Die Donau war kalt und dunkel. Bourne klatschte als Erster in den Fluss, wo das Abflussrohr mündete, aber es war Chan, der in Schwierigkeiten geriet. Dass das Wasser eiskalt war, bedeutete ihm nichts, aber die Dunkelheit brachte ihm die albtraumhaften Schrecken seines wiederkehrenden Traums.
Durch den Schock, unter Wasser zu sein, dessen Oberfläche so weit über ihm lag, kehrte das Gefühl zurück, an dem Seil an seinem Fußknöchel hänge eine weiße, halb verweste Leiche, die in der Tiefe langsam kreiselte. Li-Li rief ihn… Li-Li wollte, dass er zu ihr kam…
Er spürte, wie er, sich überschlagend, ins Dunkel, in noch tieferes Wasser glitt. Und dann, ganz plötzlich und erschreckend, zerrte etwas an ihm. Li-Li? fragte er sich in Panik.
Im nächsten Augenblick glaubte er, die Wärme eines anderen Körpers zu spüren: größer und trotz seiner Wunden noch immer bärenstark. Er fühlte Bournes Arm, der seine Taille umschlang, und spürte die Kraft in Bournes Beinschlägen, als er sie aus der schnellen Strömung, in die Chan geraten war, und zurück an die Oberfläche beförderte.
Chan schien zu weinen oder irgendetwas zu rufen, aber als sie aufs andere Ufer zuhielten, schlug er um sich, als habe er nur den einen Wunsch, über Bourne herzufallen, ihn bewusstlos zu schlagen. Aber im Augenblick konnte er sich nur von dem Arm um seine Taille losreißen und Bourne anfunkeln, als sie sich an den Steinen der Uferbefestigung anklammerten.
«Was fällt dir ein?«, fragte Chan aufgebracht.»Deinetwegen wäre ich fast ertrunken!«
Bourne öffnete den Mund und wollte schon widersprechen, überlegte es sich dann aber doch anders. Statt-dessen zeigte er flussabwärts auf eine aus dem Wasser führende Eisenleiter. Jenseits der tiefen blauen Donau war die Zentrale von Humanistas, Ltd. noch immer von Krankenwagen, Löschfahrzeugen und Streifenwagen umringt. Zu den Angestellten, die das Gebäude verlassen hatten, gesellten sich jetzt Neugierige, die auf den Gehsteigen hin und her wogten, aus den Fenstern benachbarter Gebäude hingen und sich die Hälse verrenkten, um besser zu sehen. Obwohl die Polizei sie zum Weiterfahren aufforderte, steuerten Boote, die auf der Donau unterwegs waren, eine Stelle unterhalb der Zentrale an, und ihre Fahrgäste drängten sich an der Reling, um einen Blick auf etwas zu erhaschen, das sie für eine bevorstehende Katastrophe hielten. Aber sie kamen zu spät. Der durch die Explosion im Aufzugschacht ausgelöste Brand war bereits gelöscht.
Bourne und Chan erreichten die Leiter im Schatten der Uferböschung und stiegen sie so rasch wie möglich hinauf. Zu ihrem Glück konzentrierte die allgemeine Aufmerksamkeit sich auf die Zentrale von Humanistas, Ltd. Ganz in der Nähe der Stelle, wo sie aus dem Wasser kamen, wurde ein Abschnitt der Uferstraße repariert, und sie fanden zunächst Unterschlupf oberhalb der Wasserlinie zwischen den Stahlpfeilern, mit denen die unterspülte Fahrbahn abgestützt wurde.
«Gib mir dein Handy«, verlangte Chan.»Meines ist voller Wasser.«
Bourne wickelte Conklins Handy aus und gab es ihm.
Chan tippte eine Budapester Nummer ein. Als Oszkar sich meldete, erklärte er ihm, wo sie waren und was sie brauchten. Er hörte kurz zu, dann wandte er sich an Bourne.
«Oszkar, mein hiesiger Kontaktmann, chartert uns ein kleines Flugzeug. Und für dich besorgt er ein Antibiotikum.«
Bourne nickte.»Jetzt wollen wir sehen, wie gut er wirklich ist. Sag ihm, dass wir die Pläne des Hotels Oskjuhlid in Reykjavik brauchen.«
Chan funkelte ihn an, und Bourne fürchtete schon, er werde die Verbindung aus purem Trotz beenden. Er biss sich auf die Unterlippe. In Zukunft würde er sich zusammenreißen und weniger aggressiv mit Chan reden müssen.
Chan erklärte Oszkar, was sie brauchten.»Das dauert ungefähr eine Stunde«, berichtete er dann.
«Er hat nicht >unmöglich< gesagt?«, fragte Bourne.
«Oszkar sagt nie >unmöglich<.«
«Mehr hätten auch meine Kontaktleute nicht leisten können.«
Ein böiger, kühler Wind war aufgekommen und hatte sie dazu gezwungen, sich tiefer in ihren provisorischen Unterschlupf zurückzuziehen. Bourne nutzte die Gelegenheit, um die Verletzungen zu begutachten, die Spalko ihm beigebracht hatte; Chan hatte die zahlreichen Einstiche in Armen, Brust und Beinen gut versorgt. Chan trug noch seine Jacke. Als er sie jetzt auszog, um sie auszuschütteln,
sah Bourne, dass sie zahlreiche Innentaschen hatte, die alle voll zu sein schienen.
«Was hast du in den Taschen?«, fragte er neugierig.
«Mein Werkzeug«, sagte Chan wenig auskunftsfreudig. Dann zog er sich in seine eigene Welt zurück, indem er Bournes Handy benützte.
«Ethan, ich bin’s«, sagte er.»Alles in Ordnung bei Ihnen?«
«Kommt darauf an«, sagte Hearn.»Im allgemeinen Durcheinander habe ich entdeckt, dass mein Büro abgehört wurde.«
«Weiß Spalko, für wen Sie arbeiten?«
«Ich habe Ihren Namen nie erwähnt. Außerdem habe ich fast nie vom Büro aus mit Ihnen telefoniert.«
«Trotzdem wär’s vermutlich besser, wenn Sie abhauen würden.«
«Genau das habe ich vor«, sagte Hearn.»Ich bin froh, Ihre Stimme zu hören. Nach den Explosionen habe ich schon befürchtet.«
«Unkraut verdirbt nicht«, sagte Chan.»Wie viel haben Sie über ihn zusammengetragen?«
«Genug.«
«Am besten nehmen Sie alles mit und tauchen vorläufig unter. Ich räche mich an ihm, koste es, was es wolle.«
Hearn atmete tief durch.»Was soll das heißen?«
«Das soll heißen, dass ich Sie als Reserve brauche. Können Sie das Material aus irgendeinem Grund nicht mir übergeben, wenden Sie sich an… Augenblick!«Er sah zu Bourne hinüber und fragte:»Gibt’s in der Agency jemanden, dem man Belastungsmaterial gegen Spalko anvertrauen kann?«
Bourne schüttelte den Kopf, aber dann überlegte er sich die Sache sofort anders. Er dachte daran, was Conklin über den stellvertretenden Direktor gesagt hatte- dass er nicht nur fair sei, sondern auch selbstständig denke.»Martin Lindros«, sagte er.
