Kapitel vierundzwanzig

Die Klinik Eurocenter Bio-I befand sich in einem modernen Gebäude mit bleigrauer Steinfassade. Bourne betrat sie mit dem flotten, selbstbewussten Schritt eines Mannes, der weiß, wohin er unterwegs ist und warum.

Das Innere der Klinik sprach von Geld, von viel Geld. Das Foyer war in Marmor gehalten. Zwischen klassizistischen Säulen standen Bronzestatuen. In die Wände waren bogenförmige Nischen eingelassen, in denen Büsten von historischen Halbgöttern aus Biologie, Chemie, Mikrobiologie und Epidemiologie aufgestellt waren. In dieser friedlichen, luxuriösen Umgebung fiel der hässliche Metalldetektor besonders störend auf. Hinter der skelettartigen Struktur stand die hohe Theke der Rezeption, die mit drei gestresst wirkenden Empfangsdamen besetzt war.

Bourne passierte den Metalldetektor ohne Zwischenfall, weil das Gerät seine Keramikpistole nicht erfasste. An der Rezeption kam er sofort zur Sache.

«Alexander Conklin. Ich möchte zu Dr. Peter Sido«, sagte er so forsch, dass es fast wie ein Befehl klang.

«Ihren Ausweis bitte, Mr. Conklin«, sagte eine der Empfangsdamen, die unwillkürlich auf seinen Tonfall reagierte und sich etwas aufrechter hinsetzte.

Bourne legte ihr seinen falschen Pass hin, dessen Foto die Empfangsdame kurz mit seinem Gesicht verglich, um seine Identität zu prüfen, bevor sie ihn Bourne zurück-reichte. Dann gab sie ihm einen weißen Besucherausweis.»Den tragen Sie bitte ständig, Mr. Conklin. «Bournes Tonfall und Benehmen waren so selbstsicher, dass sie gar nicht fragte, ob Sido ihn erwartete, sondern voraussetzte,»Mr. Conklin «habe einen Termin bei Dr. Sido. Sie erklärte dem neuen Besucher, wohin er gehen musste, und Bourne machte sich auf den Weg.

«Für seine Abteilung sind spezielle Ausweise vorgeschrieben: weiße für Besucher, grüne für angestellte Arzte, blaue für Assistenten und sonstige Mitarbeiter«, hatte Eszti Sido ihm erzählt, deshalb musste er nun als Erstes versuchen, einen geeigneten Angestellten zu finden.

Auf dem Weg zur Abteilung Epidemiologie begegnete er vier Männern, von denen jedoch keiner dem richtigen Typus entsprach. Er brauchte jemanden ungefähr in seiner Größe.

Unterwegs öffnete er jede Tür, die nicht in ein Büro oder Labor führte, und hielt Ausschau nach einem Lagerraum oder dergleichen, in den das Klinikpersonal nicht oft kommen würde. Das Reinigungspersonal machte ihm keine Sorgen, weil es vermutlich erst abends anrücken würde.

Endlich sah er einen Mann in der richtigen Größe und mit dem richtigen Gewicht auf sich zukommen. An seinem weißen Labormantel trug er einen grünen Dienstausweis, der ihn als Dr. Lenz Morintz identifizierte.

«Entschuldigung, Dr. Morintz«, sagte Bourne verlegen lächelnd.»Könnten Sie mir erklären, wie ich zur Abteilung Mikrobiologie komme? Ich habe mich verlaufen, fürchte ich.«

«Das haben Sie allerdings«, sagte Dr. Morintz.»Hier kommen Sie geradewegs zur Abteilung Epidemiologie.«

«Du liebe Güte«, sagte Bourne.»Da habe ich mich wirklich verlaufen.«

«Keine Sorge«, sagte Dr. Morintz.»Ich erkläre Ihnen, wie Sie gehen müssen.«

Als der Bakteriologe sich umdrehte, um Bourne den Weg zu zeigen, traf ihn ein Handkantenschlag, der ihn zusammenklappen ließ. Bourne fing ihn auf, bevor er den Boden berührte. Indem er ihn mehr oder weniger aufrichtete und halb trug, schleppte er Dr. Morintz in den nächsten Lagerraum zurück und ignorierte dabei den brennenden Schmerz in seinen gebrochenen Rippen.

Drinnen machte Bourne Licht, schlüpfte aus seiner Lederjacke und stopfte sie in ein Regal. Dann zog er Dr. Morintz den Labormantel mitsamt dem daran befestigten Dienstausweis aus. Mit dem hier lagernden Verbandmaterial fesselte er dem Doktor die Beine, band ihm die Hände auf dem Rücken zusammen und klebte ihm den Mund mit einem Streifen Heftpflaster zu. Dann schleppte er den Bewusstlosen in eine Ecke und verstaute ihn hinter einigen großen Kartons. Nach einem abschließenden Blick in die Runde ging er zur Tür zurück, machte das Licht aus und trat auf den Korridor hinaus.

Nach ihrer Ankunft vor der Klinik Eurocenter Bio-I blieb Annaka noch einige Zeit im Taxi sitzen, während der Fahrpreisanzeiger weitertickte. Stepan hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass sie in die Endphase des Unternehmens eintraten. Jede Entscheidung, die sie trafen, jeder Schachzug, den sie machten, war ungeheuer wichtig. Jeder Fehler konnte jetzt eine Katastrophe auslösen. Bourne oder Chan. Sie wusste nicht, wer bedrohlicher war, wer die größere Gefahr verkörperte. Bourne war der

Stabilere von den beiden, aber Chan kannte keinerlei Schuldgefühle. Seine Ähnlichkeit mit ihr war eine Ironie des Schicksals, die sie auf keinen Fall ignorieren durfte.

