Kapitel fünfzehn

Das an- und abschwellende Geheul von Polizeisirenen riss sie aus ihrem Schockzustand. Bourne rannte ans Wohnzimmerfenster, blickte auf den Rosenhügel hinaus und sah ein halbes Dutzend Opel Astra und Skoda Felicia mit eingeschaltetem Blaulicht vorfahren. Die herausspringenden Uniformierten stürmten sofort in Molnars Gebäude. Er war wieder in eine Falle geraten! Diese Szene war der in Conklins Haus so ähnlich, dass er wusste, dass hinter beiden Vorfällen derselbe Kopf stecken musste.

Das war wichtig, weil es ihm zweierlei bewies: Erstens wurden Annaka und er beschattet. Von wem? Von Chan? Das glaubte er nicht, denn Chan ging in letzter Zeit immer mehr zu offener Konfrontation über. Zweitens konnte Chan die Wahrheit gesagt haben, als er behauptet hatte, er habe Alex und Mo nicht ermordet. Im Augenblick fiel Bourne kein Grund ein, weshalb Chan in dieser Beziehung lügen sollte. Folglich blieb nur der Unbekannte übrig, der die Polizei zu Conklins Landhaus geschickt hatte. Lebte sein Auftraggeber hier in Budapest? Darin lag eine überzeugende Logik. Conklin war nach Budapest unterwegs gewesen, als er ermordet wurde. Dr. Schiffer war ebenso wie Janos Vadas und Laszlo Molnar in Budapest gewesen. Alle Wege führten in diese Stadt.

Noch während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, wies er Annaka an, das Glas abzuwischen, es zurückzustellen und über den Schwenkhahn am Ausguss zu wischen. Er griff sich Molnars Notebook, wischte Türknopf und Klinke der Wohnungstür ab und spurtete mit Annaka ins Treppenhaus hinaus.

Unten trampelten schon Polizeibeamte durch die Eingangshalle. Der Aufzug würde voller Uniformierter sein, kam also nicht in Frage.

«Sie lassen uns keine andere Wahl«, sagte Bourne auf dem Weg zur Treppe.»Wir müssen nach oben.«

«Aber wieso sind sie jetzt gekommen?«, fragte Annaka ratlos.»Woher wussten sie, dass wir hier sind?«

«Sie haben’s nicht gewusst«, sagte Bourne weiter auf dem Weg nach oben,»außer wir werden überwacht. «Ihm gefiel es nicht, in welche Lage die Polizei sie brachte. Er erinnerte sich nur allzu gut an das Schicksal des Attentäters in der Matthiaskirche. Stieg man irgendwo hinauf, kam man allzu oft sehr unsanft wieder herunter.

Sie waren im vorletzten Stock unter dem Dach angelangt, als Annaka seine Hand ergriff und ihn mit sich zog.»Hierher!«, flüsterte sie.

Sie führte ihn den Korridor entlang. Hinter ihnen dröhnte das Treppenhaus von dem Lärm, den jede Gruppe von Männern gemacht hätte — vor allem eine, die unterwegs war, um einen abscheulichen Mörder zu verhaften. Nach drei Vierteln des Korridors erreichten sie eine Tür, die ein Notausgang hätte sein können. Annaka zog sie auf. Sie standen vor einem kurzen Gang, nicht länger als drei Meter, der vor einer zerschrammten Stahltür endete. Bourne erreichte sie als Erster.

Die Tür war oben und unten verriegelt. Er zog die Riegel zurück und öffnete die schwere Feuerschutztür. Dahinter befand sich nur eine unverputzte Ziegelwand, kalt wie ein Grab.

«Seht euch den bloß an!«, sagte Kommissar Csilla und ignorierte den blutjungen Beamten, der auf seine auf Hochglanz polierten Schuhe gekotzt hatte. Die Ausbildung an der Akademie hat doch gewaltig nachgelassen, dachte er, während er den in seinen eigenen Kühlschrank gezwängten Toten begutachtete.