Chan nickte und gab den Namen an Hearn weiter; dann beendete er das Gespräch und gab das Handy zurück.
Bourne befand sich in einem Dilemma. Er wollte mit Chan in Verbindung treten, wusste aber nicht, wie er das anstellen sollte. Schließlich kam er auf die Idee, ihn zu fragen, wie er die Folterkammer entdeckt hatte. Zu seiner Erleichterung begann Chan zu reden. Er erzählte Bourne von seinem Versteck in dem Schlafsofa, der Detonation im Aufzugschacht und seinem Entkommen aus der Gaskammer. Annakas Verrat erwähnte er jedoch mit keinem Wort.
Obwohl Bourne ihm zunehmend fasziniert zuhörte, blieb ein Teil seines Ichs merkwürdig unbeteiligt, als höre ein anderer diesen Bericht. Er schreckte vor Chan zurück; die psychischen Wunden waren noch zu frisch. Er erkannte, dass er in seinem geschwächten Zustand mental außerstande war, die Fragen und Zweifel, die ihm zusetzten, aufzuarbeiten. Und so sprachen die beiden stockend und unbeholfen miteinander und vermieden stets das Hauptthema, das zwischen ihnen lag wie eine Burg, die sie belagerten, aber nicht einnehmen konnten.
Nach ungefähr einer Stunde kam Oszkar mit dem Lieferwagen seiner Firma mit Handtüchern, Wolldecken und neuer Kleidung sowie einem Antibiotikum für Bourne. Als Erstes gab er ihnen eine Thermosflasche mit heißem Kaffee. Sie stiegen hinten ein, und während sie sich umzogen, machte Oszkar ein Bündel aus ihren nas-sen und zerrissenen Sachen, nur aus Chans bemerkenswerter Jacke nicht. Dann packte er Sandwichs aus, die sie verschlangen und mit Mineralwasser hinunterspülten.
Falls er sich über Bournes Verletzungen wunderte, ließ er sich nichts anmerken, und Chan vermutete, er habe sich ausgerechnet, sein Unternehmen sei erfolgreich gewesen. Oszkar gab Bourne ein leichtes, ultraflaches Notebook.
«Die Grundrisse der Hotelgebäude und die Einzelheiten aller Versorgungssysteme sind auf der Festplatte gespeichert«, sagte er.»Außerdem ein Stadtplan von Reykjavik, Karten der näheren Umgebung und sonstige Informationen, die vielleicht nützlich sein könnten.«
«Ich bin beeindruckt. «Das sagte Bourne zu Oszkar, aber sein Lob war auch für Chan bestimmt.
Martin Lindros erhielt den Anruf kurz nach elf Uhr vormittags. Er sprang in seinen Wagen und legte die fünfzehnminütige Fahrt zum George Washington Hospital in knapp acht Minuten zurück. Detective Harry Harris war noch in der Notaufnahme. Lindros benützte seinen Dienstausweis, um sich Zutritt zu verschaffen, und erreichte, dass ein gestresster Assistenzarzt ihn zu dem Bett führte. Er zog den Vorhang auf, der das Bett in der Notaufnahme von drei Seiten umgab, und schloss ihn hinter sich.
«Was zum Teufel ist mit Ihnen passiert?«, fragte er. Harris lag halb sitzend im Bett und betrachtete ihn, so gut er konnte. Sein Gesicht war verfärbt und geschwollen. Die Oberlippe war aufgeplatzt, und eine Platzwunde unter dem linken Auge hatte genäht werden müssen.»Ich bin rausgeflogen — das ist mir passiert.«
Lindros schüttelte den Kopf.»Das verstehe ich nicht.«
«Die Nationale Sicherheitsberaterin hat meinen Boss angerufen. Persönlich. Sie hat verlangt, dass mir fristlos gekündigt wird. Dass ich ohne Abfindung oder Altersversorgung entlassen werde. Das hat er mir erklärt, als er mich gestern bei sich hat antreten lassen.«
Lindros ballte unwillkürlich die Fäuste.»Und dann?«
«Was denken Sie? Er hat mich rausgeschmissen. Nach untadeligen zwanzig Dienstjahren mit Schimpf und Schande davongejagt.«
«Ich meine«, sagte Lindros,»wie Sie hier gelandet sind.«
«Oh, das. «Harris drehte den Kopf weg.»Ich hab mich betrunken, nehme ich an.«
«Das nehmen Sie an?«
Harris wandte sich ihm mit funkelnden Augen wieder zu.»Ich hab mich ziemlich betrunken, okay! Wenigstens das hat mir doch zugestanden, oder nicht?«
«Aber dann ist etwas schief gegangen.«
«Yeah. Soviel ich mich erinnere, hab ich Streit mit ein paar Bikern bekommen — und dann gab’s eine Schlägerei.«
«Sie glauben vermutlich, Sie hätten’s verdient, zu Brei geschlagen zu werden.«
Harris sagte nichts.
Lindros fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.»Ich weiß, dass ich versprochen habe, diese Sache zu regeln, Harry. Ich dachte, ich hätte alles unter Kontrolle; meiner Ansicht nach war sogar der Direktor auf meine Linie eingeschwenkt. Ich habe mir nur nicht vorstellen können, dass die Sicherheitsberaterin einen Präventivschlag führen würde.«
«Zum Teufel mit ihr!«, sagte Harris.»Zum Teufel mit allen. «Er lachte verbittert.»Meine Ma hat ganz Recht gehabt, als sie gesagt hat: >Keine gute Tat bleibt unbestraft.««
«Hören Sie, Harry, ohne Sie wäre ich in der Sache Schiffer nie weitergekommen. Deshalb lasse ich Sie jetzt nicht im Stich. Ich helfe Ihnen aus der Patsche.«
«Yeah? Mich würde bloß interessieren, wie Sie das anfangen wollen.«
«Wie Hannibal, den ich als Heerführer verehre, einmal so großartig gesagt hat: >Wir werden einen Weg finden oder einen schaffen.««
Als sie bereit waren, fuhr Oszkar sie zum Flughafen. Bourne, der wieder starke Schmerzen hatte, ließ gern jemand anders fahren. Trotzdem blieb er wie stets im Einsatz hellwach. Er stellte befriedigt fest, dass Oszkar häufig in die Außenspiegel sah, um zu kontrollieren, ob sie beschattet wurden. Aber sie schienen nicht verfolgt zu werden.