Und trotzdem war ihr in letzter Zeit aufgefallen, dass es zwischen ihnen größere Unterschiede gab, als sie früher angenommen hätte. Zum einen hatte er’s nicht über sich gebracht, Jason Bourne zu liquidieren, obwohl er behauptet hatte, das sei sein sehnlichster Wunsch. Und zum anderen hatte er sie ebenso verblüfft, als er in ihrem Skoda schwach geworden war und sich über ihren Nacken gebeugt hatte, um ihn zu küssen.

Seit sie ihn damals verlassen hatte, hatte sie sich gefragt, ob er sie vielleicht wirklich geliebt hatte. Jetzt wusste sie’s. Chan konnte Gefühle empfinden; war der Anreiz stark genug, konnte er emotionale Bindungen entwickeln. Das hätte sie ihm ehrlich gesagt nicht zugetraut — nicht angesichts seiner Vergangenheit.

«Fräulein?«Die Stimme des Taxifahrers störte ihre Überlegungen.»Warten Sie hier auf jemand? Oder soll ich Sie woanders hinfahren?«

Annaka beugte sich nach vorn und drückte ihm ein paar Geldscheine in die Hand.»Danke, ich steige hier aus.«

Trotzdem blieb sie noch sitzen, sah sich um und fragte sich, wo Kevin McColl sein mochte. Stepan, der ungefährdet in seinem Büro in der Humanistas-Zentrale saß, hatte gut reden, wenn er sie aufforderte, sich keine Sorgen wegen des CIA-Agenten zu machen. Aber sie hatte es im Einsatz mit einem fähigen und gefährlichen Attentäter und dem schwer verwundeten Mann zu tun, den zu liquidieren er entschlossen war. Sobald die Knallerei anfing, würde sie direkt in der Schusslinie stehen.

Als sie schließlich ausstieg, veranlasste ihre Unruhe sie dazu, sich angstvoll nach dem klapprigen alten Opel umzusehen, bevor sie sich zusammenriss und mit irritiertem Kopfschütteln das Klinikfoyer betrat.

Drinnen fand sie alles genauso vor, wie Bourne es ihr beschrieben hatte. Sie fragte sich, wie er diese Informationen in so erstaunlich kurzer Zeit hatte beschaffen können. Eines musste man Bourne lassen: In dieser Hinsicht war er ein Meister.

Nachdem sie den Metalldetektor passiert hatte, wurde sie angehalten und gebeten, ihre Umhängetasche zu öffnen, damit ein Sicherheitsbeamter einen Blick hineinwerfen konnte. Sie hielt sich peinlich genau an Bournes Anweisungen, trat an die mit Marmor verkleidete Rezeption und lächelte einer der drei Empfangsdamen zu, die gerade lange genug aufsah, um ihre Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen.

«Mein Name ist Annaka Vadas«, sagte sie.»Ich warte auf einen Bekannten.«

Die Empfangsdame nickte und konzentrierte sich wieder auf ihre Arbeit. Ihre beiden Kolleginnen telefonierten oder gaben vor Bildschirmen Daten ein. Dann klingelte ein weiteres Telefon, und die Frau, die Annaka zugelächelt hatte, nahm den Hörer ab, sprach kurz mit jemandem und winkte sie dann zu ihrer Verblüffung zu sich heran.

Als Annaka wieder an die Theke trat, sagte die Empfangsdame:»Frau Vadas, Dr. Morintz erwartet Sie. «Nach einem flüchtigen Blick auf ihren Personalausweis gab sie ihr einen weißen Besucherausweis.»Den tragen Sie bitte ständig, Frau Vadas. Der Doktor erwartet Sie in seinem Labor.«

Sie erklärte ihr, wie sie gehen musste, und Annaka folgte noch immer staunend einem Korridor. An der ersten Einmündung bog sie links ab und wäre fast mit einem Mann in einem weißen Labormantel zusammengestoßen.

«Oh, Entschuldigung! Ich habe…«Sie sah auf und blickte in Jason Bournes Gesicht. An seinem Labormantel hing ein auf den Namen Dr. Lenz Morintz ausgestellter grüner Ausweis. Annaka begann zu lachen.»Oh, ich verstehe, freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Dr. Morintz. «Sie kniff die Augen zusammen,»Auch wenn Sie Ihrem Foto nicht besonders ähnlich sehen.«

«Du kennst ja diese billigen Kameras«, sagte Bourne, fasste sie am Ellbogen und führte sie zu der Ecke zurück, um die sie gerade gekommen war.»Auf diesen Fotos sieht man immer aus wie ein Ölgötze. «Er spähte um die Ecke.»Ah, da kommt die CIA, pünktlich nach Plan.«

Annaka beobachtete, wie Kevin McColl einer der Empfangsdamen seinen Dienstausweis vorlegte.»Wie hat er seinen Revolver durch den Metalldetektor gebracht?«

«Gar nicht«, sagte Bourne.»Weshalb hätte ich dich sonst herbestellt?«

Sie sah ihn verblüfft und bewundernd an.»Eine Falle! McColl ist unbewaffnet hier. «Er war wirklich verdammt clever, und diese Erkenntnis machte sie ein wenig besorgt. Hoffentlich wusste Stepan, was er tat.

«Hör zu, ich habe rausbekommen, dass Peter Sido, Schiffers ehemaliger Partner, hier arbeitet. Wenn jemand Schiffer kennt, dann ist’s Sido. Wir müssen mit ihm reden, aber zuvor müssen wir McColl endgültig ausschalten. Bist du bereit?«

Annaka sah nochmals zu McColl hinüber, erschauderte und nickte dann zustimmend.