«In der Wohnung ist sonst niemand«, meldete einer seiner Beamten.

«Trotzdem nach Fingerabdrücken absuchen«, entschied Kommissar Csilla. Er war ein stämmiger blonder Mann mit Boxernase und intelligenten Augen.»Ich bezweifle, dass der Täter so dämlich war, welche zu hinterlassen, aber man weiß nie. «Er zeigte auf den Toten.»Seht euch bloß diese Verbrennungen an! Und die Stichwunden scheinen sehr tief zu sein.«

«Gefoltert«, sagte sein Sergeant, ein schmalhüftiger junger Mann.»Von einem Profi.«

«Dieser hier ist mehr als ein Profi. «Csilla beugte sich nach vorn und schnüffelte, als sei der Leichnam eine Schweinehälfte, die er in Verdacht hatte, nicht mehr ganz frisch zu sein.»Ihm macht die Arbeit Spaß.«

«Der Anrufer hat gesagt, der Täter sei hier in der Wohnung.«

Kommissar Csilla blickte auf.»Wenn nicht in der Wohnung, dann bestimmt im Haus. «Er trat vom Kühlschrank zurück, als die Spurensicherer mit ihren Köffer-chen und Kameras hereinkamen.»Lassen Sie die Männer ausschwärmen.«

«Schon veranlasst«, sagte sein Sergeant in einem Ton, als wolle er seinen Boss dezent daran erinnern, dass er nicht die Absicht habe, ewig Sergeant zu bleiben.

«Wir waren lange genug bei dem Toten«, entschied

Kommissar Csilla.»Mal sehen, was unsere Leute machen.«

Als sie den Korridor entlanggingen, erläuterte der Sergeant, Erdgeschoss und Aufzug würden bereits überwacht.»Dem Mörder bleibt nur noch der Weg nach oben.«

«Schicken Sie Scharfschützen aufs Dach«, sagte Kommissar Csilla.

«Bereits veranlasst«, antwortete sein Sergeant.»Ich habe sie gleich mit dem Aufzug nach oben geschickt.«

Csilla nickte.»Wie viele Stockwerke über uns? Drei?«

«Genau.«

Csilla nahm je zwei Treppenstufen auf einmal.»Nachdem das Dach besetzt ist, können wir uns Zeit lassen.«

Sie brauchten nicht lange, um die Tür zu dem kurzen Gang zu finden.

«Wohin führt die?«, fragte Csilla.

«Weiß ich nicht«, sagte sein Sergeant, der sich darüber ärgerte, dass er’s nicht wusste.

Als die beiden Männer den Gang betraten, sahen sie die zerschrammte Stahltür am anderen Ende.»Wo die wohl hinführt?«Csilla betrachtete sie prüfend.»Oben und unten Riegel. «Er beugte sich nach vorn, sah blankes Metall glänzen.»Die sind vor kurzem geöffnet worden. «Er zog seine Pistole und öffnete die schwere Tür, hinter der eine unverputzte Ziegelwand sichtbar wurde.

«Unser Mörder dürfte ebenso frustriert gewesen sein wie wir.«

Csilla starrte das Mauerwerk an und versuchte zu erkennen, ob einzelne Teile davon neu waren. Dann streckte er eine Hand aus, drückte gegen einen Ziegel nach dem anderen. Der sechste Ziegel, den er berührte, bewegte sich kaum merklich. Weil er spürte, dass seinem Sergeanten ein überraschter Ausruf auf der Zunge lag, hielt er ihm rasch den Mund zu und bedachte ihn mit einem warnenden Blick. Dann flüsterte er ihm ins Ohr:»Nehmen Sie drei Männer mit, und durchsuchen Sie das Nachbarhaus.«

Anfangs glaubte Bourne, der sein Gehör in der pechschwarzen Dunkelheit bis zum Äußersten anstrengte, das Geräusch komme von einer der Ratten, mit denen sie sich diesen feuchten und unbequemen Raum zwischen den Brandmauern von Molnars Haus und dem Nachbarhaus teilten. Dann wiederholte es sich, und er erkannte, was es war: das Scharren eines Ziegelsteins auf Mörtel.