Vor sich konnte er den Tower des Flughafens sehen, und im nächsten Augenblick bog Oszkar von der Stadtautobahn ab. Keine Polizei- oder Zollbeamten weit und breit. Alles schien in bester Ordnung zu sein. Trotzdem merkte er, wie die Spannung in seinem Inneren wuchs.
Niemand hielt sie auf, als sie durch die Straßen hinter dem Frachtterminal fuhren und durch ein Tor, das ein dicklicher junger Mann ihnen öffnete, in den Charterbereich des Flughafens gelangten. Der zweistrahlige Businessjet war betankt und startbereit. Die beiden stiegen aus dem Lieferwagen. Bourne schüttelte Oszkar zum Abschied die Hand.»Nochmals vielen Dank.«
«Kein Problem«, sagte Oszkar grinsend.»Das kommt alles auf die Rechnung.«
Er fuhr davon, und die beiden stiegen die Gangway des kleinen Jets hinauf.
Der Pilot hieß sie an Bord willkommen, bevor er die Treppe einfuhr und die Kabinentür verriegelte. Bourne teilte ihm den Zielflughafen mit, und zehn Minuten später beschleunigte die Maschine auf der Startbahn und hob zu dem zwei Stunden und zehn Minuten langen Flug nach Reykjavik ab.
«In drei Minuten sind wir bei dem Fischerboot«, meldete der Pilot.
Spalko drückte seinen Ohrhörer fester, nahm Sidos Kühlbehälter mit und ging durch die Kabine nach hinten, um seinen Fallschirm anzulegen. Während er das Gurtzeug straff anzog, starrte er Peter Sidos Hinterkopf an. Der Epidemiologe war mit Handschellen an seinen Sitz gefesselt. Einer von Spalkos bewaffneten Männern saß neben ihm.
«Sie wissen, wohin Sie ihn bringen sollen«, sagte Spal-ko halblaut zu dem Piloten.
«Natürlich, Herr Spalko. Jedenfalls nicht in die Nähe von Grönland.«
Spalko trat an die hintere Kabinentür und machte seinem Mann ein Zeichen. Der Bewaffnete stand auf und kam durch den schmalen Mittelgang heran.
«Wie steht’s mit dem Treibstoff?«, fragte Spalko weiter.»Reicht er?«
«Gewiss, Herr Spalko«, antwortete der Pilot.»Meine Berechnung stimmt genau.«
Spalko sah durch das kleine runde Fenster in der Kabinentür. Sie flogen jetzt niedriger, der Nordatlantik schimmerte blauschwarz, und die weißen Schaumkronen waren ein sicheres Zeichen für seine berüchtigte Wildheit.
«Noch dreißig Sekunden«, meldete der Pilot.»Unten bläst ein ziemlich steifer Wind aus Nordnordost. Sechzehn Knoten.«
«Verstanden. «Spalko glaubte zu fühlen, wie ihre Fluggeschwindigkeit sich nochmals verringerte. Unter seiner Kleidung trug er einen sieben Millimeter starken Überlebensanzug. Im Gegensatz zu einem Nasstaucheranzug, in dem eine dünne Wasserschicht zwischen Haut und Neopren die Körpertemperatur bewahrte, lag dieser Anzug an Fußknöcheln und Handgelenken dicht an, um das Wasser abzuhalten. Unter dem Schutzanzug aus drei Schichten trug er Thermo-Unterwäsche als zusätzlichen Kälteschutz. Trotzdem konnte das Eintauchen ins eiskalte Wasser ihn lähmen, wenn er nicht im genau richtigen Augenblick absprang, und der Kälteschock konnte trotz des Anzugs tödlich sein. Hier durfte nichts schief gehen. Er kettete den Behälter an sein linkes Handgelenk und zog die wasserdichten Handschuhe an.
«Fünfzehn Sekunden«, sagte der Pilot.»Wind stetig.«
Gut, keine Böen, dachte Spalko. Er nickte seinem Mann zu, der den großen Hebel herabzog und die Kabinentür öffnete. Das Heulen des Windes füllte das Flugzeug. Unter sich sah Spalko nur noch viertausend Meter Luft und dann das Meer, das hart wie Beton war, wenn er im freien Fall aufschlug.
«Raus!«, sagte der Pilot.
Spalko war mit einem Satz aus der Maschine. Er hörte ein Rauschen, fühlte den Wind auf seinem Gesicht. In elf Sekunden hatte er mit hundertachtzig Stundenkilo-metern die Endgeschwindigkeit im freien Fall erreicht. Und trotzdem hatte er nicht das Gefühl, rasend schnell zu fallen. Vielmehr schien die Luft sanft gegen seinen Körper zu drücken.
Er blickte nach unten, sah das Fischerboot und veränderte seine Körperhaltung, um den Nordnordostwind mit sechzehn Knoten zu kompensieren. Als das geschafft war, kontrollierte er den Höhenmesser an seinem Handgelenk. In 750 Meter Höhe zog er die Reißleine, spürte den Öffnungsstoß seines Fallschirms und hörte das Rascheln des Nylonmaterials, das sich über ihm entfaltete. Die weniger als einen Quadratmeter große Widerstandsfläche seines Körpers hatte sich schlagartig in eine fünfundzwanzig Quadratmeter große Fläche verwandelt. Dadurch sank er nur noch mit gut beherrschbaren fünf Metern in der Sekunde.
Über sich hatte Spalko das leuchtend blaue Himmelsgewölbe, und unter ihm erstreckte sich der weite Nordatlantik: ruhelos, in ständiger, wogender Bewegung, von der Abendsonne mit rötlichem Licht übergossen. Er sah das auf den Wellen tanzende Fischerboot und in weiter Ferne die ins Meer hinausragende Halbinsel, auf der Reykjavik lag. Der Wind versuchte ständig, ihn weiter von dem Boot wegzutragen, so dass Spalko einige Zeit damit beschäftigt war, seine Abtrift mit den Steuerleinen des Fallschirms zu kompensieren. Er atmete tief durch und genoss das Gefühl, in der Luft zu schweben.