Chan hatte den klapprigen grünen Opel mit einem Taxi verfolgt; seinen gemieteten Skoda, der vielleicht bekannt war, hatte er dafür nicht benützen wollen. Er wartete, bis Kevin McColl geparkt hatte, dann ließ er das Taxi an ihm vorbeifahren, und als der CIA-Agent ausstieg, entlohnte Chan den Taxifahrer und folgte McColl zu Fuß.

Als er am Vorabend McColl beschattet hatte, nachdem dieser aus Annakas Haus geflüchtet war, hatte er Ethan Hearn angerufen und ihm das Kennzeichen des grünen Opels durchgegeben. Hearn hatte ihm innerhalb einer Stunde Namen und Anschrift des hiesigen BilligAutoverleihs beschafft, von dem der Amerikaner den Opel hatte. Als angeblicher Ermittler von Interpol hatte Chan sich von einer leicht eingeschüchterten Angestellten des Autoverleihs Namen und Heimatanschrift ihres Mieters geben lassen. McColl hatte keine Budapester Adresse angegeben, aber mit typisch amerikanischer Arroganz seinen richtigen Namen benützt. So war es für Chan einfach gewesen, eine weitere Nummer anzurufen, worauf sein Kontaktmann in Berlin den Namen McColl im Computer eingegeben und den Amerikaner als CIA-Agenten enttarnt hatte.

Vor ihm bog McColl auf die Hattyu utca ab und betrat das Gebäude mit der Nummer 75: einen modernen grauen Steinbau, der stark an eine mittelalterliche Festung erinnerte. Zum Glück wartete Chan noch etwas, wie er’s gewöhnlich tat, denn im nächsten Augenblick kam McColl schon wieder heraus. Chan beobachtete neugierig, wie er an die Müllbehälter im Durchgang zum Nachbarhaus trat. Nachdem er sich mit einem raschen Blick in die Runde davon überzeugt hatte, dass anschei-nend niemand auf ihn achtete, zog er seinen Revolver und verbarg ihn sorgfältig in einem der Behälter.

Chan wartete, bis der Amerikaner wieder hineingegangen war; dann setzte er seinen Weg fort und trat durch die Drehtür aus Stahl und Glas in die Eingangshalle des Gebäudes. Dort beobachtete er, wie McColl mit seinem CIA-Dienstausweis Eindruck zu schinden versuchte. Ein Blick auf den Metalldetektor erklärte, weshalb McColl seinen Revolver draußen deponiert hatte. Rein zufällig — oder weil Bourne ihm diese Falle gestellt hatte? Das hätte Chan an seiner Stelle getan.

Nachdem McColl einen Besucherausweis erhalten hatte und in einem Korridor verschwunden war, ging Chan durch den Metalldetektor und zeigte seinen InterpolAusweis vor, den er sich in Paris besorgt hatte. Das beunruhigte die Empfangsdame natürlich, zumal gerade erst ein CIA-Agent vor ihr gestanden hatte, und sie überlegte laut, ob sie den Sicherheitsdienst der Klinik alarmieren oder die Polizei anrufen solle, aber Chan versicherte ihr gelassen, sie ermittelten wegen derselben Sache und seien nur zu Befragungen hier. Jede Behinderung ihrer Ermittlungen, warnte er sie streng, könne zu unvorhersehbaren Komplikationen führen, die sie bestimmt nicht wünsche. Sie nickte weiter leicht nervös, gab ihm seinen Besucherausweis und winkte ihn durch.

McColl sah Annaka Vadas vor sich und wusste, dass Bourne irgendwo in der Nähe sein musste. Obwohl er zu wissen glaubte, dass sie ihn nicht bemerkt hatte, tastete er für alle Fälle nach dem Kunststoffquadrat an seinem Uhrarmband. Die kleine Box enthielt eine aufgespulte dünne Nylonschnur mit hoher Reißfestigkeit. McColl hätte Bourne lieber mit einem Schuss liquidiert, weil das ein schnelles und sauberes Verfahren war. Kein Mensch, selbst wenn er noch so stark war, konnte eine gut platzierte Kugel ins Herz oder ins Gehirn überleben. Andere Methoden, die auf Überraschung und brutaler Gewalt basierten und zu denen er sich wegen des Metalldetektors gezwungen sah, dauerten länger und waren oft nicht gerade sauber. Das erhöhte Risiko war ihm ebenso bewusst wie die Möglichkeit, dass er auch Annaka Vadas würde beseitigen müssen. Bei diesem Gedanken empfand Mc-Coll allerdings ein gewisses Bedauern. Die junge Frau war attraktiv und sexy; es ging ihm gegen den Strich, eine Schönheit wie sie zu liquidieren.

Er beobachtete jetzt, wie sie ohne Zweifel zu einem Treff mit Jason Bourne unterwegs war; für ihre Anwesenheit in diesem Gebäude konnte er sich keinen anderen Grund denken. Er blieb in Sichtweite hinter ihr und tippte mit der Fingerspitze auf die Kunststoffbox an der Innenseite seines linken Handgelenks, während er auf seine Chance wartete.

Aus seinem Versteck in einem Lagerraum sah Bourne Annaka an sich vorbeigehen. Sie wusste genau, wo er war, aber zu ihrer Ehre drehte sie den Kopf nicht im Geringsten in seine Richtung, als sie an der Tür vorbeikam. Sein scharfes Gehör vernahm McColls Schritt bereits, bevor er auftauchte. Jeder Mensch hatte einen bestimmten Gang, eine Art, sich zu bewegen, die charakteristisch war, wenn sie nicht bewusst verändert wurde. McColls Schritt war schwer, solide und bedrohlich, zweifellos der Schritt eines professionellen Menschenjägers.