«Sie haben unser Versteck gefunden«, flüsterte er und umklammerte Annakas Hand.»Wir müssen hier raus.«

Der Raum, in dem sie sich befanden, war eng, kaum schulterbreit, aber er schien unendlich weit ins Dunkel über ihren Köpfen hinaufzureichen. Sie standen auf einer Art Gitterrost aus Leitungsrohren. Der Rost wirkte nicht sehr stabil, und Bourne dachte lieber nicht an die Tiefe, in die sie stürzen mussten, falls eines dieser Rohre oder sogar mehrere nachgaben.

«Weißt du, wie wir hier wieder herauskommen?«, flüsterte Bourne.

«Ich denke schon«, sagte sie ebenso leise.

Annaka wandte sich nach rechts, tastete sich mit den Händen die Brandmauer des Nachbarhauses entlang.

Einmal stolperte sie, richtete sich wieder auf.»Irgendwo hier muss es sein«, murmelte sie.

Sie tasteten sich weiter vorwärts, setzten einen Fuß vor den anderen. Dann gab plötzlich ein Rohr unter Bournes Gewicht nach, und sein linker Fuß trat ins Leere. Er warf sich so heftig zur Seite, dass er mit der Schulter gegen die Wand prallte, wobei Molnars Notebook ihm aus der Hand gerissen wurde. Er versuchte noch, es wieder zu erwischen, als Annaka bereits nach unten griff, um ihn zu packen und heraufzuziehen. Das Notebook prallte von einem anderen Rohr ab, fiel durch die Lücke, die das gebrochene Leitungsrohr hinterlassen hatte, und verschwand in der Tiefe.

«Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Annaka, als er wieder neben ihr stand.

«Mir fehlt nichts«, sagte er grimmig,»aber das Notebook ist futsch.«

Im nächsten Augenblick erstarrte er, weil er hinter ihnen langsame, vorsichtige Bewegungen hörte — außer ihnen atmete hier noch jemand! Er zog die Stablampe aus seiner Tasche und ließ den Daumen auf der Schiebetaste. Er brachte seine Lippen dicht an Annakas Ohr.»Er ist mit uns hier drinnen. Kein Wort mehr. «Während er ihr Nicken spürte, stieg ihm der Duft ihrer nackten Haut in die Nase: ein teures Eau de Toilette mit Limonenöl und Moschus.

Dann schepperte hinter ihnen etwas, als ein Schuh des Polizeibeamten gegen eine Rohrmuffe stieß. Alle drei blieben sekundenlang stocksteif stehen. Bournes Herz jagte. Dann ertastete Annaka seine Hand und führte sie die Mauer entlang zu einer Stelle, wo der Mörtel zwischen den Ziegeln fehlte oder herausgekratzt worden war.

Hier ergab sich jedoch ein weiteres Problem. Sobald sie die Geheimtür in der Mauer aufstießen, würde der Polizeibeamte hinter ihnen den blassen Lichtschein — und sei er noch so schwach — sehen, der von der anderen

Seite einfiel. Er würde sie sehen und erkennen, wohin sie unterwegs waren. Bourne riskierte es, seine Lippen an Annakas Ohr zu legen und zu flüstern:»Du musst mich warnen, kurz bevor du die Tür öffnest.«

Sie drückte seine Hand, um zu zeigen, dass sie verstanden hatte, und hielt sie weiter fest. Als er den nächsten Druck spürte, zielte er mit der Stablampe hinter sich und schaltete sie ein. Der gleißend helle Lichtstrahl blendete ihren Verfolger für einen Augenblick, und Bourne verwandte seine ganze Energie darauf, Annaka zu helfen, die ungefähr einen mal einen Meter messende Geheimtür aufzustoßen.

