Kapitel acht

Jacques Robbinet liebte es, die Vormittage mit seiner Frau zu verbringen, Cafe au lait zu trinken, die Zeitungen zu lesen und mit ihr über Wirtschaftsfragen, ihre Kinder und die Lebensverhältnisse ihrer Freunde zu reden. Über seine Arbeit sprach er nie.

Er machte es sich strikt zur Gewohnheit, nie vor Mittag ins Ministerium zu gehen. Dort verbrachte er ungefähr eine Stunde damit, Akten, Memos aus Abteilungen des Hauses und weitere Schriftstücke durchzuarbeiten und seine Kommentare als E-Mails zu verschicken. Anrufe nahm seine Assistentin entgegen, die jeden notierte und ihm nur Mitteilungen vorlegte, die sie für dringend hielt. Diese und alle sonstigen Arbeiten für Robbinet erledigte sie vorbildlich und zuverlässig. Er hatte sie selbst ausgebildet, und ihre Instinkte waren untrüglich.

Ihr größter Vorzug war, dass sie absolut diskret war. Daher konnte Robbinet ihr sagen, wo er mit seiner Geliebten zu Mittag essen würde — sei’s in einem ruhigen Bistro oder in ihrer Wohnung im vierten Arrondissement. Das war wichtig, denn Robbinet dehnte seine Mittagspausen selbst für französische Begriffe sehr lange aus. Er kam selten vor vier Uhr ins Büro zurück, blieb aber oft bis nach Mitternacht an seinem Schreibtisch und hielt Verbindung mit seinen Kollegen in Amerika. Auch wenn Jacques Robbinet offiziell als französischer Kulturminister fungierte, war er in Wirklichkeit ein so hochkarätiger Spion, dass er dem Präsidenten persönlich unterstand.

Heute war er jedoch zum Abendessen ausgegangen, denn der Nachmittag war so hektisch gewesen, dass er sein tägliches Rendezvous auf den späten Abend hatte verschieben müssen. Es hatte Aufregung gegeben, die ihn persönlich betroffen machte. Seine amerikanischen Freunde hatten einen, weltweit gültigen Liquidierungsauftrag an ihn weitergeleitet, der ihm das Blut in den Adern hatte gerinnen lassen, denn die Zielperson war Jason Bourne.

Er hatte Bourne vor einigen Jahren ausgerechnet in einem Kurhotel kennen gelernt. Robbinet hatte in einem Wellness-Center in der Nähe von Paris ein Wochenende gebucht, um es mit seiner damaligen Geliebten, einer winzigen Person, die in vielem unersättlich war, verbringen zu können. Sie war beim Ballett gewesen; Robbinet dachte noch immer sehr gern an ihren wundervoll geschmeidigen Körper zurück. Jedenfalls waren sie sich im Dampfbad begegnet und ins Gespräch gekommen. Auf höchst beunruhigende Weise hatte Robbinet dann erfahren, dass Bourne dort auf der Suche nach einer bestimmten Doppelagentin war. Sobald sie enttarnt war, hatte Bourne sie liquidiert, während Robbinet eine Anwendung bekam — eine Fangopackung, wenn er sich recht erinnerte. Gerade noch rechtzeitig, denn die Doppelagentin hatte sich als Masseuse ausgegeben, um Robbinet zu ermorden. Gab es einen Ort, wo man verwundbarer war als auf einer Massagebank? fragte Robbinet sich. Was hätte er danach tun können, außer Bourne zu einem üppigen Essen einzuladen? Seit sie sich an jenem Abend bei Gänseleber-Terrine, Kalbsnieren in Trüffelvinaigrette und Torte Tatin, alles mit drei Fla-schen feinstem Bordeaux hinuntergespült, ihre Geheimnisse anvertraut hatten, waren sie gute Freunde.

Durch Bourne hatte Robbinet Alexander Conklin kennen gelernt und war Conklins Mittelsmann im Außenministerium und bei Interpol geworden.

Letztlich erwies Robbinets Vertrauen zu seiner Assistentin sich als Glück für Jason Bourne, denn er saß mit Delphine bei Kaffee und höchst dekadenten Petits Fours im Chez Georges, als sie ihn anrief. Er liebte dieses Restaurant wegen seiner Küche und seiner Lage. Weil es gegenüber der Börse lag, verkehrten hier Börsenmakler und Bankiers: Leute, die weit diskreter waren als die schwatzhaften Politiker, unter die Robbinet sich manchmal mischen musste.

«Ich habe jemanden am Apparat«, sagte seine Assistentin in seinem Ohr. Zum Glück wurden nach Dienstschluss eingehende Anrufe zu ihr nach Hause durchgestellt.»Er sagt, dass er Sie dringend sprechen muss.«

Robbinet lächelte Delphine an. Seine Geliebte war eine elegante, reife Schönheit, äußerlich das genaue Gegenteil von seiner Frau, mit der er seit dreißig Jahre verheiratet war. Sie hatten sich gerade höchst angeregt über Aristide Maillol, dessen üppige Akte die Tuilerien schmückten, und Jules Massenet unterhalten, dessen Oper Manon sie beide für überschätzt hielten. Er konnte wirklich nicht verstehen, weshalb amerikanische Männer eine Vorliebe für Mädchen hatten, die kaum dem Teenageralter entwachsen waren. Die Vorstellung, sich eine Geliebte im Alter seiner Tochter zu nehmen, erschien ihm beängstigend und sinnlos zugleich. Um Himmels willen, worüber hätten sie sich bei Kaffee und Petits Fours unterhalten sollen?» Hat er seinen Namen angegeben?«, sagte er ins Handy.

«Ja. Jason Bourne.«

Robbinets Herz begann zu jagen.»Stellen Sie ihn durch«, entschied er sofort. Weil es unhöflich gewesen wäre, in Anwesenheit seiner Geliebten länger zu telefonieren, entschuldigte er sich, trat in den feinen Nebel eines Pariser Abends hinaus und wartete auf die Stimme seines alten Freundes.