Hier hing alles von der Wahl des richtigen Zeitpunkts ab, das wusste Bourne. Bewegte er sich zu früh, würde McColl ihn sehen und reagieren, wodurch das Überraschungsmoment verloren war. Wartete er zu lange, würde er mehrere Schritte machen müssen, um ihn einzuholen, und dabei riskieren, dass McColl ihn hörte. Aber Bourne kannte jetzt McColls Schritt und konnte so berechnen, wann der CIA-Killer genau den richtigen Punkt erreichen würde. Er verdrängte seine Schmerzen, die vor allem von den gebrochenen Rippen kamen, aus seinem Bewusstsein. Wie sehr sie ihn behindern würden, konnte er nicht im Voraus wissen, aber er war zuversichtlich, dass der von Dr. Ambrus angelegte Dachziegelverband die gebrochenen Rippen schützen würde.

Nun tauchte Kevin McColl auf: massig und gefährlich. Als der Agent an der einen Spalt weit geöffneten Tür des Lagerraums vorbeiging, sprang Bourne heraus und traf seine rechte Niere mit einem beidhändig geführten schweren Schlag. Der Körper des Amerikaners sackte Bourne entgegen, er packte McColl und wollte ihn in den Lagerraum zerren.

Aber McColl warf sich mit schmerzverzerrtem Gesicht herum und ließ eine gewaltige Faust gegen Bournes Brust krachen. Als Bourne, der vor Schmerzen Sterne vor den Augen sah, zurücktaumelte, zog McColl die Nylonschnur heraus und stürzte sich auf ihn, um Bourne mit der Schlinge zu erwürgen. Bourne brachte zwei wuchtige Handkantenschläge an, die für McColl sehr schmerzhaft sein mussten. Trotzdem kam er mit blutunterlaufenen Augen und grimmiger Entschlossenheit weiter auf ihn zu. Er schlang die Nylonschnur um Bournes Hals und zog sie ruckartig so fest zu, dass Bourne im ersten Augenblick hochgerissen wurde.

Bourne rang nach Atem, was McColl nur Gelegenheit gab, die Schlinge noch enger zu ziehen. Dann erkannte Bourne jedoch seinen Fehler. Er hörte auf, sich Sorgen wegen seiner Atmung zu machen, und konzentrierte sich darauf, sich zu befreien. Er riss ein Knie hoch, rammte es dem Angreifer zwischen die Beine. Als McColl nach Luft schnappte, lockerte sein Griffsich für einen Augenblick so weit, dass Bourne zwei Finger zwischen die Nylonschnur und das Fleisch seines Halses schieben konnte.

McColl war jedoch ein bulliger Mann, der sich schneller erholte, als Bourne sich hätte vorstellen können. Er grunzte wütend, legte seine gesamte Kraft in seine Arme und zog die Nylonschlinge ruckartig noch fester zu. Aber Bourne hatte den Vorteil gewonnen, den er brauchte, und seine beiden Finger krümmten sich zu einer Drehbewegung, als die Schnur sich straffte, und zerrissen sie, genau wie ein Fisch mit einem Sprung einen Ruck erzeugen kann, der die Angelleine zum Reißen bringt.

Bourne gebrauchte die Hand, die an seinem Hals gelegen hatte, zu einem Schlag nach schräg oben, der McColl unter dem Kinn traf. Der nach hinten schnappende Kopf des Agenten knallte an den Türrahmen, aber als Bourne nachsetzte, benützte McColl seine Ellbogen, um ihn in den Lagerraum kreiseln zu lassen. McColl war sofort hinter ihm her, griff sich ein Schneidmesser, das auf einem unausgepackten Karton lag, und schwang es. Die herabsausende scharfe Klinge zerschnitt Bournes Labormantel. Obwohl er mit einem Satz zurücksprang, schlitzte ihm der nächste Angriff so das Hemd auf, dass der Verband um seinen Brustkorb sichtbar wurde.

Ein triumphierendes Grinsen überflog McColls Gesicht. Er erkannte eine verwundbare Stelle, wenn er eine sah, und konzentrierte sich sofort darauf. Indem er das Schneidmesser in die linke Hand nahm, täuschte er einen Angriff damit vor und traf Bournes Brustkorb dann mit einer wuchtigen rechten Geraden. Darauf war Bourne jedoch gefasst, und er konnte den Boxhieb mit dem Unterarm abblocken.

Nun sah McColl eine Lücke in seiner Deckung und schwang das Schneidmesser, um Bourne den ungeschützten Hals aufzuschlitzen.

Als hinter ihr die ersten Kampfgeräusche laut wurden, hatte Annaka sich umgedreht, aber zwei Ärzte gesehen, die auf die Einmündung des Korridors zukamen, auf dem Bourne und McColl miteinander rangen. Sie trat sofort zwischen die Kämpfenden und die Ärzte und bombardierte die Ärzte mit Fragen, bis sie mit irritierten Mienen an der Einmündung vorbei waren.

Annaka trennte sich möglichst rasch von den beiden, hastete zurück und erfasste unterwegs mit einem Blick, dass Bourne zu unterliegen drohte. Weil sie sich an Stepans Ermahnung erinnerte, Bourne unbedingt am Leben zu erhalten, rannte sie den Korridor entlang. Bis sie eintraf, waren die Kämpfenden bereits in den Lagerraum getorkelt. Sie stürmte gerade rechtzeitig durch die offene Tür, um McColls mörderischen Angriff auf Bournes Hals zu sehen.

Sie warf sich auf ihn und brachte ihn genug aus dem Gleichgewicht, dass die im Licht der Deckenbeleuchtung blitzende Klinge des Schneidmessers Bournes Hals verfehlte und Funken sprühend den Stahlrahmen eines Lagerregals traf. McColl nahm sie jetzt aus dem Augenwinkel heraus wahr. Er warf sich herum, riss den angewinkelten linken Ellbogen hoch und rammte ihn ihr an die Kehle.

