachtete ihn nur im Widerschein der Lichtpunkte der nächtlichen Großstadt. Seit er sie erstmals berührt hatte, sehnte sie sich danach, ihn besser zu kennen. Sie wusste nichts über seine Vergangenheit — ihres Wissens gab es niemanden, der sie kannte. Sprach er mit ihr darüber, vertraute er ihr die kleinen Geheimnisse seines Lebens an, dann würde er sich an sie binden wie sie an ihn.
Sie fuhr mit der Fingerspitze um seine Ohrmuschel, über die unnatürlich glatte Haut seiner Wange.»Ich möchte wissen, wie das passiert ist«, sagte sie leise.
Spalkos Augen sahen langsam wieder klar.»Das liegt schon lange zurück.«
«Umso mehr Grund, mir davon zu erzählen.«
Er drehte den Kopf zur Seite, starrte ihr in die Augen.»Willst du’s wirklich wissen?«
«Ja, sehr gern.«
Er atmete tief durch.»Damals haben mein jüngerer Bruder und ich noch in Moskau gelebt. Er hatte ständig Schwierigkeiten, gegen die er machtlos war; er hatte die Veranlagung eines Süchtigen.«
«Drogen?«
«Allah sei Dank, nein. In seinem Fall war’s Spielsucht. Er musste einfach wetten, selbst wenn er völlig abgebrannt war. Dann hat er mich um Geld angehauen, und ich habe ihm natürlich immer Geld geliehen, weil er’s verstanden hat, mich mit glaubhaften Geschichten einzuwickeln.«
Er drehte sich zur Seite, schüttelte eine Zigarette aus dem Päckchen und zündete sie an.»Dann kam irgendwann der Zeitpunkt, an dem seine Geschichten nicht mehr glaubhaft klangen, oder vielleicht konnte ich’s mir einfach nicht leisten, ihm noch länger zu glauben. Jedenfalls habe ich ihm erklärt, der Geldhahn sei zugedreht, weil ich törichterweise glaubte, dann müsse er aufhören. «Er inhalierte tief, atmete den Rauch geräuschvoll aus.»Aber das hat er nicht getan. Was hat er stattdessen getan, meinst du? Er ist zu den völlig falschen Leuten gegangen, weil sie die Einzigen waren, die noch bereit waren, ihm Geld zu leihen.«
«Zur Russenmafia.«
Spalko nickte.»Genau! Er hat ihr Geld genommen, obwohl er wusste, dass er’s niemals würde zurückzahlen können, wenn er’s verlor. Er wusste, was die Kerle ihm antun würden, aber er war, wie gesagt, ein Sklave seiner Leidenschaft. Er hat gewettet und wie meistens verloren.«
«Und?«Sie saß wie auf glühenden Kohlen, wartete begierig darauf, dass er weitersprach.
«Sie haben darauf gewartet, dass er seine Schulden bezahlen würde, und als er’s nicht getan hat, sind sie massiv geworden.«
Er starrte das glühende Ende der Zigarette an. Die Fenster standen offen. Ab und zu übertönte lautes Tiergebrüll oder unheimliches Geheul das leise Brausen des Verkehrs und das Rascheln der Palmwedel.
«Beim ersten Mal haben sie ihm nur eine Abreibung verpasst«, sagte er mit einer Stimme, die kaum lauter als ein Flüstern war.»Nichts sehr Schlimmes, weil sie noch dachten, er werde das Geld irgendwie auftreiben. Aber als sie merkten, dass er nichts hatte, auch nichts beschaffen konnte, haben sie ihn wie einen Straßenköter abgeknallt.«
Seine Zigarette war aufgeraucht, aber Spalko ließ sie bis zu Mittel- und Zeigefinger herunter abbrennen. Er schien sie ganz vergessen zu haben. Neben ihm sagte Sina kein Wort, so gefesselt war sie von seiner Erzählung.
«Danach verging ein halbes Jahr«, sagte er und schnippte die Zigarettenkippe quer durch den Raum zum Fenster hinaus.»Ich habe meine Hausaufgaben gemacht; ich habe die Leute bezahlt, die bezahlt werden mussten, und endlich meine Chance bekommen. Zufällig hat der Gangsterboss, der den Tod meines Bruders befohlen hatte, sich jede Woche einmal beim Friseur im Hotel Metropol rasieren lassen.«
«Ich weiß, was jetzt kommt«, sagte Sina.»Du hast dich als sein Friseur ausgegeben, und als er vor dir gesessen hat, hast du ihm mit einem Rasiermesser die Kehle durchgeschnitten!«
Er starrte sie sekundenlang an, dann begann er zu lachen.»Das ist sehr gut, filmisch sehr wirkungsvoll. «Er schüttelte den Kopf.»Aber im richtigen Leben hätte das nicht funktioniert. Der Boss war seit fünfzehn Jahren beim selben Friseur; er hätte jeden Ersatzmann abgelehnt. «Spalko beugte sich über sie, küsste sie.»Sei nicht enttäuscht, sondern lass dir das eine Lehre sein. «Er schlang einen Arm um Sina, zog sie an sich. Irgendwo im Nationalpark brüllte ein Leopard.