«Mein lieber Jason! Wann haben wir zuletzt miteinander telefoniert?«

Bournes Stimmung besserte sich schlagartig, als Jacques Robbinets dröhnende Stimme aus seinem Handy drang. Endlich ein Insider, der’s nicht — hoffentlich nicht! — darauf abgesehen hatte, ihn umzulegen. Bourne war mit einem weiteren gestohlenen Wagen auf dem Capital Beltway unterwegs, um sich mit Deron zu treffen.

«Das weiß ich ehrlich gesagt nicht.«

«Jahrelang nicht mehr, ist das nicht unglaublich?«, sagte Robbinet.»Aber ich gebe zu, dass Alex mich über dich auf dem Laufenden gehalten hat.«

Bourne, der anfangs leicht beklommen gewesen war, begann sich zu entspannen.»Jacques, du hast von Alex gehört.«

«Ja, mon ami. Der CIA-Direktor hat dich auf die Abschussliste der Agency gesetzt. Aber ich glaube kein Wort davon. Du kannst Alex unmöglich ermordet haben. Weißt du schon, wer’s war?«

«Das versuche ich gerade rauszukriegen. Sicher weiß ich im Augenblick nur, dass ein gewisser Chan in den Fall verwickelt sein muss.«

Am anderen Ende herrschte so lange Schweigen, dass Bourne schließlich fragen musste:»Jacques? Bist du noch da?«

«Gewiss, mein Freund. Du hast mich erschreckt, das war alles. «Robbinet atmete tief durch.»Diesen Chan, den kennen wir. Er ist ein Profi, ein erstklassiger Auftragskiller. Wir wissen, dass er für über ein Dutzend Morde an prominenten Persönlichkeiten in aller Welt verantwortlich ist.«

«Wer sind die Zielpersonen?«

«Hauptsächlich Politiker — zum Beispiel der Präsident von Mali —, aber manchmal auch prominente Geschäftsleute. Unseres Wissens sind seine Taten weder politisch noch ideologisch motiviert. Er übernimmt die Aufträge allein wegen des Geldes. Nur darauf kommt’s ihm an.«

«Diese Sorte ist die gefährlichste…«

«Zweifellos, mon ami«. sagte Robbinet.»Verdächtigst du ihn, Alex ermordet zu haben?«

«Er könnte es gewesen sein«, antwortete Bourne.»Ich bin ihm auf dem Anwesen begegnet, nachdem ich die Leichen gefunden hatte. Vielleicht hat er die Polizei angerufen, denn sie ist gekommen, als ich noch im Haus war.«

«Eine klassische Falle«, bestätigte Robbinet.

Bourne schwieg einen Augenblick, weil er an Chan dachte, der ihn auf dem Campus oder später von der Weide am Bachufer aus hätte erschießen können. Für Chan war dies offenbar kein gewöhnlicher Auftrag; vielmehr schien es sich um eine Art Vendetta zu handeln, die ihren Ursprung im südostasiatischen Dschungel hatte. Die logischste Annahme war, dass Bourne Chans Vater getötet hatte. Jetzt befand sein Sohn sich auf einem Rachefeldzug. Weshalb wäre er sonst so von Bournes Familie besessen gewesen? Weshalb hätte er sonst behauptet, Bourne habe Jamie verlassen? Diese Theorie passte genau zu den bisher bekannten Umständen.

«Was kannst du mir noch über Chan erzählen?«, fragte Bourne jetzt.

«Sehr wenig«, antwortete Robbinet,»nur sein Alter: Er ist siebenundzwanzig.«

«Er sieht jünger aus«, meinte Bourne nachdenklich.»Außerdem ist er ein Eurasier.«

«Angeblich ist er zur Hälfte Kambodschaner, aber das sind nur Gerüchte.«

«Und die andere Hälfte?«

«Da könnte ich auch nur raten. Er ist ein Einzelgänger, anscheinend ohne Laster, Wohnsitz unbekannt. Vor sechs Jahren ist er schlagartig bekannt geworden, als er den Premierminister von Sierra Leone ermordet hat. Davor hat er praktisch nicht existiert.«

Bourne sah in den Rückspiegel.»Also hat er erstmals offiziell gemordet, als er einundzwanzig war.«

«Eine gelungene Coming-out-Party«, sagte Robbinet trocken.»Hör zu, Jason, was diesen Chan angeht, kann ich gar nicht genug betonen, wie gefährlich er ist. Wenn er irgendwas mit dieser Sache zu tun hat, rate ich zu äußerster Vorsicht.«

«Das klingt, als hättest du Angst, Jacques.«

«Die habe ich allerdings, mon ami. Ist Chan an einer Sache beteiligt, dann ist das keine Schande. Das gilt auch für dich. Eine gesunde Dosis Angst macht vorsichtig, und Vorsicht ist hier angebracht, das kannst du mir glauben.«

«Ich werd’s mir merken«, sagte Bourne. Er wechselte die Spur, fuhr langsamer und hielt Ausschau nach der richtigen Ausfahrt.»Alex hat an etwas gearbeitet, und ich glaube, dass er deswegen ermordet worden ist. Weißt du zufällig, woran er gearbeitet hat?«

«Ich habe Alex zuletzt vor etwa einem halben Jahr hier in Paris getroffen. Wir waren miteinander essen. Mein Eindruck war, dass er in Gedanken ganz woanders war. Aber du kennst Alex ja — immer schweigsam wie ein Grab. «Robbinet seufzte.»Sein Tod ist ein schrecklicher Verlust für uns alle.«

Bourne verließ den Beltway über die Ausfahrt 123 und fuhr zu Tysons Corner weiter.»Sagt NX 20 dir irgendetwas?«

«Mehr hast du nicht? NX 20?«

Er fuhr zur Parkterrasse C von Tysons Corner.»Mehr oder weniger. Ich möchte, dass du Erkundigungen wegen eines Mannes anstellst: Dr. Felix Schiffer. «Er buchstabierte den Namen.»Er arbeitet bei der DARPA.«

«Ah, damit lässt sich etwas anfangen. Mal sehen, was ich für dich tun kann.«

Bourne gab ihm seine Handynummer, während er aus dem Wagen stieg.»Pass auf, Jacques, ich bin nach Budapest unterwegs, aber ziemlich abgebrannt.«

«Kein Problem«, versicherte Robbinet ihm.»Bleibt’s bei der bisherigen Vereinbarung?«

Bourne hatte keine Ahnung, wie sie ausgesehen hatte. Er konnte nur zustimmen.