Annaka griff sich reflexartig an den Hals, als sie würgend auf die Knie sank. McColl holte aus, um mit dem Schneidmesser über sie herzufallen. Bourne hielt noch immer die Nylonschnur in einer Hand und warf sie McColl von hinten um den Hals.

McColl taumelte rückwärts, aber statt sich an die Kehle zu greifen, rammte er einen Ellbogen gegen Bournes gebrochene Rippen. Obwohl Bourne wieder Sterne vor den Augen sah, ließ er nicht locker, schleifte McColl allmählich von Annaka weg und hörte seine Absätze über die Fliesen scharren, während McColl mit stetig wachsender Verzweiflung weiter seine Rippen bearbeitete.

Dem Agenten stieg das Blut zu Kopf, seine Halssehnen traten wie gestraffte Seile hervor, und wenig später begannen seine Augen, aus den Höhlen zu quellen. Kleine Blutgefäße in Nase und Gesicht platzten, und die hochgezogenen Lippen ließen blasses Zahnfleisch sehen. Die geschwollene Zunge hing ihm aus dem weit aufgerissenen Mund… und trotzdem besaß er noch die Kraft zu einem letzten Schlag gegen Bournes Rippen. Bourne fuhr heftig zusammen, und sein Griff lockerte sich etwas, so-dass McColl wieder auf die Beine kam.

In diesem Augenblick war Annaka so leichtsinnig, ihn in den Magen zu treten. McColl bekam das erhobene Bein zu fassen, ruckte gewaltig daran und riss sie an sich. Er schlang den linken Arm von hinten um ihren Hals, legte die Handkante seiner Rechten seitlich an ihren Kopf. Er war drauf und dran, ihr das Genick zu brechen.

Chan, der dies alles aus einem abgedunkelten kleinen Büro schräg gegenüber der offenen Tür des Lagerraums beobachtete, sah jetzt, wie Bourne in seiner Verzweiflung die Nylonschnur losließ, die er so geschickt um McColls Hals geworfen hatte. Er knallte den Kopf des Attentäters gegen das Regal, dann rammte er ihm einen Daumen ins linke Auge.

Als McColl aufschreien wollte, hatte er plötzlich Bournes Unterarm zwischen den Zähnen, sodass der Aufschrei zu einem Gurgeln wurde, das in ihm erstarb. Er schlug und trat weiter um sich, wollte nicht sterben, ja nicht einmal zu Boden gehen. Bourne zog seine Keramikpistole, traf mit dem Griff die empfindliche Stelle hinter McColls rechtem Ohr. Der Agent lag jetzt auf den Knien, schüttelte den Kopf und hielt beide Hände fest auf sein auslaufendes Auge gedrückt. Aber das war nur eine Kriegslist. Er gebrauchte seine Hände, um Annaka zu Fall zu bringen, sie zu sich herabzureißen. Die Mörderhände packten sie, und Bourne, dem keine andere Möglichkeit mehr blieb, drückte ihm die Pistolenmündung in den Nacken und betätigte den Abzug.

Der Schuss knallte nicht sehr laut, aber das Loch in McColls Nacken war eindrucksvoll. Selbst im Tod hielt er Annaka weiter umklammert, sodass Bourne die Pistole einstecken und seine Finger einzeln aufbiegen musste.

Bourne bückte sich und zog Annaka hoch, aber Chan beobachtete seine Grimasse, sah die an seine Seite gepresste Hand. Seine Rippen. Waren sie geprellt, gebrochen oder irgendwas dazwischen? fragte er sich.

Chan trat in den Schatten des leeren Büros zurück. Diese Verletzung hatte er ihm beigebracht. Er konnte sich noch sehr lebhaft an die Kraft erinnern, die er in die-sen Schlag gelegt hatte, an das Gefühl in seiner Faust, als sie getroffen hatte, und an eine Art Stromstoß, der ihn, wie von Bourne kommend, durchzuckt hatte. Aber seltsamerweise war die erwartete heiße Befriedigung ganz ausgeblieben. Stattdessen hatte er bewundern müssen, mit welcher Kraft und Zähigkeit dieser Mann durchgehalten, wie er den Titanenkampf mit McColl fortgesetzt hatte, obwohl sein Gegner unaufhörlich auf seine verwundbarste Stelle getrommelt hatte.

Wieso denkst du diese Gedanken überhaupt? fragte er sich wütend. Bourne hatte ihn stets nur abgewiesen. Obwohl die Beweise unwiderlegbar waren, weigerte er sich strikt, Chan als seinen Sohn anzuerkennen. Was sagte das über ihn? Aus irgendwelchen Gründen zog er es vor, hartnäckig zu glauben, sein Sohn sei tot. Bedeutete das nicht, dass er ihn von Anfang an nicht hatte haben wollen?

«Die Delegationen sind vor ein paar Stunden eingetroffen«, berichtete Jamie Hull dem CIA-Direktor über die abhörsichere Videoverbindung.»Wir haben sie gründlich eingewiesen. Jetzt fehlen nur noch die Hauptdarsteller.«

«Der Präsident ist schon in der Luft«, sagte der Direktor, indem er Martin Lindros mit einer Handbewegung aufforderte, Platz zu nehmen.»In ungefähr fünf Stunden und zwanzig Minuten betritt der Präsident der Vereinigten Staaten isländischen Boden. Ich kann bloß hoffen, dass Sie für ihn bereit sind.«

«Hundertprozentig, Sir. Das sind wir alle.«

«Ausgezeichnet. «Aber sein Stirnrunzeln verstärkte sich, als er einen Blick auf die Notizen auf seinem Schreibtisch warf.»Wie kommen Sie nach neuestem Stand mit dem Genossen Karpow zurecht?«

«Keine Sorge«, sagte Hull.»Die Situation mit Boris habe ich unter Kontrolle.«

«Das beruhigt mich. Das Verhältnis zwischen dem Präsidenten und seinem russischen Amtskollegen ist schon gespannt genug. Sie machen sich keinen Begriff davon, was es an Blut, Schweiß und Tränen gekostet hat, Alexander Jewtuschenko an den Verhandlungstisch zu locken. Können Sie sich seinen Wutanfall vorstellen, wenn er hört, dass sein oberster Sicherheitsexperte und Sie drauf und dran sind, einander an die Gurgel zu gehen?«

«Dazu kommt’s nicht, Sir.«

«Das will ich schwer hoffen«, knurrte der Alte.»Halten Sie mich auf dem Laufenden — vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche.«

«Wird gemacht, Sir«, versicherte Hull und beendete die Verbindung.