Während er im endlosen Blau des Himmelsgewölbes zu hängen schien, dachte er an die sorgfältige Planung, die Jahre voll harter Arbeit, gerissener Manöver und geschickter Manipulationen, durch die er diesen Punkt erreicht hatte, den er nun als Höhepunkt seines Lebens betrachte-te. Er dachte an sein Jahr in Amerika, im tropischen Miami, an die schmerzhaften Eingriffe, die notwendig gewesen waren, um sein zerstörtes Gesicht wiederherzustellen. Er musste sich eingestehen, dass es Spaß gemacht hatte, Annaka von seinem angeblichen Bruder zu erzählen — aber wie hätte er seinen Aufenthalt in einer Nervenheilanstalt sonst erklären können? Er hätte ihr nie sagen dürfen, dass er eine leidenschaftliche Affäre mit ihrer Mutter gehabt hatte. Es war kinderleicht gewesen, die Ärzte und das Pflegepersonal zu bestechen, damit sie ihn mit der Patientin ungestört sein ließen. Wie völlig korrupt die Menschen doch sind, überlegte Spalko sich. Ein Großteil seines Erfolgs beruhte darauf, dass er diese Tatsache skrupellos ausgenützt hatte.
Was für eine außergewöhnliche Frau Sasa gewesen war! Er hatte niemals einen ähnlich wundervollen Menschen kennen gelernt. So war es ganz natürlich gewesen, dass er angenommen hatte, Annaka werde ihrer Mutter nachschlagen. Natürlich war er damals viel jünger gewesen, und seine jugendliche Torheit war entschuldbar.
Wie hätte Annaka wohl reagiert, fragte er sich, wenn er ihr die Wahrheit gesagt hätte: dass er als junger Mann der Sklave eines Gangsterbosses — einer rachsüchtigen, sadistischen Bestie — gewesen war, der ihn zu einer Vendetta losgeschickt hatte, obwohl er genau gewusst hatte, dass er Spalko in eine Falle schickte. Sie war zugeschnappt… und Spalkos Gesicht war das Ergebnis gewesen. Später hatte er sich an Wladimir gerächt, aber nicht auf die heldenhafte Weise, die er Sina geschildert hatte. Was er getan hatte, war wenig ehrenhaft gewesen, aber damals hatte er noch nicht selbstständig handeln können. Ganz im Gegensatz zu jetzt.
Spalko war noch über hundertfünfzig Meter hoch, als der Wind plötzlich scharf drehte. Er begann vom Boot abgetrieben zu werden, und betätigte die Steuerleinen, um die Abtrift zu verringern. Trotzdem gelang es ihm nicht, auf Gegenkurs zu gehen. Unter sich sah er Bewegung an Bord des Fischerboots und wusste, dass die Besatzung seinen Absprung aufmerksam beobachtete. Das Boot nahm Fahrt auf und begann ihm zu folgen.
Der Horizont wurde enger, und nun kam das Meer rasch näher, füllte sein gesamtes Blickfeld aus, als die Perspektive sich änderte. Der Wind schlief in einer Böenpause plötzlich fast ein, und Spalko wasserte, indem er den Schirm im letzten Augenblick so eindrehte, dass er fast ohne Spritzer eintauchte.
Er glitt mit den Beinen voraus ins Wasser, das ganz über ihm zusammenschlug. Obwohl er mental darauf vorbereitet war, traf der durch das eiskalte Wasser bewirkte Schock ihn wie ein Hammerschlag und raubte ihm den Atem. Das Gewicht des Kühlbehälters wollte ihn in die Tiefe ziehen, aber er glich es mit kräftigen, geübten Scherenschlägen aus. Dann tauchte er auf, warf den Kopf in den Nacken und atmete tief durch, während er sich von dem Gurtzeug befreite.
Im Wasser konnte Spalko das mahlende Geräusch der Schraube des Fischerboots hören und schwamm in diese Richtung, ohne auch nur hinzusehen. Aber die See ging so hoch, dass er seinen Versuch, dem Boot entgegenzuschwimmen, bald aufgeben musste. Bis das Fahrzeug längsseits kam, war er fast völlig erschöpft. Ohne den Überlebensanzug, das wusste er, wäre er bereits an Unterkühlung gestorben.
Ein Mann der Besatzung warf ihm eine Leine zu, wäh-rend ein anderer eine Strickleiter über Bord hängte. Spalko bekam die Leine zu fassen und klammerte sich daran fest, als sie eingeholt wurde, und erreichte so die Strickleiter. Er stieg sie hinauf und spürte, wie das Meer bis zum letzten Augenblick an ihm zerrte.
Eine kräftige Hand griff nach ihm und zog ihn an Bord. Spalko hob den Kopf und sah ein Gesicht mit durchdringend blauen Augen unter einem blonden Haarschopf.
«La illaha ill Allah«, sagte Hassan Arsenow.»Willkommen an Bord, Scheich.«
Spalko blieb stehen, während Besatzungsmitglieder ihn in wärmende Decken hüllten. »La illaha ill Allah«, antwortete er.»Ich hätte dich beinahe nicht erkannt.«
«Ich mich fast auch nicht«, sagte Arsenow,»als ich nach dem Haarfärben in den Spiegel gesehen habe.«
Spalko sah ihm scharf ins Gesicht.»Wie kommst du mit den Kontaktlinsen zurecht?«
«Mit denen hat keiner von uns Schwierigkeiten. «Ar-senow konnte den Blick nicht von dem Kühlbehälter wenden, den der Scheich sich ans Handgelenk gekettet hatte.»Du hast es mitgebracht!«
Spalko nickte. Ein Blick über Arsenows Schulter hinweg zeigte ihm Sina, die, von der untergehenden Sonne beschienen, am Ruderhaus stand. Ihr goldenes Haar wehte im Wind, und ihre kobaltblauen Augen erwiderten seinen Blick mit glühender Intensität.
«Nehmt wieder Kurs auf die Küste«, wies Spalko die Besatzung an.»Ich will mich umziehen.«
Er ging in die vordere Kajüte hinunter, in der auf einer Koje warme Kleidung für ihn bereitlag. Davor standen feste schwarze Schuhe an Deck. Spalko sperrte das
Kettenschloss auf und legte den Kühlbehälter auf die Koje. Während er seine klatschnassen Sachen und den Überlebensanzug abstreifte, untersuchte er seine Handgelenke, um zu sehen, wie stark sie von der Dichtmanschette aufgeschürft waren. Dann rieb und knetete er seine Hände, bis der Blutkreislauf wieder in Gang kam.
Während er noch dabei war, wurde die Tür hinter ihm rasch geöffnet und ebenso rasch wieder geschlossen. Er drehte sich nicht um, brauchte nicht nachzusehen, wer die Kajüte betreten hatte.