Annaka schlüpfte hindurch, während Bourne den Lichtstrahl weiter auf ihren Verfolger gerichtet hielt. Aber dann fühlte er die Leitungsrohre unter seinen Stiefelsohlen vibrieren, und im nächsten Augenblick traf ihn ein gewaltiger Schlag.

Kommissar Csilla versuchte, trotz des blendend hellen Lichtstrahls etwas zu erkennen. Sein Aufflammen hatte ihn überrascht, was ihn ärgerte, weil er stolz darauf war, stets auf alles gefasst zu sein. Er schüttelte mit zusammengekniffenen Augen den Kopf, aber das nützte nichts — das helle Licht blendete ihn. Blieb er, wo er war, bis die Lampe ausgeknipst wurde, war der Mörder verschwunden, bevor er ihn einholen konnte. Deshalb nutzte Csilla sein eigenes Überraschungsmoment aus und griff an, obwohl er geblendet war. Vor Anstrengung grunzend stürmte er über die unter seinen Füßen nachgebenden Rohre hinweg, er hielt den Kopf wie ein Straßenkämpfer gesenkt und prallte so mit dem Täter zusammen.

Im Nahkampf schadete es nicht weiter, dass Csilla ge-blendet war, als er sich daran machte, seine Fäuste, die Handkanten und die Absätze seiner festen Schuhe genau so einzusetzen, wie er es auf der Akademie gelernt hatte. Er war ein Mann, der an Disziplin, Exaktheit und die energische Ausnützung von Vorteilen glaubte. In dem Augenblick, in dem er sich auf den Mörder stürzte, wusste er genau, dass sein Angriff völlig überraschend kam, deshalb deckte er ihn sofort mit einem Hagel von Schlägen ein, um seinen Vorteil bestmöglich zu nutzen.

Aber der Mann war kräftig gebaut und stark. Noch schlimmer war, dass er ein erfahrener Nahkämpfer war, sodass Csilla fast augenblicklich erkannte, dass er in einem längeren Kampf unterliegen würde. Deshalb versuchte er, eine rasche Entscheidung herbeizuführen. Dabei machte er den schlimmen Fehler, eine Halsseite ungeschützt zu lassen. Er spürte einen überraschenden Druck, aber keinen Schmerz. Als seine Beine unter ihm nachgaben, war er schon bewusstlos.

Bourne kroch durch die Geheimtür in der Mauer und half Annaka, das Ziegelquadrat wieder einzusetzen.

«Was war mit dir?«, fragte sie atemlos.

«Ein Polizeibeamter war schlauer, als für ihn gut war.«

Sie befanden sich auf einem weiteren kurzen Gang mit unverputzten Ziegelwänden. Hinter einer Tür lag ein Korridor des Nachbarhauses im warmen Licht von Wandleuchtern auf den Tapeten mit Blumenmuster. Hier und da standen Sitzbänke aus dunklem Holz.

Annaka hatte bereits den Rufknopf des Aufzugs gedrückt, aber als er heraufkam, konnte Bourne in dem schmiedeeisernen Käfig zwei Polizeibeamten mit schussbereiten Waffen sehen.

«Verdammt!«, sagte er, ergriff Annakas Hand und zog sie hinter sich her ins Treppenhaus. Aber als er dort schwere Schritte heraufkommen hörte, wusste er, dass auch dieser Fluchtweg versperrt war. Hinter ihnen hatten die beiden Polizeibeamten das Aufzuggitter geöffnet und kamen den Korridor entlang gerannt. Bourne lief mit Annaka einen Stock höher. Auf dem oberen Flur knackte er das Schloss der ersten Wohnungstür, die sie erreichten, und zog sie hinter ihnen zu, bevor die Polizeibeamten die Treppe heraufkamen.