Der CIA-Direktor drehte sich halb um, fuhr sich mit einer Hand durch seine schlohweiße Mähne.»Wir sind auf der Zielgeraden, Martin. Tut’s Ihnen so weh wie mir, hier im Büro sitzen zu müssen, während Hull draußen im Einsatz die Verantwortung trägt?«

«Allerdings, Sir. «Lindros hatte sein Geheimnis die ganze Zeit für sich behalten und konnte sich fast nicht mehr beherrschen, aber Pflichtbewusstsein siegte über Mitgefühl. Er wollte den Alten nicht verletzen, auch wenn dieser ihm in letzter Zeit übel mitgespielt hatte.

Er räusperte sich.»Sir, ich komme gerade von meinem Gespräch mit Randy Driver zurück.«

«Und?«

Lindros atmete tief durch, dann berichtete er dem Alten, was Driver gestanden hatte: Conklin hatte Dr. Felix Schiffer aus allein ihm bekannten, sehr dunklen Gründen von der DARPA zur Agency geholt, um ihn anschließend» verschwinden «zu lassen, und da Conklin jetzt tot war, wusste niemand, wo Schiffer geblieben war.

Der Direktor hämmerte mit einer Faust auf seinen Schreibtisch.»Verdammt noch mal, dass ein Wissenschaftler aus der Entwicklungsabteilung unmittelbar vor dem Terrorismusgipfel verschwindet, ist eine Katastrophe ersten Ranges! Erfährt das Hexenweib davon, kostet mich das auf der Stelle meinen Job!«

Einen Augenblick lang herrschte in dem weitläufigen Eckbüro betroffenes Schweigen. Die Fotos einstiger und jetziger Spitzenpolitiker schienen die beiden Männer mit stummem Tadel anzustarren.

Endlich sprach der Alte weiter.»Soll das heißen, dass Alex Conklin dem Verteidigungsministerium einen Wissenschaftler abgeworben und bei uns untergebracht hat, um ihn aus unbekannten Gründen verschwinden und an einen unbekannten Ort bringen zu lassen?«

Lindros, der die Hände auf den Knien gefaltet hielt, sagte nichts, aber er hütete sich, dem Blick des Alten auszuweichen.

«Nun, das wäre… Ich meine, so was tun wir in der Agency nicht, und Alexander Conklin hätte es erst recht nicht getan. Das wäre ein eklatanter Verstoß gegen sämtliche Spielregeln gewesen.«

Lindros zog die Augenbrauen hoch, weil er an seine gründlichen Recherchen in dem streng geheimen VierNull-Archiv dachte.»Im Einsatz hat er’s oft genug getan, Sir. Das wissen Sie.«

Tatsächlich wusste der CIA-Direktor das nur allzu gut.»Dieser Fall liegt anders«, widersprach er.»Diese Sache ist praktisch vor unserer Nase passiert. Das ist ein Affront gegen die Agency und mich persönlich. «Der Alte schüttelte sein weißes Haupt mit dem zerfurchten Gesicht.»Ich weigere mich, das zu glauben, Martin. Es muss eine andere Erklärung geben, verdammt noch mal!«

Aber Lindros ließ nicht locker.»Sie wissen, dass es keine gibt. Tut mir Leid, dass ich Ihnen diese Nachricht bringen musste, Sir.«

In diesem Augenblick kam die Sekretärin des Alten herein, gab ihm eine Telefonnotiz und ging wieder hinaus. Der Direktor faltete den Zettel auseinander.

Ihre Frau lässt Sie bitten, sie anzurufen, las er. Sie sagt, es sei dringend.

Der Alte zerknüllte den Zettel, dann sah er auf.»Natürlich gibt’s eine andere Erklärung. - Ich denke an Jason Bourne.«

«Sir?«

Der Direktor sah Lindros in die Augen und sagte trübselig:»Die Sache mit Schiffer hat nicht Alex, sondern Bourne veranlasst. Das ist die einzig vernünftige Erklärung.«

«Lassen Sie mich eines gleich feststellen, Sir: Ich glaube, dass Sie sich irren«, sagte Lindros, der sich für eine schwierige Auseinandersetzung wappnete.»Bei allem Respekt denke ich, dass Sie sich durch Ihre persönliche Freundschaft mit Alex Conklin in Ihrem Urteil beeinflussen lassen. Seit meinen Recherchen im Vier-NullArchiv bin ich der Überzeugung, dass niemand — auch Sie nicht — Conklin näher gestanden hat als Jason Bour-ne.«

Der Alte grinste listig.»Oh, da haben Sie völlig Recht, Martin. Und eben weil Bourne Alex so gut gekannt hat, konnte er seine Verbindung zu diesem Dr. Schiffer ausnutzen. Glauben Sie mir, Bourne hat etwas gewittert und sich daran gemacht, es für seinen persönlichen Vorteil zu nutzen.«

«Aber es gibt keinen Beweis dafür, dass.«

«Doch, den gibt es!«Der Direktor beugte sich leicht nach vorn.»Ich weiß nämlich zufällig, wo Bourne ist.«

«Sir?«Lindros glotzte ihn verblüfft an.