«Lass mich dich aufwärmen«, flötete Sina zuckersüß.
Im nächsten Augenblick spürte er den sanften Druck ihrer Brüste, die Hitze ihres Unterleibs an Rücken und Gesäß. Das Hochgefühl nach dem erfolgreichen Fallschirmsprung erfüllte ihn noch immer. Gesteigert wurde es durch die endgültige Auflösung seiner langen Beziehung zu Annaka Vadas, die Sinas Annäherungsversuch unwiderstehlich machte.
Er drehte sich um, setzte sich auf den Rand der Koje und ließ zu, dass sie ihn bestieg und mit Armen und Beinen umschlang. Sina glich einem brünstigen Tier. Er sah das Glitzern ihrer Augen, hörte die tief aus ihrem Inneren kommenden kehligen Laute. Sie verlor sich an ihn, und er war für den Augenblick befriedigt.
Rund eineinhalb Stunden später war Jamie Hull unterhalb der Straßenebene dabei, die Sicherheit der Lieferantenzufahrt des Hotels Oskjuhlid zu überprüfen, als er auf den Genossen Boris aufmerksam wurde. Der russische Sicherheitschef spielte den Überraschten, aber Hull ließ sich nicht täuschen. Er hatte das Gefühl, Boris beschatte ihn in letzter Zeit häufig, aber vielleicht litt er nur an Verfolgungswahn. Der wäre allerdings gerechtfertigt gewesen. Alle Teilnehmer des Gipfeltreffens waren im Hotel. Morgen um acht Uhr würde der Terrorismusgipfel und damit die Zeit der höchsten Gefährdung beginnen. Hull fürchtete, Genosse Boris habe Wind davon bekommen, was Fahd al-Sa’ud entdeckt, was der arabische Sicherheitschef und er ausgeheckt hatten.
Und damit Genosse Boris unter keinen Umständen ahnte, welche Ängste sein Herz beschwerten, setzte er ein Lächeln auf und machte sich bereit, zu Kreuze zu kriechen, wenn’s sein musste. Alles, damit Genosse Boris nur keinen Verdacht schöpfte.
«Sie machen Überstunden, wie ich sehe, mein guter Mr. Hull«, sagte Karpow mit seiner dröhnenden Ansagerstimme.»Keine Ruhe für die Müden, was?«
«Ausruhen können wir uns, wenn der Gipfel vorbei und unsere Arbeit getan ist.«
«Aber unsere Arbeit ist nie getan. «Heute trug Karpow einen seiner schlimmsten Sergeanzüge. Er sah mehr wie eine Rüstung als ein auch nur entfernt modisches Kleidungsstück aus.»Unabhängig davon, was wir erreichen, gibt’s immer noch viel mehr zu tun. Das gehört mit zu den Reizen unserer Arbeit, nicht wahr?«
Hull hatte gute Lust, Nein zu sagen, nur um einen Streit anzufangen, aber er biss sich stattdessen auf die Zunge.
«Und wie ist der Sicherheitsstand hier?«Karpow sah sich mit glänzenden schwarzen Rabenaugen um.»Doch hoffentlich dem hohen amerikanischen Standard entsprechend?«
«Ich habe gerade erst angefangen.«
«Dann ist Ihnen Hilfe sicher willkommen, nein? Zwei Köpfe sind besser als einer, vier Augen besser als zwei.«
Hull war plötzlich erschöpft. Er wusste gar nicht mehr, wie lange er schon in diesem gottverlassenen Land war oder wann er zum letzten Mal richtig ausgeschlafen hatte. Hier gab es nicht einmal Bäume, an denen man die Jahreszeit hätte ablesen können! So hatte eine Art Desorientierung eingesetzt, wie sie manchmal bei neuen Besatzungsmitgliedern auf U-Booten auftrat.
Hull beobachtete, wie die Sicherheitsleute einen Kühllaster anhielten, den Fahrer befragten und ihn den Laderaum öffnen ließen, damit sie seine Ladung überprüfen konnten. Soweit er feststellen konnte, waren das Verfahren und die praktische Durchführung in Ordnung.
«Finden Sie Island auch so deprimierend?«, fragte er Boris.
«Deprimierend? Diese Insel ist das reinste Wunderland, mein Freund«, dröhnte Karpow.»Verbringen Sie mal einen Winter in Sibirien, wenn Sie die Definition von deprimierend erleben wollen.«
Der Amerikaner runzelte die Stirn.»Sie sind nach Sibirien geschickt worden?«
Karpow lachte.»Ja, aber nicht so, wie Sie denken. Ich war dort im Einsatz, als die Spannungen zwischen Russland und China vor einigen Jahren zu eskalieren drohten. Sie wissen schon, geheime Kommandounternehmen, gewaltsame Aufklärung, alles in der dunkelsten, kältesten Umgebung, die Sie sich vorstellen können. «Er verzog das Gesicht.»Nein, als Amerikaner können Sie sich das vermutlich nicht vorstellen.«
Hull lächelte angestrengt weiter, aber er bezahlte dafür mit aufgestautem Ärger und schwindender Selbstachtung. Zum Glück fuhr gerade ein weiteres Fahrzeug vor, nachdem der Kühllaster die Kontrolle passiert hatte. Der
Kastenwagen kam von Reykjavik Energy. Aus irgendeinem Grund schien Genosse Boris sich für ihn zu interessieren, und Hull folgte ihm zu dem haltenden Fahrzeug. Es war mit zwei Männern in Overalls besetzt.
Karpow ließ sich den Arbeitsauftrag geben, den der Fahrer pflichtbewusst aus dem Fenster gereicht hatte, und warf einen Blick darauf.»Was machen Sie hier?«, fragte er charakteristisch überaggressiv.
«Vierteljährliche geothermische Überprüfung«, antwortete der Fahrer gleichmütig.
«Muss das ausgerechnet jetzt sein?«Karpow funkelte den Blonden an.
«Vorschrift. Unser System ist eng vernetzt. Wird es nicht regelmäßig gewartet, ist das ganze Netz gefährdet.«
«Nun, das dürfen wir natürlich nicht riskieren«, sagte Hull. Er nickte einem der Sicherheitsbeamten zu.»Kontrollieren Sie die Ladung. Ist alles klar, dann lassen Sie ihn passieren.«
Er entfernte sich von dem Fahrzeug, und der Russe folgte ihm.