«Nein, ich habe gewartet, bis er frisch rasiert, frisiert und entspannt von dem aufmerksamen Service war. Ich habe ihm auf offener Straße vor dem Metropol aufgelau-ert — an einem so öffentlichen Ort, dass nur ein Verrückter ihn wählen konnte. Als er aus dem Hotel gekommen ist, habe ich ihn und seine Leibwächter erschossen.«
«Und dann bist du entkommen.«
«In gewisser Weise«, sagte er.»An jenem Tag bin ich entkommen, aber ein halbes Jahr später bin ich in einer anderen Stadt aus einem fahrenden Auto heraus mit einem Molotowcocktail beworfen worden.«
Sie fuhr mit den Fingern zärtlich über sein von einer dünnen Narbenschicht überzogenes Fleisch.»So gefällst du mir, unvollkommen. Der Schmerz, den du erlitten hast, macht dich… heldenhaft.«
Spalko sagte nichts und hörte Sina dann gleichmäßig tief atmen, als sie einschlief. Natürlich war kein Wort von seiner Geschichte wahr gewesen, obwohl er zugeben musste, dass diese Story gut war — filmisch sehr wirkungsvoll. Die Wahrheit. was war die Wahrheit? Er kannte sie kaum noch; er hatte so viel Zeit darauf verwandt, seine kunstvolle Fassade zu errichten, dass er sich an manchen Tagen in der eigenen Scheinwelt verirrte. Jedenfalls hätte er niemandem die Wahrheit erzählt, weil das für ihn nachteilig gewesen wäre. Leute, die einen kannten, glaubten, einen zu besitzen, als ob die Wahrheit, die man in einem schwachen Augenblick, den sie Intimität nannten, einen an sie binden könnte.
In dieser Beziehung war Sina wie alle anderen, und er hatte den bitteren Geschmack von Enttäuschung im Mund. Andererseits enttäuschten andere Menschen ihn ständig. Sie spielten nicht in seiner Liga; sie konnten die Feinheiten des Weltgeschehens nicht wie er begreifen.
Sie waren eine Zeit lang amüsant, aber eben nur für gewisse Zeit. Diesen Gedanken nahm er mit in den bo-denlosen Abgrund seines tiefen, traumlosen Schlafs hinunter, und als er aufwachte, war Sina fort, an die Seite des ahnungslosen Hassan Arsenow zurückgekehrt.
Bei Tagesanbruch stiegen die fünf in zwei Range Rover, die von Mitgliedern des Humanistas-Teams ausgerüstet worden waren und gelenkt wurden, und fuhren nach Süden aus der Stadt auf den von Pöbel bewohnten Slum zu, der wie ein Krebsgeschwür an der Flanke Nairobis wucherte. Keiner sagte ein Wort, und sie hatten nur leicht gefrühstückt, weil sie alle — sogar Spalko — im Bann ungeheurer Anspannung standen.
Obwohl der Morgen klar war, hing über dem weitläufigen Slumgebiet ein Gifthauch, der vom Fehlen jeglicher Kanalisation zeugte und das stets drohende Gespenst der Cholera heraufbeschwor. Die Bewohner hausten in wackeligen Unterkünften, windschiefen Hütten aus Pappe und Wellblech, einigen Holzhütten und quadratischen Betonbauten, die man für Bunker hätte halten können, wären die draußen im Zickzack gespannten Leinen nicht gewesen, an denen Wäsche in der staubigen Luft flatterte. Dazwischen immer wieder von Planierraupen aufgetürmte Erdhügel, frisch und rätselhaft, bis die Vorbeifahrenden die angesengten und verkohlten Überreste von ausgebrannten Hütten, Schuhe mit weggebrannten Sohlen oder Fetzen eines blauen Kleides sahen.