«Bon. Wie viel?«

Er fuhr am Aviarium vorbei mit der Rolltreppe nach oben.»Zwanzigtausend müssten reichen. Ich wohne als Alex Conklin im Grandhotel Danubius. Lass das Päckchen an der Rezeption für mich abgeben, damit ich’s bei der Ankunft bekomme.«

«Mais oui, Jason. Das veranlasse ich sofort. Kann ich dir sonst irgendwie behilflich sein?«

«Im Augenblick nicht. «Bourne sah Deron vor einem

Laden stehen, der sich Dry Ice nannte.»Danke für alles, Jacques.«

«Denk daran: Vorsicht, mon ami«, sagte Robbinet, bevor er das Gespräch beendete.»Wo Chan mitspielt, ist alles möglich.«

Deron hatte Bourne kommen sehen und ging langsam weiter, damit Bourne ihn einholen konnte. Er war ein schmächtiger Mann mit kaffeebraunem Teint, markantem Gesicht mit hohen Backenknochen und blitzenden Augen, aus denen ein scharfer Intellekt leuchtete. In seinem leichten Sommermantel, unter dem er einen gut geschnittenen Anzug trug, und mit einem glänzenden bordeauxroten Aktenkoffer in der Hand war er jeder Zoll ein Geschäftsmann. Er lächelte, als sie nebeneinander durch das Einkaufszentrum gingen.

«Freut mich, dich mal wieder zu treffen, Jason.«

«Nur schade, dass die Umstände so unerfreulich sind.«

Deron lachte.»Teufel, ich treffe dich leider nur in Krisensituationen!«

Während sie miteinander redeten, beurteilte Bourne Sichtachsen, registrierte Fluchtwege, kontrollierte Gesichter.

Deron öffnete seinen Aktenkoffer und gab Bourne einen gepolsterten Umschlag.»Pass und Kontaktlinsen.«

«Danke. «Bourne steckte den Umschlag ein.»Ich sorge dafür, dass du das Geld in spätestens einer Woche bekommst.«

«Klar doch. «Deron winkte mit einer langfingrigen Künstlerhand ab.»Du hast Kredit bei mir. «Er zog Bourne in eine Ecke, in der sie unbeobachtet waren, und drückte ihm noch etwas in die Hand.»Kritische Situationen erfordern extreme Maßnahmen.«

Bourne wog die kleine Pistole prüfend in der Hand.»Woraus besteht sie? Sie ist so leicht.«

«Kunststoff und Keramikmaterial. Daran habe ich ein paar Monate gearbeitet«, sagte Deron sichtbar stolz.»Für größere Entfernungen wertlos, aber aus der Nähe absolut brauchbar.«

«Außerdem ist sie bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen unsichtbar.«

Deron nickte.»Und Munition. «Er gab Bourne eine kleine Pappschachtel.»Keramikgeschosse mit Kunststoffspitze als Ausgleich für das kleine Kaliber. Ein weiterer Pluspunkt sind die Schlitze hier am Lauf: Sie verringern den Schussknall. Ein Schuss ist nicht lauter, als wenn du dir mit einer Faust in die Hand schlägst.«

Bourne runzelte die Stirn.»Setzt das nicht die Durchschlagskraft herab?«

Deron lachte.»Ballistik von gestern, mein Lieber. Glaub mir, wenn du damit jemanden umlegst, bleibt er liegen.«

«Deron, du bist ein echtes Multitalent.«

«He, das muss man heutzutage sein. «Der Fälscher seufzte schwer.»Alte Meister zu kopieren hat zweifellos seine Reize. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel ich durchs Studium ihrer Malweise dazugelernt habe. Aber die Welt, die du mir erschlossen hast — eine Welt, von der hier außer uns beiden kein Mensch etwas weiß —, nun, die nenne ich aufregend. «Ein kühler Wind, der Regen bringen würde, war aufgekommen, und Deron klappte seinen Mantelkragen hoch.»Ich gestehe, dass ich früher davon geträumt habe, einige meiner eher ungewöhnlichen Produkte Leuten wie dir zu verkaufen. «Er schüttelte den Kopf.»Aber das ist vorbei. Was ich heutzutage nebenbei tue, mache ich zum Spaß.«

Bourne sah einen Mann vor einem Schaufenster Halt machen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Er blieb dort stehen und schien die ausgestellten Schuhe zu betrachten. Das Dumme war nur, dass es Damenschuhe waren. Bourne machte Deron ein Zeichen, und sie wandten sich nach links, entfernten sich von dem Schuhgeschäft. Im nächsten Augenblick nutzte Bourne eine andere Schaufensterscheibe als Spiegel, um die Fläche hinter sich abzusuchen. Der Mann in dem Trenchcoat war nirgends zu sehen.

Er wog die Pistole prüfend in der Hand, sie kam ihm federleicht vor.»Wie viel?«, fragte er.