«>io6-io8 Fo utca<«, las der Direktor von einem vor ihm liegenden Zettel ab.»Das ist in Budapest. «Er warf seinem Stellvertreter einen durchdringenden Blick zu.»Haben Sie mir nicht erzählt, dass die Pistole, mit der Mo Panov und Alex erschossen wurden, mit einer Überweisung aus Budapest bezahlt worden ist?«

Lindros’ Herz sank.»Ja, Sir.«

Der Alte nickte.»Deshalb habe ich diese Adresse an Kevin McColl weitergegeben.«

Lindros wurde aschfahl.»Großer Gott! Ich muss sofort mit McColl reden.«

«Ich empfinde Ihren Schmerz mit, Martin, das tue ich wirklich. «Der Direktor nickte zu seinem Telefon hinüber.»Rufen Sie ihn an, wenn Sie wollen, aber Sie wissen, dass McColl für seine Effizienz bekannt ist. Wahrscheinlich ist Bourne bereits tot.«

Bourne schloss die Tür des Lagerraums mit einem Fußtritt und streifte den blutigen Labormantel ab. Er wollte ihn gerade über Kevin McColls Leiche ausbreiten, als ihm das Blinken einer kleinen LED an der Hüfte des Toten auffiel. Sein Handy. Er kauerte neben dem Toten nieder, zog das Telefon aus der Gürtelhalterung und klappte es auf. Als er die angezeigte Nummer sah, wusste er sofort, wer der Anrufer war. Heißer Zorn durchflutete ihn.

Er drückte auf die grüne Taste und sagte zu dem stellvertretenden CIA-Direktor:»Wenn Sie so weitermachen, müssen Sie den Leichenbestattern Überstunden zahlen.«

«Bourne!«, rief Lindros.»Warten Sie!«

Aber Bourne wartete nicht. Er warf das Handy mit solcher Gewalt an die Wand, dass es aufklappte wie eine geknackte Auster.

Annaka beobachtete ihn aufmerksam.»Ein alter Feind?«

«Ein alter Trottel«, knurrte Bourne und zog seine Lederjacke aus dem Regal, in das er sie gestopft hatte. Er grunzte unwillkürlich, als der Schmerz ihn wie ein Hammerschlag traf.

«McColl scheint dich ganz schön zugerichtet zu haben«, meinte Annaka.

Bourne schlüpfte in die Jacke mit dem weißen Besucherausweis, um sein aufgeschlitztes Hemd zu verdecken. In Gedanken war er völlig darauf konzentriert, Dr. Sido zu finden.»Und was ist mit dir? Bist du verletzt?«

Sie verzichtete bewusst darauf, die rote Schwellung an ihrer Kehle zu reiben.»Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen.«

«Gut, dann machen wir uns beide keine Sorgen um den anderen«, sagte Bourne, riss einen Karton mit Papierhandtüchern auf und säuberte ihre Kleidung so gut wie möglich von Blutflecken.»Wir müssen schnellstens Dr. Sido finden. Früher oder später wird Dr. Morintz vermisst.«

«Wo ist Sido?«

«In der Abteilung Epidemiologie. «Bourne ging zur Tür.»Komm!«

Er spähte hinter dem Türrahmen hervor, um sich zu vergewissern, dass niemand in der Nähe war. Als sie auf den Korridor hinaustraten, fiel ihm auf, dass die Bürotür gegenüber einen Spalt weit offen stand. Er machte einen Schritt darauf zu, aber in diesem Augenblick hörte er näher kommende Stimmen und zog Annaka hastig weiter. Er brauchte einen Augenblick, um sich wieder zu orientieren, dann betrat er durch die zweiflüglige Glastür die Abteilung Epidemiologie.

«Sido ist in 902«, sagte er, während er die Nummern neben den Türen las, an denen sie vorbeikamen.

Der Gebäudeflügel, in dem die Abteilung untergebracht war, hatte die Form eines Quadrates mit einem offenen Innenhof. In die vier Außenwände waren die Büro- und Labortüren eingelassen; die einzige Ausnahme bildete eine ins Freie führende Stahltür in der Mitte der Querwand. Die Abteilung Epidemiologie lag offenbar auf der Rückseite der Klinik, denn die Bezeichnung der kleinen Lagerräume auf beiden Seiten der Stahltür verriet, dass sie zum Abtransport von Sondermüll aus dem Klinikbetrieb dienten.

«Dort ist sein Labor«, sagte Bourne, der ein paar Schritte Vorsprung hatte.

Annaka war absichtlich etwas zurückgeblieben und entdeckte den Feuermelder an der Wand vor sich — genau an der von Stepan angegebenen Stelle. Als sie ihn erreichte, hob sie die Abdeckung mit der Glasscheibe hoch. Bourne klopfte bereits an die Tür von Sidos Labor. Da er keine Antwort bekam, öffnete er die Tür. Als er Dr. Si-dos Labor betrat, riss Annaka den Handgriff herunter, und der Feueralarm schrillte los.

Der Korridor war plötzlich voller Menschen. Drei auf den ersten Blick sehr effizient wirkende uniformierte Angehörige des Sicherheitsdiensts der Klinik tauchten auf. Bourne sah sich verzweifelt in Sidos leerem Büro um. Sein Blick fiel auf einen halb vollen Kaffeebecher, dann auf den Bildschirm des Computers, auf dem ein graphisch ansprechender Bildschirmschoner lief. Als er die Eingabetaste drückte, erschien in der oberen Hälfte des Bildschirms eine komplizierte chemische Gleichung. Im unteren Teil stand eine Warnung:»Produkt muss bei -32 °C aufbewahrt werden, weil es sich sonst rasch zersetzt. Jede Erhitzung macht es augenblicklich inert. «Während sich draußen das Chaos verstärkte, dachte Bourne angestrengt nach. Auch wenn Dr. Sido jetzt nicht hier war, musste er noch vor kurzem da gewesen sein. Alles wies darauf hin, dass er den Raum in großer Eile verlassen hatte.