Diese wenigen Artefakte, Zeugen jüngster Geschichte- nur sie existierte hier —, ließen die Hässlichkeit bitterster Armut noch fürchterlicher erscheinen. Falls man hier ein Leben führen konnte, war es unbeständiger, chaotischer und trister, als man mit Gedanken oder Worten ausdrücken konnte. Alle wurden von dem Gefühl erfasst, hier herrsche selbst im Licht des neuen Morgens endlose Nacht. Das weitläufige Elendsviertel stand irgendwie unter einem ungünstigen Stern, der sie an den Basar erinnerte, als sei die Schwarzmarktwirtschaft in der Stadt auf obskure Weise an der deprimierenden Landschaft schuld, durch die sie krochen, wobei sie von den Menschenmassen behindert wurden, die sich auf den rissigen Gehsteigen drängten und auf die unbefestigten, mit Schlaglöchern übersäten Straßen auswichen. Verkehrsampeln gab es keine, und selbst wenn es hier welche gegeben hätte, wären die Fahrzeuge immer wieder von stinkenden Bettlerhorden oder Straßenhändlern, die ihre kümmerlichen Waren anpriesen, angehalten worden.
Schließlich erreichten sie ungefähr die Mitte des Slums und verschwanden dort in einem ausgebrannten einstöckigen Gebäude, in dem es nach Rauch stank. Drinnen lag überall Asche, weiß und weich wie Knochenmehl. Die Fahrer brachten die Ladung herein, die sie in zwei rechteckigen Behältern von der Größe von Schrankkoffern transportiert hatten.
Die Behälter enthielten ABC-Schutzanzüge aus silbrig beschichtetem Material, die sie unter Spalkos Anleitung anlegten. Zu jedem dieser Anzüge gehörte ein eigenes Atemschutzgerät. Dann nahm Spalko das NX 20 aus seinem Koffer in einem der Behälter und setzte die beiden Teile sorgfältig zusammen, während die vier tschetschenischen Rebellen sich um ihn drängten, um zuzusehen. Er ließ Hassan Arsenow einen Augenblick das Gerät halten und zog den kleinen schweren Metallbehälter, den Dr. Peter Sido ihm gegeben hatte, aus der Tasche. Spalko öffnete ihn sehr vorsichtig. Sie starrten alle die Glasphiole an. So klein, aber doch so tödlich. Ihre Atmung verlangsamte sich, wurde keuchend, als fürchteten sie alle, den Tod einzuatmen.
Spalko wies Arsenow an, ihm das NX 20 mit leicht gebeugten Armen hinzuhalten. Er bewegte den oben angeordneten Titanschieber und legte die Phiole in die Ladekammer. Trotzdem lasse das NX 20 sich noch nicht abfeuern, erklärte er den anderen. Dr. Schiffer hatte mehrere Sicherungen gegen versehentliches oder vorzeitiges Versprühen eingebaut. Spalko wies auf den luftdichten Verschluss hin, der nach dem Laden entstand, wenn er den Schieber zurückzog und verriegelte. Das tat er jetzt; dann nahm er Arsenow das NX 20 aus den Händen und führte die kleine Gruppe in dem ausgebrannten Gebäude eine Treppe hinauf, die nur noch stand, weil sie aus Stahlbeton war.
Im ersten Stock drängten sie sich an einem Fenster zusammen. Auch seine Scheiben waren zersprungen, nur der Rahmen war noch übrig. Von dieser Warte aus beobachteten sie die Hinkenden und die Lahmen, die Verhungernden, die Kranken. Fliegen summten, ein drei-beiniger Hund hockte sich hin und kackte zwischen die Gebrauchtwaren, die auf einem Markt unter freiem Himmel angeboten wurden. Ein nacktes Kind lief weinend durch die Straßen. Eine vorbeischlurfende alte Frau räusperte sich umständlich und spuckte aus.
Diese Bilder interessierten die kleine Gruppe jedoch nur am Rande. Die vier beobachteten jede Bewegung Spalkos, nahmen mit fast zwanghafter Konzentration jedes seiner Worte in sich auf. Die fast mathematische Präzision der Waffe wirkte wie ein Gegenzauber zur Abwehr der Krankheiten, die hier in der Luft zu liegen schienen.
Spalko zeigte ihnen die beiden Abzughebel des NX 20, von denen der kleinere unmittelbar vor dem größeren Abzug angeordnet war. Mit dem kleinen Hebel, erklärte er ihnen, wurde die Phiole aus der Ladekammer in die Feuerkammer befördert. Sobald auch sie versiegelt war, wozu man diesen Knopf hier auf der linken Seite der Waffe drücken musste, war das NX 20 schussbereit. Er betätigte den kleinen Abzug, drückte dann den Knopf und konnte im Inneren der Waffe eine leichte Bewegung, eine erste Regung des nahenden Todes spüren.
Die Mündung des Geräts war stumpf und hässlich, aber ihre Stumpfheit hatte auch einen praktischen Zweck. Im Gegensatz zu herkömmlichen Waffen musste man mit dem NX 20 nicht genau zielen, erläuterte Spal-ko. Er schob die Mündung aus dem Fenster. Alle fünf hielten den Atem an, als sein Finger sich um den großen Abzug krümmte.