Deron zuckte mit den Schultern.»Sie ist ein Prototyp. Sagen wir einfach, dass du den Preis danach festlegst, wie sehr sie dir nützt. Ich weiß, dass du fair sein wirst.«

Nachdem Ethan Hearn in Budapest angekommen war, hatte er einige Zeit gebraucht, um sich an die Tatsache zu gewöhnen, dass die Ungarn an alles, was sie taten, ebenso pragmatisch wie rational herangingen. Daher lag die Bar Underground im Stadtteil Pest im Keller des Hauses 30 Terez Köruta unter einem Filmtheater. Auch ihre Lage unter einem Kino verdankte sie dieser ungarischen Geisteshaltung, denn Underground war eine Hommage an den bekannten ungarischen Filmemacher Emir Kusturica und seinen gleichnamigen Film. Aus Hearns Sicht war die Bar postmodern im hässlichsten Sinn des Wortes. Zwischen den nackten Stahlträgern der Deckenkonstruktion hingen riesige Ventilatoren, die die rauchgeschwängerte Luft auf die trinkenden und tanzenden Gäste hinabbliesen. Was Hearn im Underground jedoch am wenigsten gefiel, war die Musik: eine laute, kakopho-ne Mischung aus zornigem Garagenrock und verschwitztem Funk.

Seltsamerweise schien die Musik Laszlo Molar nicht zu stören. Er machte vielmehr den Eindruck, als wolle er möglichst lange in der Gesellschaft dieser Hüften schwenkenden Menschen bleiben — als widerstrebe es ihm, nach Hause zu fahren. In seiner Art lag etwas Zerbrechliches, fand Hearn, in seinem spröden Lachen, in der Art, wie seine Augen den Raum absuchten, ohne jemals etwas oder jemanden länger zu fixieren, als lauere dicht unter seiner Haut ein dunkles, quälendes Geheimnis. Durch seinen Beruf hatte Hearn viel Umgang mit reichen Leuten. Er fragte sich nicht zum ersten Mal, ob übermäßig großer Reichtum die menschliche Psyche schädigen konnte. Vielleicht war das der Grund dafür, dass er selbst nie nach Reichtümern gestrebt hatte.

Molnar bestand darauf, ihn zu einem Drink einzuladen: einem scheußlich süßen Cocktail namens Causeway Spray, der aus Whisky, Gingerale, Triple Sec und Zitronensaft gemixt wurde. Sie fanden einen kleinen Ecktisch, an dem es so dunkel war, dass Hearn kaum die Getränkekarte lesen konnte, und diskutierten weiter über die Oper, was in dieser Umgebung absurd wirkte.

Nach dem zweiten Drink wurde Hearn auf Spalko aufmerksam, der in dem bläulichen Dunst im rückwärtigen Teil des Clubs stand. Als sein Boss ihn zu sich heranwinkte, entschuldigte Hearn sich für einen Augenblick. In Spalkos Nähe lungerten zwei Männer herum. Sie schienen nicht ins Underground zu gehören, dachte Hearn, aber andererseits traf das auch auf Laszlo Molnar und ihn zu. Spalko führte ihn durch einen düsteren Gang, an dessen Decke kleine Spots wie Sterne leuchteten.

Er öffnete die Tür eines Raums, den Hearn für das Büro des Clubmanagers hielt. Der Raum war leer.

«Guten Abend, Ethan. «Spalko lächelte, als er die Tür hinter ihnen schloss.»Sie haben gehalten, was ich mir von Ihnen versprochen habe. Gut gemacht!«

«Danke, Sir.«

«Und nun«, sagte Spalko übertrieben jovial,»wird’s Zeit, dass ich die Sache übernehme.«

Hearn konnte das Wummern elektronischer Bässe durch die Wände hören.»Sollte ich nicht noch bleiben, um Sie mit Molnar bekannt zu machen?«

«Nicht nötig, das kann ich Ihnen versichern. Wird Zeit, dass Sie ein bisschen Schlaf bekommen. «Er sah auf seine Uhr.»Warum nehmen Sie sich nicht gleich den morgigen Tag frei, nachdem es heute so spät geworden ist?«

Hearn reagierte ungehalten.»Sir, ich kann unmöglich…«

Spalko lachte.»Doch, das können Sie, Ethan, und Sie werden es auch.«

«Aber Sie haben selbst betont, dass.«

«Ethan, es steht in meiner Macht, Vorschriften zu erlassen, und es steht in meiner Macht, sie außer Kraft zu setzen. Ist erst mal Ihr Schlafsofa da, dann können Sie tun, was Sie wollen, aber morgen haben Sie frei.«

«Ja, Sir. «Der junge Mann nickte verlegen grinsend. Er hatte seit drei Jahren keinen Tag Urlaub mehr gehabt. Ein Morgen im Bett, an dem er nicht mehr zu tun brauchte, als die Zeitung zu lesen und Orangenmarmela-de auf seinen Toast zu streichen — himmlische Aussichten!» Vielen Dank, Sir. Ich bin Ihnen sehr dankbar.«

«Schön, dann gehen Sie jetzt. Bis Sie wieder ins Büro kommen, habe ich Ihren Brief an potenzielle Spender gelesen und kommentiert an Sie zurückgeschickt. «Er führte Hearn aus dem überheizten Büro. Als er sah, dass der junge Mann die Treppe zum Ausgang hinaufstieg, nickte er seinen beiden Begleitern zu, die sich sofort durch das hektische Treiben in der Bar drängten.

Laszlo Molnar hatte angefangen, zwischen den von zuckenden bunten Lichtern erhellten Rauchschwaden Ausschau nach seinem neuen Freund zu halten. Als Hearn aufgestanden war, war er von dem kreisenden Hintern eines jungen Mädchens abgelenkt worden, aber dann hatte er doch gemerkt, dass Hearn länger als erwartet wegblieb. Jetzt erschrak Molnar, als sich an seiner Stelle zwei wildfremde Männer an seinen Tisch setzten.