«Diese Arbeit gefällt Ihnen nicht«, sagte Karpow,»habe ich Recht?«
Hull vergaß sich einen Augenblick, machte abrupt kehrt und baute sich vor dem Russen auf.»Klar gefällt sie mir. «Dann erinnerte er sich an seinen Vorsatz und setzte ein jungenhaftes Grinsen auf.»Nö, Sie haben Recht. Ich würde viel lieber meine, sagen wir mal, körperlichen Fertigkeiten gebrauchen.«
Karpow nickte und wirkte besänftigt.»Ja, ich verstehe. Es gibt nichts Befriedigenderes, als jemanden zu liquidieren.«
«Genau«, sagte Hull, der sich für das Thema zu er-
wärmen begann.»Denken Sie zum Beispiel an die Fahndung nach Jason Bourne. Was würde ich nicht dafür geben, ihn aufzuspüren und mit einem Kopfschuss zu erledigen!«
Karpows raupenförmige Augenbrauen gingen hoch.»Sie nehmen diese Sache anscheinend recht persönlich. Vor solchen Emotionen sollten Sie sich hüten, mein Freund. Sie beeinträchtigen Ihr Urteilsvermögen.«
«Scheiß drauf«, sagte Hull knapp.»Bourne hatte, was ich dringend wollte und was mir zugestanden hätte.«
Der Russe überlegte einen Augenblick.»Offenbar habe ich Sie falsch eingeschätzt, mein guter Freund Mr. Hull. Sie haben anscheinend doch mehr von einem Krieger in sich, als ich dachte. «Er schlug Hull auf den Rücken.»Was halten Sie davon, wenn wir bei einer Flasche Wodka alte Kriegserlebnisse austauschen?«
«Ich glaube, das ließe sich einrichten«, sagte Hull, als das Fahrzeug von Reykjavik Energy ins Hotel rollte.
Stepan Spalko trug zu dem Overall des Versorgungsunternehmens Reykjavik Energy farbige Kontaktlinsen und hatte seine Nase mit einem Formteil aus Latex breit und hässlich gemacht. Er stieg aus dem Kastenwagen und wies den Fahrer an, auf ihn zu warten. Mit dem Arbeitsauftrag auf einem Klemmbrett in der Rechten und einem kleinen Werkzeugkasten in der Linken marschierte er ins Labyrinth der Kellergeschosse unter dem Hotel. Ihre Grundrisse standen vor seinem inneren Auge wie eine dreidimensionale Planpause. Er kannte sich in den weitläufigen Kellergeschossen besser aus als viele der Haustechniker, denen jeweils nur die engen Bereiche vertraut waren, in denen sie arbeiteten.
Er brauchte zwölf Minuten, um den Teil des Kellers zu erreichen, über dem der Konferenzsaal lag, in dem das Gipfeltreffen stattfinden würde. Unterwegs wurde er viermal von Wachleuten angehalten, obwohl er den Besucherausweis, den er an der Einfahrt erhalten hatte, sichtbar am Overall trug. Er benützte die Treppe und ging ins dritte Kellergeschoss hinunter, wo er nochmals kontrolliert wurde. Dort war er der Fernwärmeeinspeisung nahe genug, um seine Anwesenheit plausibel zu machen. Aber hier lag auch eine Unterstation der Klimaanlage des Hotels, sodass der Sicherheitsbeamte darauf bestand, ihn zu begleiten.
Spalko blieb vor einem Schaltschrank stehen und öffnete ihn mit einem Dreikantschlüssel. Er spürte den forschenden Blick des Wachmanns wie eine Hand an seiner Kehle.
«Wie lange sind Sie schon hier?«, erkundigte er sich auf Isländisch, während er seinen Werkzeugkasten aufklappte.
«Sprechen Sie Russisch?«, fragte der Sicherheitsbeamte.
«Ja, das tue ich zufällig. «Spalko wühlte zwischen dem Werkzeug herum.»Sie sind jetzt wie lange hier — seit zwei Wochen?«
«Drei«, gab der Russe zu.
«Und haben Sie in dieser ganzen Zeit irgendwas von meiner schönen Heimat gesehen?«Er fand den kleinen Gegenstand, den er suchte, und verbarg ihn in einer Handfläche.»Wissen Sie überhaupt etwas über Island?«
Als der Wachmann den Kopf schüttelte, stürzte Spal-ko sich in seinen Vortrag.»Nun, dann will ich Ihnen wenigstens die Grundzüge erläutern. Island ist eine hundertdreitausend Quadratkilometer große Insel mit einer mittleren Höhe von fünfhundert Metern über dem Meer. Ihr höchster Berg, der Hvannadalshnükur, ist zweitausendeinhundertneunzehn Meter hoch; elf Prozent der Insel sind mit Gletschern bedeckt, zu denen der Vat-najökull, der größte Gletscher Europas, gehört. Regiert werden wir von dem Althing, dessen dreiundsechzig Mitglieder alle vier Jahre gewählt werden, und…«
Spalko verstummte, als der Sicherheitsbeamte, den diese Informationen aus einem Reiseführer unsäglich langweilten, sich abwandte und davonging. Er machte sich sofort an die Arbeit, setzte die kleine Scheibe auf zwei Kabel und drückte kräftig darauf, bis er bestimmt wusste, dass ihre vier Kontakte die Isolierung durchstoßen hatten.
«Hier bin ich fertig«, sagte er und knallte die Tür des Schaltschranks zu.
«Wohin jetzt? Zum Fernwärmeverteiler?«, fragte der Wachmann, der sich sichtlich wünschte, seine Schicht wäre bald zu Ende.
«Nö«, sagte Spalko,»muss erst mit dem Boss reden. Ich gehe zum Wagen zurück. «Er winkte, als er sich in Bewegung setzte, aber der Sicherheitsbeamte ging bereits in Gegenrichtung davon.
Spalko kehrte zu ihrem Wagen zurück, stieg ein und blieb neben dem Fahrer sitzen, bis ein Wachmann herangeschlendert kam.
«Okay, Jungs, was ist los?«
«Für diesmal sind wir fertig. «Spalko lächelte gewinnend, während er auf seinem angeblichen Arbeitsblatt einige sinnlose Eintragungen machte. Dann sah er auf seine Uhr.»Wir waren länger hier, als ich dachte. Danke, dass Sie uns geholfen haben.«
«He, das ist mein Job.«
Als der Fahrer den Motor anließ und den ersten Gang einlegte, sagte Spalko:»Da siehst du, wie wertvoll ein Probelauf ist. Wir haben genau eine halbe Stunde Zeit, bevor sie sich auf die Suche nach uns machen.«
Der zweistrahlige Businessjet raste durch den Nachthimmel. Bourne gegenüber saß Chan, der starr geradeaus blickte, ohne etwas Bestimmtes anzusehen. Bourne schloss die Augen. Die Deckenbeleuchtung war ausgeschaltet. Im Halbdunkel warfen nur einige Leselampen ovale Lichtflecken auf leere Sessel. In einer Stunde würden sie auf dem Flughafen Keflavik landen.