In dem Apartment war es dunkel und still. Ob jemand zu Hause war, war nicht festzustellen. Bourne trat ans Flurfenster, öffnete es lautlos und blickte an einem Sims vorbei in eine schmale Gasse hinunter, auf der zwei riesige grüne Müllbehälter standen. Der einzige Lichtschein kam von einer Straßenlampe auf der Endrodi utca. Drei Fenster weiter führte eine Feuertreppe zu der Gasse hinunter, die menschenleer war, soweit Bourne das feststellen konnte.

«Komm!«, sagte er und kletterte auf den Sims hinaus.

Annaka machte große Augen.»Du spinnst wohl?«

«Willst du geschnappt werden?«Er sah sie nüchtern an.»Dies ist unser einziger Ausweg.«

Sie schluckte unbehaglich.»Ich habe Höhenangst.«

«Wir sind nicht sehr hoch. «Er streckte eine Hand aus, winkte sie mit den Fingern zu sich heran.»Komm schon, wir haben’s eilig!«

Sie holte tief Luft, dann stieg sie über die Fensterbank. Bourne schloss das Fenster hinter ihr. Annaka drehte sich um, sah dabei nach unten und wäre vom Sims gestürzt, wenn Bourne sie nicht gepackt und an die Hauswand gedrückt hätte.»Jesus, du hast gesagt, dass wir nicht sehr hoch sind!«

«Für meine Begriffe nicht.«

Annaka biss sich auf die Unterlippe.»Dafür bringe ich dich um!«

«Das hast du schon versucht. «Bourne drückte ihre Hand.»Komm einfach mit, dann passiert dir nichts. Ich versprech’s dir.«

Sie tasteten sich den Sims entlang bis zu der Stelle vor, wo er wegen eines Fensters unterbrochen war. Bourne wollte Annaka nicht drängen, aber sie hatten es verdammt eilig. Da die Polizisten dieses Gebäude durchsuchten, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie auch in die Gasse unter ihnen kamen.

«Du musst jetzt meine Hand loslassen«, sagte er, und weil er sah, was sie tun wollte, fügte er scharf genug hinzu, um sie daran zu hindern:»Nicht nach unten sehen! Wenn du das Gefühl hast, dir wird schwindlig, konzentrierst du dich auf etwas Kleines, auf eine in Stein gehauene Verzierung, irgendwas. Lenk dich damit ab, dann vergeht deine Angst ganz von selbst.«

Sie nickte, ließ seine Hand los, und er machte einen großen Schritt über die Lücke zwischen den Simsen hinweg. Die rechte Hand packte den Sims über dem nächsten Fenster, und er verlagerte sein Gewicht von der linken auf die rechte Seite. Als er den linken Fuß von dem Sims nahm, auf dem Annaka noch stand, gelangte er scheinbar mühelos auf den anderen Sims. Dann wandte er sich ihr zu, lächelte und streckte ihr die Hand hin.

«Jetzt du.«

«Nein. «Sie schüttelte energisch den Kopf. Ihr Gesicht war leichenblass.»Ich kann nicht!«

«Doch du kannst. «Er winkte sie wieder mit den Fingern zu sich heran.»Komm, Annaka, mach den ersten

Schritt — alles andere ist einfach. Du brauchst dein Gewicht nur von rechts nach links zu verlagern.«

Sie schüttelte stumm den Kopf.

Er lächelte weiter, ließ sich seine wachsende Besorgnis nicht anmerken. Hier an der Außenwand des Gebäudes waren sie leichte Ziele. Tauchte unten in der Gasse Polizei auf, waren sie erledigt. Sie mussten so schnell wie möglich die Feuertreppe erreichen.»Nur ein Fuß, Anna-ka, den rechten Fuß ausstrecken.«

«Jesus!«Sie hatte jetzt die Stelle erreicht, an der er bis vor einer halben Minute gestanden hatte.»Was ist, wenn ich falle?«

«Du fällst nicht.«

«Aber wenn…«

«Dann fange ich dich auf. «Sein Lächeln wurde breiter.»Los, komm schon!«

Annaka tat wie geheißen, streckte das rechte Bein aus und stellte den Fuß auf den anderen Sims. Er zeigte ihr, wie sie sich mit der rechten Hand über dem Fenster festhalten konnte. Das tat sie ohne Zögern.