«Was soll das?«, fragte er mit vor Angst brüchiger Stimme.»Was wollen Sie?«

Die Männer sagten nichts. Der rechts von ihm Sitzende umklammerte seinen Unterarm mit solcher Kraft, dass Molnar zusammenfuhr. Er stand zu sehr unter Schock, um laut um Hilfe zu rufen, und selbst wenn er die Geistesgegenwart dazu besessen hätte, wären seine Schreie von dem ohrenbetäubenden Lärm übertönt worden. So saß er wie versteinert da, während der andere Mann ihm eine Injektionsnadel in den Oberschenkel jagte. Das geschah so rasch, so diskret unter dem Tisch, dass es niemandem auffallen konnte.

Das Molnar injizierte Betäubungsmittel brauchte nur dreißig Sekunden, um zu wirken. Er verdrehte die Augen nach oben und sackte schlaff zusammen. Darauf waren die beiden Männer vorbereitet: Sie zogen ihn hoch, als sie gemeinsam aufstanden, und hielten ihn zwischen sich aufrecht.

«Er verträgt einfach nichts«, sagte einer der Männer zu einem in der Nähe tanzenden Gast.»Was soll man mit solchen Leuten anfangen?«Der Gast zuckte grinsend mit den Schultern, wandte sich ab und tanzte weiter. Von den anderen Gästen würdigte sie keiner eines zweiten Blicks, als sie Laszlo Molnar aus dem Underground schleppten.

Spalko wartete im Fond eines großen, eleganten BMW auf sie. Die beiden luden den bewusstlosen Molnar in den Kofferraum, dann stiegen sie rasch vorn ein: Einer setzte sich ans Steuer, der andere auf den Beifahrersitz.

Die Nacht war hell und klar. Der Vollmond stand tief am Himmel. Spalko kam es vor, als brauche er nur einen Finger auszustrecken, um ihn wie eine Murmel über den mit schwarzem Samt bespannten Tisch des Himmels schnippen zu können.»Wie hat’s geklappt?«, fragte er.

«Kinderspiel«, antwortete der Fahrer, während er den Motor anließ.

Bourne verließ Tysons Corner so rasch wie möglich. Obwohl er geglaubt hatte, dies sei ein sicherer Ort für seinen Treff mit Deron, war» sicher «jetzt ein relativer Begriff für ihn. Er fuhr zum Wal-Mart in der New York Avenue. In diesem Supermarkt mitten in der Stadt herrschte so viel Betrieb, dass er zumindest das Gefühl haben konnte, anonym zu sein.

Gegenüber dem Wal-Mart fuhr er auf den Parkplatz zwischen der 12th und 13th Street und stellte den Wagen ab. Der Himmel war jetzt voller Wolken, die sich im Sü-den dunkel zusammenballten. Drinnen kaufte er neue Klamotten, Toilettenartikel, ein Ladegerät fürs Handy und verschiedene andere Dinge. Dann suchte er einen Rucksack, in dem er alles leicht verstauen konnte. Während er in der Schlange an der Kasse wartete und mit den übrigen Kunden langsam vorrückte, fühlte er seine Besorgnis wachsen. Er schien niemanden zu beobachten, aber in Wirklichkeit achtete er auf jede ungewöhnliche Aufmerksamkeit, die ihm gelten konnte.

Allzu viele Gedanken bedrängten ihn gleichzeitig. Er war auf der Flucht vor der Agency, die faktisch einen Preis auf seinen Kopf ausgesetzt hatte. Er wurde von einem unerklärlich fesselnden jungen Mann mit außergewöhnlichen Gaben verfolgt, der zufällig einer der gefährlichsten internationalen Auftragskiller war. Er hatte seine beiden besten Freunde verloren, von denen einer anscheinend eine offensichtlich äußerst gefährliche Nebenbeschäftigung gehabt hatte.

Weil er so abgelenkt war, merkte er nicht, dass der Chef des Sicherheitsdiensts ihm mit wenigen Schritten Abstand folgte. Der Mann hatte erst heute Morgen Besuch von einem CIA-Agenten bekommen, der ihm das schon im Fernsehen gezeigte Fahndungsfoto hingelegt und ihn zu schärfster Wachsamkeit aufgefordert hatte. Der Agent hatte ihm erklärt, er sei im Rahmen einer Großfahndung hier, bei der seine Kollegen und er alle großen Geschäfte, Kinos und dergleichen besuchten, damit alle Sicherheitsleute wussten, dass die Fahndung nach diesem Jason Bourne absoluten Vorrang haben musste. Der Sicherheitschef empfand eine Mischung aus Stolz und Angst, als er in seinem kleinen Büro verschwand und die Telefonnummer wählte, die der Agent ihm gegeben hatte.

Kurz nachdem der Sicherheitschef den Hörer aufgelegt hatte, betrat Bourne die Herrentoilette. Als Erstes stutzte er mit dem gekauften Batterierasierer sein Haar auf wenige Millimeter Länge. Dann zog er die neuen Sachen an: Jeans, ein rotweiß kariertes Cowboyhemd mit Perlmuttknöpfen und Laufschuhe von Nike. Vor dem Spiegel über den Waschbecken schraubte er den kleinen Tiegel auf, den er in der Kosmetikabteilung gekauft hatte, und verteilte den Inhalt sorgfältig auf seinem Gesicht, wodurch sein Teint merklich dunkler wurde. Ein anderes Produkt machte seine Augenbrauen voller und markanter. Die von Deron gelieferten Kontaktlinsen verliehen seinen grauen Augen einen glanzlosen braunen Farbton. Zwischendurch musste er mehrmals eine Pause machen, weil jemand hereinkam oder an die Waschbecken trat, aber die meiste Zeit hatte er die Herrentoilette für sich allein.

Als er fertig war, betrachtete er sich im Spiegel. Weil er noch nicht ganz zufrieden war, klebte er sich einen auffälligen Leberfleck auf die linke Wange. Damit war die Verwandlung komplett. Er nahm den Rucksack über eine Schulter, durchquerte den Laden und hielt auf den Glaskasten mit dem Hauptausgang zu.