Bourne saß unbeweglich da. Am liebsten hätte er den Kopf in die Hände gestützt und bittere Tränen über die Sünden der Vergangenheit geweint, aber da Chan ihm gegenübersaß, durfte er sich nichts erlauben, was als Schwäche gedeutet werden konnte. Der vorläufige Waffenstillstand, auf den sie sich geeinigt hatten, erschien ihm zerbrechlich wie eine Eierschale. Es gab so viele Dinge, die das Potenzial besaßen, ihn zu zerquetschen. Emotionen wühlten Bourne innerlich auf, machten ihm das Atmen schwer. Die Schmerzen, die er überall an seinem gemarterten Körper spürte, waren nichts im Vergleich zu der Pein, die sein Herz zu zerreißen drohte. Er umklammerte die Sitzlehnen mit solcher Gewalt, dass seine Fingergelenke knackten. Er wusste, dass er sich unbedingt beherrschen musste, genau wie er wusste, dass er keinen Augenblick länger auf seinem Platz verharren konnte.
Er stand auf, überquerte den Mittelgang wie ein Schlafwandler und ließ sich in dem Sessel neben Chan nieder. Der junge Mann gab durch nichts zu erkennen, dass er seine körperliche Nähe spürte. Wäre seine rasche Atemfrequenz nicht gewesen, hätte er sich in einem Zustand tiefer Meditation befinden können.
Während sein Herz schmerzhaft gegen die gebrochenen Rippen hämmerte, sagte Bourne leise:»Wenn du mein Sohn bist, muss ich Gewissheit haben. Verstehst du — absolute Gewissheit.«
«Mit anderen Worten, du glaubst mir nicht.«
«Ich will dir glauben«, sagte Bourne, indem er sich bemühte, die inzwischen vertraute Schärfe in Chans Stimme zu überhören.»Das müsstest du wissen.«
«Was dich betrifft, weiß ich weniger als gar nichts. «Als Chan sich ihm jetzt zuwandte, war sein Gesicht von mühsam beherrschter Wut verzerrt.»Kannst du dich überhaupt nicht an mich erinnern?«
«Joshua war damals sechs, noch ein Kind. «Bourne fühlte einen Kloß im Hals, der sich nicht hinunterschlucken ließ.»Und ich habe vor einigen Jahren das Gedächtnis verloren.«
«Das Gedächtnis verloren?«Diese Mitteilung schien Chan zu verblüffen.
Bourne erzählte, was ihm zugestoßen war.»Ich kann mich nur an Bruchstücke meines Lebens als Jason Bourne vor diesem Zeitpunkt erinnern«, schloss er,»und an praktisch nichts aus meinem Leben als David Webb. Nur manchmal stößt ein Geruch oder eine Stimme etwas an, das ein weiteres Fragment an die Oberfläche steigen lässt. Aber mehr als ein Bruchstück des für mich verschütteten Ganzen ist’s nie.«
Im schwachen Licht der Kabinenbeleuchtung suchte er Chans dunkle Augen, suchte die Spur eines Ausdrucks, selbst den geringsten Hinweis darauf, was Chan vielleicht fühlte oder dachte.»Das ist die Wahrheit. Wir sind einander völlig fremd. Bevor wir also weitermachen…«Er brachte den Satz nicht zu Ende, konnte im Augenblick nicht weitersprechen. Aber dann gab er sich einen Ruck und zwang sich dazu, weil die Stille, die sich so rasch zwischen ihnen ausbreitete, schlimmer war als die Explosion, die bestimmt kommen würde.»Versuch bitte, mich zu verstehen. Ich brauche einen Beweis, etwas Unwiderlegbares.«
«Scheißkerl!«
Chan stand auf, um an Bourne vorbei auf den Gang zu treten, aber wie in Spalkos Folterkammer hielt ihn etwas zurück. Und dann glaubte er plötzlich wieder, Bournes Stimme auf dem Dach von Annakas Haus in Budapest zu hören:»Darauf legst du’s an, was? Diese ganze verrückte Geschichte, dass du Joshua sein sollst… Ich denke gar nicht daran, dich zu diesem Spalko oder sonst jemandem zu führen. Ich lasse mich von niemandem mehr als Werkzeug missbrauchen.«
Chan umfasste den aus Stein geschnittenen Buddha an seiner Halskette und setzte sich wieder. Stepan Spalko hatte sie beide als Werkzeug missbraucht. Es war Spalko gewesen, der sie zusammengeführt hatte, und eine Ironie des Schicksals wollte es, dass ihre gemeinsame Feindschaft Spalko gegenüber sie wenigstens vorerst geeint hatte.
«Es gibt etwas«, sagte er mit einer Stimme, die er selbst kaum erkannte.»Einen wiederkehrenden Albtraum, in dem ich unter Wasser bin. Ich werde ertränkt, in die Tiefe gezogen, weil ich an ihre Leiche gefesselt bin. Sie ruft mich. Ich höre ihre Stimme rufen — oder meine Stimme, die sie ruft.«
Bourne erinnerte sich daran, wie Chan in der Donau um sich geschlagen, wie er in seiner Panik in eine Strömung geraten war, die ihn in die Tiefe gezogen hätte.»Was sagt die Stimme?«
«Es ist meine Stimme. Ich sage: >Li-Li, Li-Li.<«
Bourne hatte das Gefühl, sein Herz setze einen Schlag aus, denn aus den Tiefen seiner eigenen verschütteten Erinnerung stieg Li-Li auf. Einen kostbaren Augenblick lang konnte er ihr ovales Gesicht mit den hellen Augen und Daos glattem schwarzem Haar sehen.»O Gott«, flüsterte Bourne.»Li-Li war Joshuas Kosename für Alys-sa. Nur er hat sie so genannt. Außer uns vieren hat niemand davon gewusst.«
Li-Li.