«Jetzt verlagerst du dein Gewicht von links nach rechts, dann bist du drüben.«

«Ich kann nicht.«

Sie war kurz davor, in die Tiefe zu sehen, das wusste er.»Mach die Augen zu«, sagte er.»Spürst du meine Hand auf deiner?«Sie nickte nur, als fürchte sie, die Schwingungen ihres Kehlkopfs könnten ihren Griff lockern und sie abstürzen lassen.»Verlagere dein Gewicht, Annaka. Du brauchst es nur von links nach rechts zu verlagern. Schön, jetzt hebst du den linken Fuß und machst einen Schritt.«

«Nein.«

Er legte seine Hand um ihre Taille.»Also gut, dann heb nur den linken Fuß. «Sobald sie das tat, zog er sie ruckartig und mit ziemlicher Gewalt an sich und auf den nächsten Sims. Sie sank gegen ihn, zitternd vor Angst und nachlassender Anspannung.

Nur noch zwei Lücken zu überwinden. Bourne zog Annaka mit sich, wiederholte diesen Vorgang. Je schneller sie die Sache hinter sich brachten, desto besser für sie beide. Den zweiten und dritten Übergang schaffte Anna-ka besser — durch bloßen Mut oder weil sie ihren Verstand völlig ausschaltete und Bournes Anweisungen ausführte, ohne darüber nachzudenken.

Endlich erreichten sie die Feuertreppe und begannen den Abstieg. Die Straßenlampe auf der Endrodi utca warf lange Schatten in die Gasse. Bourne hätte sie am liebsten ausgeschossen, aber das wagte er nicht. Stattdes-sen beschleunigte er ihren Abstieg so gut wie möglich.

Sie waren auf einer der letzten Stufen vor dem waagrechten Treppenstück, das nach dem Entriegeln bis auf einen halben Meter über die Pflastersteine hinabsinken würde, als Bourne aus dem Augenwinkel heraus wahrnahm, wie das Licht sich veränderte. Schatten bewegten sich aus entgegengesetzten Richtungen durch die Gasse: Zwei Polizeibeamte hatten sie von links und rechts kommend betreten.

Csillas Sergeant hatte einen seiner Männer ins Freie mitgenommen, sobald der Täter gesichtet worden war. Er wusste bereits, dass der Verdächtige clever genug gewesen war, um einen Weg von Gebäude zu Gebäude zu finden. Nachdem der Kerl aus Laszlo Molnars Apartment entkommen war, würde er sich hier bestimmt nicht im

Treppenhaus schnappen lassen. Das bedeutete, dass er einen Fluchtweg finden würde, und der Sergeant wollte alle Fluchtwege blockieren. Er hatte einen Mann auf dem Dach, je einen am Haupt- und Lieferanteneingang. So blieb nur die Gasse neben dem Haus. Wie der Täter sie erreichen sollte, war unklar, aber der Sergeant wollte nichts dem Zufall überlassen.

Zu seinem Glück sah er die menschliche Silhouette auf der Feuertreppe, als er um die Hausecke bog und die Gasse betrat. Das Licht der Straßenlaterne auf der Endro-di utca zeigte ihm seinen Mann, der die Gasse aus entgegengesetzter Richtung betrat. Der Sergeant machte ihm ein Zeichen, deutete auf die Gestalt auf der Feuertreppe. Er hatte seine Pistole gezogen und bewegte sich gleichmäßig auf die Stelle zu, wo der senkrechte Treppenteil zur Ruhe kommen würde, als die Gestalt sich bewegte und sich wie durch Zellteilung verdoppelte. Der Sergeant starrte überrascht nach oben. Auf der Feuertreppe waren zwei Gestalten!