Martin Lindros war in Alexandria, um nach der verpatzten Liquidierung bei Lincoln Fine Tailors Schadensbegrenzung zu betreiben, als der Anruf vom Chef des Si-cherheitsdiensts im Wal-Mart an der New York Avenue kam. An diesem Morgen hatte er mit Detective Harry Harris vereinbart, dass sie sich trennen und mit ihren jeweiligen Leuten weiterfahnden würden. Weil der Kriminalbeamte sich erst vor zehn Minuten gemeldet hatte, wusste Lindros, dass er einige Meilen weniger fahren musste. Das brachte ihn in eine teuflische Zwickmühle. Wegen des Fine-Fiaskos würde der Alte ihn gewaltig zusammenstauchen, aber wenn er erfuhr, dass Lindros zugelassen hatte, dass die State Police Bournes letzten bekannten Aufenthaltsort zuerst erreichte, würde er ihm das ewig vorhalten. Eine beschissene Situation, sagte er sich, und fuhr schneller. Wichtiger als alles andere war jedoch, dass Bourne geschnappt wurde. Plötzlich stand seine Entscheidung fest. Zum Teufel mit Eifersüchteleien und Geheimnissen zwischen den Diensten, dachte Lindros. Er ließ sein Handy eine gespeicherte Nummer wählen, wartete ab, bis Harris sich meldete, und gab ihm die Adresse des Wal-Marts.

«Passen Sie auf, Harry, Sie müssen sich lautlos annähern. Ihre Aufgabe ist’s, den Markt abzusperren. Sie sollen dafür sorgen, dass Webb nicht entkommt, das ist alles. Unter gar keinen Umständen dürfen Sie sich zeigen oder versuchen, ihn zu verhaften. Ist das klar? Ich bin nur wenige Minuten hinter Ihnen.«

Ich bin nicht so dumm, wie ich aussehe, dachte Harry Harris, während er die drei ihm unterstehenden Streifenwagen zusammenzog. Und ich bin jedenfalls nicht so dumm, wie Lindros glaubt. Er hatte reichlich Erfahrung mit CIA-und FBI-Typen und noch keinen kennen gelernt, der ihm sympathisch gewesen wäre. Alle Feds waren unverbesserlich von ihrer Überlegenheit überzeugt, als seien andere Polizeien völlig ahnungslos und müssten wie Kinder an der Hand geführt werden. Diese Einstellung ging Detective Harris verdammt gegen den Strich.

Lindros hatte ihn unterbrochen, als er seine eigene Theorie hatte erläutern wollen — weshalb sollte er sich also die Mühe machen, sie ihm jetzt mitzuteilen? Für Lindros war er nicht mehr als ein Packesel: Jemand, der so dankbar dafür war, mit der CIA zusammenarbeiten zu dürfen, dass er alle Befehle genauestens und ohne zu fragen ausführen würde. Harris war inzwischen klar, dass er längst nicht alle Informationen erhielt. So hatte Lindros ihm Webbs Auftauchen in Alexandria absichtlich verschwiegen. Davon hatte Harris nur zufällig erfahren. Als sie jetzt zum Wal-Mart unterwegs waren, beschloss er, die volle Kontrolle über die Situation zu übernehmen, solange er die Chance dazu hatte. Nachdem sein Entschluss gefasst war, griff er nach dem Mikrofon seines Funkgeräts und begann Befehle an seine Männer zu blaffen.

Im Wal-Mart hatte Bourne den Ausgang schon fast erreicht, als drei Streifenwagen der Virginia State Police mit Sirenengeheul die New York Avenue entlang rasten. Er wich in die Schatten zurück. Kein Zweifel, die Polizei war direkt hierher zum Wal-Mart unterwegs. Er war erkannt worden — aber wie? Darüber konnte er sich später den Kopf zerbrechen. Im Augenblick musste er sich einen Fluchtplan überlegen.

Die Streifenwagen hielten mit quietschenden Reifen, blockierten den Verkehr und provozierten sofort ein Hupkonzert. Bourne konnte sich nur einen Grund vorstellen, weshalb sie außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs im Einsatz waren: Sie waren im Auftrag der Agency hier. Die Männer der D.C. Metro Police waren bestimmt fuchsteufelswild.

Er zog Conklins Handy aus der Tasche und wählte

den Polizeinotruf.

«Hier ist Detective Morran von der Virginia State Police«, sagte er.»Ich möchte sofort einen District Commander sprechen.«

«District Commander Burton Philips«, sagte eine stählerne Stimme in seinem Ohr.

«Hören Sie, Philips, ihr Jungs seid klar und deutlich angewiesen worden, eure Nase nicht in unsere Angelegenheiten zu stecken. Jetzt sehe ich Ihre Streifenwagen vor dem Wal-Mart in der New York Avenue vorfahren und…«

«Sie sind mitten im District, Morran. Was zum Teufel haben Sie in meinem Bereich zu wildern?«

«Das geht Sie nichts an«, sagte Bourne in seinem arrogantesten Tonfall.»Hängen Sie sich ans Telefon, und sorgen Sie dafür, dass Ihre gottverdammten Jungs mir nicht in die Quere kommen.«

«Morran, ich weiß nicht, woher Sie diese Dreistigkeit haben, aber bei mir verfängt sie nicht. Ich bin in drei Minuten drüben, das schwöre ich Ihnen, und trete Ihnen persönlich in den Hintern!«

Unterdessen wimmelte es auf der Straße von Cops. Statt in den Wal-Mart zurückzuweichen, verließ Bourne, der dabei das linke Knie steif hielt, gelassen mit etwa einem Dutzend weiterer Kunden den Supermarkt. Die Hälfte der Cops unter Führung eines großen, leicht gebeugten Kriminalbeamten suchte rasch die Gesichter dieses Dutzends ab, während sie in den Wal-Mart rannten. Die übrigen Cops verteilten sich auf dem Parkplatz. Zwei sperrten die New York Avenue zwischen der 12th und 13th Street ab; die anderen sorgten dafür, dass neu ankommende Kunden in ihren Autos blieben; einer sprach in sein Handfunkgerät, um den Verkehr zu koordinieren.