«Eine meiner stärksten Erinnerungen, die ich mit professioneller Hilfe zurückgewonnen habe, betrifft das Verhältnis zwischen euch Geschwistern — wie deine Schwester dich bewundert hat«, fuhr Bourne fort.»Sie wollte immer und überall in deiner Nähe sein. Wenn sie nachts schlecht geträumt hat, konntest nur du sie beruhigen. Du hast sie Li-Li genannt und sie dich Joshy.«
Meine Schwester, ja. Li-Li. Chan schloss die Augen und befand sich sofort im trüben Wasser des Flusses in Phnom Penh. Dem Ertrinken nahe, unter Schock stehend, hatte er sie auf sich zutreiben gesehen: die von Kugeln durchsiebte Leiche seiner kleinen Schwester. Li-Li. Vier Jahre alt. Tot. Ihre hellen Augen — Daddys Augen — starrten ihn blicklos, anklagend an. Warum du? schienen sie zu fragen. Warum du und nicht ich? Aber er wusste, dass das die Stimme seines schlechten Gewissens war. Hätte Li-Li sprechen können, hätte sie gesagt: Ich bin froh, dass du nicht gestorben bist, Joshy. Ich bin glücklich, dass einer von uns bei Daddy bleiben kann.
Chan verbarg sein Gesicht in den Händen und wandte sich dem ovalen Fenster zu. Er wollte sterben, er wünschte sich, er wäre im Fluss gestorben und Li-Li hätte an seiner Stelle überlebt. Er konnte dieses Leben keine Sekunde länger ertragen. Was hatte er schließlich noch von ihm zu erwarten? Im Tod wäre er wenigstens wieder mit ihr vereint gewesen…
«Chan.«
Das war Bournes Stimme. Aber er konnte es nicht ertragen, sich im zuzuwenden, ihm in die Augen zu sehen. Er hasste ihn, und er liebte ihn. Er konnte nicht begreifen, wie das möglich war; er war schlecht darauf vorbereitet, sich mit dieser emotionalen Anomalie auseinander zu setzen. Mit einem erstickten Laut stand er auf, zwängte sich an Bourne vorbei und stolperte in der Kabine nach vorn, um ihn nicht mehr sehen zu müssen.
Mit unsäglichem Kummer beobachtete Bourne, wie sein Sohn vor ihm flüchtete. Er musste fast übermenschliche Beherrschung aufbringen, um den Drang zu unterdrücken, ihn aufzuhalten, ihn in die Arme zu schließen und an seine Brust zu drücken. Aber er spürte, dass er im Augenblick nichts Ungeschickteres hätte tun können, dass diese natürliche Regung angesichts Chans Vorgeschichte zu erneuter Gewalt zwischen ihnen hätte führen können.
Er hegte keine Illusionen. Sie hatten beide einen steinigen Weg vor sich, bevor sie einander als Vater und Sohn anerkennen konnten. Vielleicht war das sogar eine unlösbare Aufgabe. Aber weil es nicht seine Angewohnheit war, etwas für unmöglich zu halten, verdrängte er diese beängstigende Vorstellung.
Vor Seelenqual erschauernd wurde ihm bewusst, warum er so angestrengt versucht hatte, die Möglichkeit zu leugnen, Chan könnte sein Sohn sein. Annaka — der Teufel sollte sie holen — hatte sein Dilemma genau erkannt.
In diesem Augenblick sah er auf. Chan stand über ihm, und seine Hände umklammerten die Sitzlehne, als ginge es ums liebe Leben.
«Du hast gesagt, dass du erst vor kurzem erfahren hast, dass ich als vermisst gegolten habe.«
Bourne nickte.
«Wie lange hat man mich gesucht?«, fragte Chan.
«Du weißt, dass ich diese Frage nicht beantworten kann. Das kann niemand. «Bourne log instinktiv. Wenn er Chan erzählte, dass die zuständigen Stellen nur eine Stunde lang gesucht hatten, war damit nichts zu gewinnen, aber vielleicht viel zu verlieren. Er empfand das starke Bedürfnis, seinen Sohn vor der Wahrheit zu beschützen.
Über Chan war eine bedrohliche Stille gekommen, als bereite er sich darauf vor, etwas zu tun, das schreckliche Folgen haben konnte.»Warum hast du mich nicht selbst gesucht?«
Bourne hörte seinen anklagenden Tonfall und saß da wie vor den Kopf geschlagen. Das Blut drohte ihm in den Adern zu gefrieren. Seit ihm klar geworden war, dass Chan Joshua sein könnte, hatte auch er sich diese Frage gestellt.
«Ich war halb wahnsinnig vor Kummer und Schmerz«, sagte er,»aber das reicht nachträglich nicht als Entschuldigung. Ich konnte mir nicht eingestehen, dass ich euch allen gegenüber als Familienvater versagt hatte.«
Chans Gesichtsausdruck veränderte sich leicht, als durchzucke ihn ein schmerzlicher Gedanke.»Du musst.
Schwierigkeiten gehabt haben, als du mit meiner Mutter in Phnom Penh gelebt hast.«
«Wie meinst du das?«Bourne beunruhigten Chans Worte, und er sprach in einem Tonfall, der vielleicht schärfer war als angebracht.
«Das weißt du. Haben deine Kollegen nicht über dich gelästert, weil du eine Thai geheiratet hattest?«
«Ich habe Dao von ganzem Herzen geliebt.«
«Marie ist keine Thai, stimmt’s?«
«Chan, wir suchen es uns nicht aus, in wen wir uns verlieben.«
Nun folgte eine kurze Pause, dann sagte Chan in der zwischen ihnen herrschenden gespannten Stille lässig, als sei ihm dieser Gedanke nachträglich gekommen:»Und dann war da natürlich das Problem mit deinen beiden Mischlingskindern.«
«So habe ich’s nie gesehen«, sagte Bourne ausdruckslos. Das Herz wollte ihm brechen, denn er hörte den stummen Aufschrei unter all diesen Fragen.»Ich habe Dao geliebt, ich habe Alyssa und dich geliebt. Mein Gott, ihr wart mein Leben! In den Wochen und Monaten danach habe ich fast den Verstand verloren. Ich war am Boden zerstört, wusste nicht, ob ich weiterleben wollte. Wäre ich Alex Conklin nicht begegnet, hätte ich vielleicht Schluss gemacht. Und auch dann hat es jahrelange Schwerarbeit gekostet, wieder einigermaßen auf die Beine zu kommen.«
Er verstummte sekundenlang, hörte sie beide schwer atmen. Dann holte er tief Luft und sagte:»Ich habe immer geglaubt, immer mit der Tatsache gekämpft, dass ich hätte da sein sollen, um euch zu beschützen.«
Chan betrachtete ihn lange, aber die Spannung hatte sich gelöst, ein Rubikon war nun überschritten.»Du hättest nichts tun können, du wärst auch umgekommen.«
Er wandte sich ohne ein weiteres Wort ab, und während er das tat, sah Bourne Dao in seinen Augen und wusste, dass seine Welt sich tief greifend verändert hatte.