Er riss die Pistole hoch und schoss. Funken sprühten vom Metall, und er sah eine der Gestalten von der Treppe springen, sich in der Luft zusammenrollen und zwischen den riesigen Abfallbehältern verschwinden. Der Polizeibeamte rannte los, aber der Sergeant blieb zunächst noch zurück. Er beobachtete, wie sein Mann die Ecke des ersten Müllbehälters erreichte und sich tief duckte, als er sich der Lücke zwischen ihnen näherte.

Der Sergeant blickte zu der zweiten Gestalt auf. Bei dem schwachen Licht waren kaum Einzelheiten zu erkennen, aber er sah dort oben niemanden. Die Feuertreppe schien leer zu sein. Wohin konnte der zweite Täter verschwunden sein?

Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit wieder auf seinen Mann, der jedoch verschwunden war. Er trat einige Schritte auf die Müllbehälter zu, rief den Namen seines Untergebenen. Keine Antwort. Er hob sein Sprechfunkgerät an die Lippen und wollte eben Verstärkung anfordern, als ein schweres Gewicht auf ihn fiel. Der Sergeant taumelte, stürzte schwer, rappelte sich kniend auf, schüttelte benommen den Kopf. Dann kam jemand zwischen den Abfallbehältern hervor. Bevor er merkte, dass dies nicht sein Mann war, traf ihn bereits ein Schlag, und er verlor das Bewusstsein.

«Das war richtig dumm«, sagte Bourne und bückte sich, um Annaka vom Pflaster aufzuhelfen.

«Gern geschehen«, sagte sie, schüttelte seine Hand ab und stand aus eigener Kraft auf.

«Ich dachte, du hättest Höhenangst.«

«Vor dem Sterben habe ich noch mehr Angst«, erwiderte sie knapp.

«Komm, wir hauen ab, bevor noch mehr Polizisten kommen«, sagte er.»Ich denke, du solltest jetzt die Führung übernehmen.«

Die Straßenlaterne schien Chan in die Augen, als Bourne und Annaka aus der Gasse gerannt kamen. Obwohl er die Gesichter der beiden nicht sehen konnte, erkannte er Bourne an seiner Figur und seinen Bewegungen. Was seine Begleiterin anging, registrierte sein Verstand sie zwar beiläufig, aber er achtete nicht sonderlich auf sie. Wie Bourne interessierte ihn viel mehr, weshalb die Polizei in Laszlo Molnars Apartment aufgekreuzt war, als Bourne sich darin aufgehalten hatte. Und genau wie Bourne fiel ihm die Ähnlichkeit mit der Szene in Conklins

Landhaus in Manassas auf. Sie trug eindeutig Spalkos Handschrift. Aber im Gegensatz zu Virginia, wo er Spal-kos Mann entdeckt hatte, war Chan bei seiner gründlichen Erkundung der Umgebung von Molnars Apartmenthaus auf keinen möglichen Tippgeber gestoßen. Wer hatte also die Polizei angerufen? Irgendjemand musste in der Nähe gewesen sein und sie informiert haben, als Bourne und die Frau das Haus betreten hatten.

Er ließ den Motor seines Leihwagens an und konnte Bourne folgen, als er in ein Taxi stieg. Die Frau ging allein weiter. Chan kannte Bourne und war auf die Richtungsänderungen, das Hakenschlagen und den Fahrzeugwechsel vorbereitet und behielt Bourne auch während dieser Manöver, die etwaige Beschatter abschütteln sollten, in Sicht.

Endlich erreichte Bournes zweites Taxi die Fo utca. Vier Straßenblocks nördlich der prächtigen Kuppel der Kiraly-Bäder stieg Bourne aus und verschwand in dem Gebäude Nr. 106–108.