Im nächsten Augenblick kam Annaka hereingestürmt und zog ihn am Ärmel.»Jason, der Sicherheitsdienst der Klinik befragt die Leute und überprüft alle Ausweise. Komm, wir müssen abhauen. «Sie zog ihn mit sich zur Tür.»Wenn wir den Hinterausgang erreichen, können wir unauffällig verschwinden.«

Auf den Korridoren herrschte heilloses Durcheinander. Der Feueralarm hatte die Sprinkleranlage ausgelöst. Da in den Labors viel brennbares Material lagerte, zu dem auch Druckbehälter mit flüssigem Sauerstoff gehörten, befand das Personal sich verständlicherweise in Panik. Die Männer vom Sicherheitsdienst, die festzustellen versuchten, welche Mitarbeiter überhaupt da waren, hatten alle Hände voll damit zu tun, das Klinikpersonal zu beruhigen.

Bourne und Annaka waren zu der ins Freie führenden Stahltür unterwegs, als Bourne Chan entdeckte, der sich einen Weg durch die wogende Menge bahnte und auf sie zuhielt. Bourne trat zu Annaka, sodass sein Körper sich zwischen Chan und ihr befand. Was hatte Chan vor? Wollte er sie umlegen oder nur abfangen? Erwartete er etwa, dass Bourne ihm alles erzählen würde, was er über Felix Schiffer und seinen biochemischen Diffusor in Erfahrung gebracht hatte? Aber nein, Chans Gesichtsausdruck ließ auf etwas anderes schließen — auf nüchterne Berechnung, deren Hintergründe Bourne unklar blieben.

«Hör mir zu!«, sagte Chan, der Mühe hatte, sich in dem allgemeinen Tumult verständlich machen.»Bourne, du musst mir zuhören!«

Aber Bourne, der Annaka vor sich herstieß, hatte inzwischen die Stahltür erreicht, er riss sie auf und stürmte auf die Zufahrt hinter der Klinik hinaus, auf der ein Notarztwagen parkte. Vor dem Fahrzeug standen sechs mit Maschinenpistolen bewaffnete Männer. Bourne erfasste augenblicklich, dass dies eine Falle war, er warf sich instinktiv herum und rief Chan, der ihnen folgte, eine Warnung zu.

Annaka, die sich ebenfalls umdrehte, sah Chan endlich und befahl zwei Männern, das Feuer zu eröffnen. Aber Chan hatte Bournes Warnung gehört und sprang im letzten Augenblick zur Seite, bevor ein Kugelhagel die Männer vom Sicherheitsdienst, die inzwischen heran waren, ummähte. Jetzt brach in der Klinik wirklich Panik aus, und das Personal flüchtete kreischend und schreiend durch die Schwingtüren und den Korridor entlang in Richtung Eingangshalle.

Zwei Männer packten Bourne von hinten.

«Findet ihn!«, hörte er Annaka kreischen.»Findet Chan und legt ihn um!«

«Annaka, was…«

Bourne beobachtete sprachlos, wie die beiden Männer, die bereits geschossen hatten, an ihm vorbeirannten und über die von Kugeln durchsiebten Leichen sprangen.

«Vorsicht«, sagte Annaka warnend.»Er hat eine Pistole!«

Einer der Männer fesselte Bourne die Hände auf dem Rücken, während ein anderer ihn nach Waffen abtastete. Bourne riss sich los, warf sich herum und traf den zweiten Mann mit einem Kopfstoß, der ihm das Nasenbein brach. Blut spritzte, und der Mann schlug mit einem Aufschrei die Hände vors Gesicht und wich zurück.

«Verdammt, was machst du?«

Nun trat Annaka mit einer Maschinenpistole bewaffnet auf Bourne zu und rammte ihm den massiven Kolben in die Rippen. Er krümmte sich nach Luft schnappend zusammen und verlor das Gleichgewicht. Seine Knie waren weich wie aus Gummi, und die Schmerzen, die ihn peinigten, waren im Augenblick unerträglich. Die Faust eines Mannes krachte an seine Schläfe. Bourne klappte zusammen.

Die beiden Männer kamen von ihrer Erkundung in der Klinik zurück.»Keine Spur von ihm«, meldeten sie Annaka.

«Macht nichts«, sagte sie und deutete auf den Mann, der sich vor ihr auf dem Boden wand.»Schafft ihn in den Wagen. Beeilung!«

Bevor die anderen reagieren konnten, war der Mann mit dem gebrochenen Nasenbein heran. Er kauerte neben Bourne nieder, setzte ihm seinen Revolver an die

Schläfe. Aus seinen Augen blitzte Wut, und er schien abdrücken zu wollen.

«Weg mit der Waffe«, sagte Annaka ruhig, aber energisch.»Wir sollen ihn lebend abliefern. «Sie starrte ihn an, ohne einen Muskel zu bewegen.»Befehl von Spalko. Das weißt du. «Endlich nahm der Mann den Revolver weg.

«Los jetzt!«, befahl sie.»In den Wagen mit ihm!«

Bourne starrte sie an. Wegen ihres Verrats kochte er innerlich vor Wut.

Annaka feixte, als sie eine Hand ausstreckte. Einer der Männer gab ihr eine Injektionsspritze, die mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war. Mit raschen, sicheren Bewegungen spritzte sie Bourne das Betäubungsmittel intravenös, und er merkte, wie sein Blick allmählich verschwamm.

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