Statt zu seinem Wagen zu gehen, wandte Bourne sich nach rechts und verschwand um die Ecke, um die Ladezone hinter dem Supermarkt zu erreichen, wo Lieferungen angenommen wurden. Vor sich sah er vier oder fünf rückwärts eingeparkte Sattelschlepper, die entladen wurden. Schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite lag der Franklin Park. Er hielt darauf zu.

Jemand rief hinter ihm her. Bourne ging weiter, als habe er nichts gehört. Als nochmals Sirenen heulten, sah er auf seine Uhr. Commander Burton Philips kam überaus pünktlich. Er hatte ungefähr die halbe Strecke entlang des Gebäudes zurückgelegt, als er wieder angerufen wurde, diesmal energischer, befehlender. Dann war hinter ihm ein Durcheinander aus schreiend lauten Stimmen zu hören, die sich erregt fluchend stritten.

Bourne drehte sich um, sah den gebeugt gehenden Kriminalbeamten, der seinen Dienstrevolver gezogen hatte. Hinter ihm kam Commander Philips angerannt: eine große, imposante Gestalt mit silbern glänzendem Haar, unter dem seine Hamsterbacken vor Wut und Anstrengung gerötet waren. Nach Art von Würdenträgern in aller Welt war er von zwei Schwergewichtlern flankiert, deren Gesichter so finster waren wie ihre Schultern breit. Ihre rechten Hände lagen auf ihren Dienstwaffen, als seien sie bereit, jeden zu durchsieben, der töricht genug war, sich den Wünschen des Commanders zu widersetzen.

«Unterstehen diese Trooper aus Virginia Ihnen?«, rief Philips.

«State Police«, sagte der Detective.»Und, yeah, sie un-terstehen mir. «Er runzelte die Stirn, als er Uniformen der D.C. Metro Police sah.»Verdammt, was machen Sie hier? Sie versauen mir meinen Einsatz.«

«Ihren Einsatz!«Commander Philips war einem Schlaganfall nahe.»Verschwinden Sie aus meinem Revier, Sie Arschloch von einem Hinterwäldler!«

Das schmale Gesicht des Kriminalbeamten wurde weiß.»Wer ist hier ein Arschloch von einem Hinterwäldler?«

Bourne überließ sie ihrer Auseinandersetzung. Der Park kam nicht mehr in Frage; da der Kriminalbeamte auf ihn aufmerksam geworden war, brauchte er einen kürzeren Fluchtweg. Er ging vor den Sattelschleppern vorbei weiter, bis er einen fand, der schon entladen war. Er kletterte ins Fahrerhaus. Der Schlüssel steckte; er brauchte ihn nur nach rechts zu drehen. Der große Motor sprang mit einem Basso-profundo-Grollen an.

«He, was soll der Scheiß, Kumpel?«

Der Fahrer riss die Tür auf. Er war ein riesiger Kerl mit einem Hals wie ein Baumstamm und entsprechenden Armen. Während er sich hochzog, griff er nach einer abgesägten Schrotflinte in einer verdeckten Halterung über dem Fahrersitz. Bournes Faust knallte auf seinen Nasensattel. Blut spritzte, und der Blick des Fahrers verschwamm. Die Schrotflinte fiel ihm aus den Händen.

«Entschuldige, Kumpel«, sagte Bourne, als er einen Handkantenschlag anbrachte, der selbst diesen Stier von einem Mann bewusstlos machen musste. Dann zerrte er ihn auf den Beifahrersitz, indem er ihn hinten an seinem Nietengürtel packte, knallte die Tür zu und fuhr an.

In diesem Augenblick bemerkte er, dass ein neuer Akteur die Bühne betreten hatte. Ein jüngerer Mann war zwischen die streitenden Polizeibeamten getreten und trennte die beiden grob voneinander. Bourne erkannte Martin Lindros, den stellvertretenden CIA-Direktor. Folglich hatte der Alte ihn mit der Leitung der hiesigen Fahndung beauftragt. Das war schlimm. Von Alex wusste Bourne, dass Lindros hochintelligent war; er würde nicht so leicht auszutricksen sein, wie schon das engmaschige Netz in der Old Town bewiesen hatte.

Aber solche Überlegungen waren jetzt zweitrangig, denn Lindros war auf den anfahrenden Sattelschlepper aufmerksam geworden und versuchte, ihn heftig mit den Armen rudernd aufzuhalten.

«Keiner verlässt das Gelände!«, brüllte er.

Bourne ignorierte ihn, nahm den Fuß nicht vom Gaspedal. Er durfte es nicht auf eine persönliche Konfrontation mit Lindros ankommen lassen; als erfahrener Agent konnte der Mann seine Tarnung durchschauen.

Lindros zog seine Dienstwaffe. Bourne sah ihn winkend und schreiend zu dem verzinkten Stahltor rennen, durch das der Sattelschlepper würde fahren müssen.

Als Reaktion auf seine gebrüllten Befehle schlossen die beiden am Tor stationierten Beamten der Virginia State Police hastig die Torflügel, während ein CIA-Fahrzeug sich einen Weg durch die Absperrung auf der New York Avenue bahnte, um den Sattelschlepper abzufangen.

Bourne trat das Gaspedal ganz durch, und der unbela-dene Sattelschlepper beschleunigte schwerfällig. Die Cops sprangen im letzten Augenblick zur Seite, als er das geschlossene Tor durchbrach und seine Flügel aus den Angeln riss, sodass sie hoch durch die Luft wirbelten und auf beiden Seiten des Sattelschleppers auf den Asphalt krachten. Er schaltete herunter, bog scharf rechts ab und raste, weiter beschleunigend, die Straße entlang davon.