Chan fuhr langsamer und parkte dann in einiger Entfernung schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite, um nicht am Hauseingang vorbeifahren zu müssen. Er stellte den Motor ab, machte sich auf dem dunklen Fahrersitz klein. Alex Conklin, Jason Bourne, Laszlo Molnar, Hassan Arsenow. Er dachte an Spalko und fragte sich, wie all diese einzelnen Namen zusammengehörten. Zwischen ihnen gab es eine logische Verbindung — die gab es immer, man musste nur imstande sein, sie zu erkennen.

So verstrichen fünf bis sechs Minuten, und dann hielt ein weiteres Taxi vor dem Haus Nr. 106–108. Chan sah eine junge Frau aussteigen. Er bemühte sich, einen Blick auf ihr Gesicht zu erhaschen, bevor sie die schwere Eingangstür aufstieß, konnte aber nur feststellen, dass sie rothaarig war. Er wartete und beobachtete die Fassade des Gebäudes. Als Bourne von der Straße hereingekommen war, war nirgends Licht aufgeflammt, was bedeutete, dass er unten in der Eingangshalle auf sie wartete — und dass sie hier wohnte. Tatsächlich war es kurze Zeit später hinter einem Erkerfenster im dritten und obersten Stock hell geworden.

Weil er nun wusste, wo sie waren, versenkte er sich in Zazen-Meditation, aber nachdem er eine Stunde lang vergebens versucht hatte, seine Gedanken zu klären, gab er auf. In der Dunkelheit schloss seine Hand sich um den kleinen, aus Stein geschnittenen Buddha. Dann fiel er fast augenblicklich in tiefen Schlaf, in dem er wie ein Stein in der Unterwelt seines wiederholten Albtraums versank.

Das Wasser ist blauschwarz, rastlos strudelnd wie von bösartiger Energie erfüllt. Er versucht, an die Oberfläche zu gelangen, und greift so kraftvoll aus, dass seine Gelenke unter der Belastung knacken. Trotzdem sinkt er, von dem um seinen Knöchel geknoteten Tau in die Tiefe gezogen, weiter ins Dunkel hinab. Seine Lunge beginnt zu brennen. Er sehnt sich danach, einmal Atem zu holen, aber er weiß, dass Wasser eindringen und er ertrinken wird sobald er den Mund aufmacht.

Er krallt nach unten, versucht das Tau aufzuknoten, aber seine Finger finden an der glitschigen Oberfläche keinen Halt. Den Schrecken dessen, was in der dunklen Tiefe auf ihn lauert, spürt er wie elektrischen Strom, der durch seinen Körper läuft. Dieser Schrecken hält ihn wie ein Schraubstock fest; er muss den Drang unterdrücken, haltlos zu wimmern. In diesem Augenblick hört er die aus der Tiefe aufsteigenden Klänge — Glockengeläut, der Gesang von Mönchen, bevor sie von den Roten Khmer ermordet wurden. Nach einiger Zeit wird daraus der Gesang einer einzelnen Stimme, eines klaren Tenors mit einer wiederholten Wehklage, die etwas von einer Gebetsmühle an sich hat.

Und während er in die dunkle Tiefe hinabstarrt, während er die Figur am anderen Ende des Seils, das ihn unerbittlich ins Verderben zieht, zu erkennen beginnt, hat er allmählich das Gefühl, das Lied, das er hört, müsse von dieser Figur kommen. Denn er kennt die Figur, die in der starken Strömung unter ihm kreiselt; sie ist ihm so vertraut wie das eigene Gesicht, der eigene Körper. Aber jetzt erkennt er mit einem Schock, der ihn ins Innerste trifft, dass der Gesang nicht von der vertrauten Figur unter ihm stammt, weil sie tot ist und ihn daher mit ihrem Gewicht ins Verderben zieht.

Der Klang kommt aus größerer Nähe, und nun erkennt er die Wehklage als die eines klaren Tenors — der eigenen Stimme, die tief aus seinem Innersten kommt. Sie berührt jeden Teil seines Ichs gleichzeitig.

«Lee Li-Li! Li-Li!«, ruft er, kurz bevor er ertrinkt…

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