Draußen ging das Leben seinen ungeordneten Gang. Ein junger Mann hielt sich einen Blechnapf mit Maisbrei unters Kinn und schaufelte das Zeug mit zwei Fingern der rechten Hand in seinen Mund, während eine Gruppe von halb verhungerten Menschen ihn mit unnatürlich großen Augen beobachtete. Ein unglaublich dünnes Mädchen fuhr auf einem Fahrrad vorbei, und zwei zahnlose alte Männer starrten auf die fest getrampelte Erde der Straße, als läsen sie dort die traurige Geschichte ihres Lebens.
Zu hören war nur ein leises Zischen, zumindest klang es in ihren sicheren ABC-Schutzanzügen so. Ansonsten war kein äußeres Anzeichen für den Sprühvorgang zu erkennen. Genau das hatte Dr. Schiffer vorhergesagt.
Während die Sekunden qualvoll langsam verstrichen, beobachtete die Gruppe gespannt das Leben vor dem
Fenster. Alle Sinneswahrnehmungen schienen unnatürlich gesteigert zu sein. Sie hörten ihren Puls als sonores Pochen in den Ohren, spürten das schwere Schlagen ihrer Herzen. Sie merkten, dass sie unwillkürlich den Atem anhielten.
Dr. Schiffer hatte gesagt, sie würden binnen drei Minuten die ersten Anzeichen dafür sehen, dass das NX 20 richtig funktioniert hatte. Das waren mehr oder weniger seine letzten Worte gewesen, bevor Spalko und Sina seinen fast leblosen Körper ins Labyrinth geworfen hatten.
Spalko hatte verfolgt, wie der Sekundenzeiger seiner Uhr sich der Dreiminutenmarke näherte, und sah jetzt auf. Von dem Anblick, der sich ihm bot, war er wie gebannt. Ein Dutzend Menschen waren zusammengeklappt, bevor der erste heulende Schrei ertönte. Er verstummte rasch, aber andere nahmen die Wehklage auf, nur um auf der Straße zusammenzubrechen und sich am Boden zu winden. Chaos und Schweigen, während der Tod in immer weiterem Umkreis immer reichere Ernte hielt. Man konnte sich nicht vor ihm verstecken, und niemand entging ihm — auch die nicht, die wegzurennen versuchten.
Spalko machte den Tschetschenen ein Zeichen, und die vier folgten ihm die Betontreppe hinunter. Die Fahrer — auch sie in ABC-Schutzanzügen — hielten sich bereit, während Spalko das NX 20 zerlegte. Sobald es wieder in seinem Koffer verstaut war, ließen sie die Schlösser zuschnappen und brachten die Behälter zu den wartenden Geländewagen hinaus.
Die fünf machten einen Rundgang über die Straße und einige Nachbarstraßen. Sie gingen nach allen Richtungen vier Straßenblocks weit, sahen überall dasselbe
Ergebnis: Tote und Sterbende, noch mehr Tote und Sterbende. Sie hatten den Geschmack des Triumphs im Mund, als sie zu ihren Fahrzeugen zurückkehrten. Die Motoren der Range Rover sprangen an, sobald sie eingestiegen waren, und dann fuhren sie kreuz und quer durch das gesamte Gebiet mit einer halben Meile Radius, das nach Dr. Schiffers Aussage der Reichweite des NX 20 entsprach. Spalko stellte befriedigt fest, dass der gute Doktor weder gelogen noch übertrieben hatte.
Wie viele Menschen werden tot sein oder im Sterben liegen, wenn die Nutzlast nach etwa einer Stunde aufgebraucht ist? fragte er sich. Bei tausend hatte er zu zählen aufgehört, aber er rechnete mit dreimal, vielleicht sogar fünfmal so vielen Opfern.
Bevor sie die Totenstadt verließen, erteilte Spalko einen weiteren Befehl, und seine Fahrer legten Brände, wobei sie wirksame Brandbeschleuniger benützten. Sofort stiegen hohe Flammenwände zum Himmel auf, die sich rasch ausbreiteten.
Der Großbrand war ein erfreulicher Anblick. Er würde tarnen, was heute Morgen hier passiert war, denn davon durfte niemand erfahren — wenigstens nicht, bevor ihr Attentat auf das Gipfeltreffen in Reykjavik durchgeführt war.
In nur achtundvierzig Stunden ist’s so weit, dachte Spalko triumphierend. Nichts kann uns mehr aufhalten.
Jetzt ist die Welt mein.