Ein Blick in die übergroßen Außenspiegel des Fahrzeugs zeigte ihm, wie die CIA-Limousine langsamer wurde. Die Beifahrertür wurde aufgestoßen, und Lindros sprang hinein und knallte die Tür hinter sich zu. Der Wagen beschleunigte wie eine Rakete, er holte den Sattelschlepper mühelos ein. Bourne wusste, dass er nicht hoffen durfte, die Verfolger mit diesem schwerfälligen Ungetüm abzuhängen, aber seine schiere Größe, die in Bezug auf Geschwindigkeit nachteilig war, konnte in anderer Beziehung vorteilhaft sein.

Er ließ zu, dass die Limousine ihm mit geringem Abstand folgte. Dann beschleunigte sie plötzlich und schob sich entlang der linken Seite des Sattelschleppers nach vorn. Im Außenspiegel sah er, wie Martin Lindros, dessen Lippen vor Konzentration einen schmalen Strich bildeten, seine Pistole in einer Hand hielt, wobei die andere das Handgelenk umfasste, um die Waffe zu stabilisieren. Im Gegensatz zu Schauspielern in Actionfilmen wusste er, wie man aus einem schnell fahrenden Auto schoss.

Als er eben abdrücken wollte, lenkte Bourne sein Fahrzeug mit einem kurzen Schlenker nach links. Die Limousine prallte seitlich gegen den Sattelschlepper; Lindros hielt seine Pistole senkrecht, während der Fahrer darum kämpfte, nicht die am linken Straßenrand geparkten Autos zu rammen.

Sobald der Fahrer die Limousine abgefangen hatte, begann Lindros aufs Fahrerhaus des Sattelschleppers zu schießen. Der Schusswinkel war ungünstig, und er konnte nicht ruhig zielen, aber der Feuerhagel genügte, um Bourne zu veranlassen, rechts abzubiegen. Ein Geschoss hatte das linke Seitenfenster zersplittern lassen; zwei wei-tere hatten die Rückenlehne durchschlagen und den bewusstlosen Trucker getroffen.

«Gottverdammt noch mal, Lindros«, sagte Bourne. Auch wenn er sich in einer Notlage befand, wollte er nicht am Tod eines unbeteiligten Mannes schuld sein. Er war bereits nach Westen unterwegs; das George Washington University Hospital in der 23rd Street war nicht mehr allzu weit entfernt. Er bog erneut rechts und dann wieder links auf die K Street ab, donnerte weiter und benützte seine Druckluftfanfare, während er rote Ampeln überfuhr. In der i8th Street überhörte ein Autofahrer, der vermutlich halb schlafend am Steuer saß, dieses Warnsignal und knallte rechts gegen das Heck des Sattelschleppers. Bourne geriet gefährlich ins Schleudern, brachte das schwere Fahrzeug wieder auf Kurs und raste weiter. Lindros’ Wagen blieb weiter hinter ihm, konnte aber nicht vorfahren, weil die K Street mit ihrem bepflanzten Mittelstreifen zu schmal war, als dass der Fahrer sich seitlich hätte nach vorn schieben können.

Als er die 20th Street überquerte, konnte er die unter dem Washington Circle hindurchführende Unterführung sehen. Von dort aus war das Krankenhaus nur noch einen Straßenblock weit entfernt. Ein Blick in den Außenspiegel zeigte ihm, dass die CIA-Limousine nicht mehr hinter ihm war. Bourne hatte auf der 22nd Street zum University Hospital fahren wollen, aber als er eben zum Abbiegen ansetzte, sah er die Limousine auf der 22nd Street auf sich zurasen. Lindros beugte sich weit aus dem Beifahrerfenster und begann in seiner methodischen Art zu schießen.

Bourne trat das Gaspedal nochmals durch, und der Sattelschlepper schoss vorwärts. Jetzt musste er die Unterführung benützen und das Krankenhaus von der anderen Seite aus anfahren. Aber als er auf die Unterführung zufuhr, merkte er, dass hier etwas nicht stimmte. Der Tunnel unter dem Washington Circle war völlig finster; vom anderen Ende aus fiel kein Tageslicht herein. Das konnte nur eines bedeuten: Dort vorn war eine Straßensperre errichtet worden — eine Barriere aus großen Fahrzeugen quer über beide Fahrspuren der K Street.

Er raste in die Unterführung hinein, schaltete herunter und trat erst kräftig auf die Bremse, als er von Dunkelheit umgeben war. Gleichzeitig ließ er einen Handballen auf dem Knopf für die Druckluftfanfare. Ihr Dröhnen wurde von Stein und Beton zurückgeworfen, bis es ohrenbetäubend war und das Quietschen der Reifen übertönte, als Bourne das Lenkrad nach links riss und die Mittelleitplanke niederwalzte, sodass der Sattelschlepper quer zu den Fahrbahnen stehen blieb. Er war mit einem Satz aus dem Fahrerhaus und spurtete zur Nordwand der Unterführung hinüber. Der zwischen ihm und der Straßensperre quer stehende Sattelschlepper reichte von einer Tunnelwand bis zur anderen über beide Fahrspuren der K Street. Bourne tastete nach der für Wartungsarbeiten an der Wand festgeschraubten Stahlleiter, zog sich auf die unterste Sprosse hoch und begann die Leiter zu erklettern, als die ersten Suchscheinwerfer aufleuchteten. Er drehte den Kopf zur Seite, schloss die Augen und kletterte weiter.

Wenige Augenblicke später sah er die Scheinwerfer, die den Sattelschlepper und den Asphalt darunter beleuchteten. Bourne, nun fast auf gleicher Höhe mit dem Scheitelpunkt der Fahrbahn, konnte Martin Lindros erkennen. Als er in sein Handfünkgerät sprach, flammten auch am anderen Ende des Tunnels Suchscheinwerfer auf. Sie hatten den Sattelschlepper in einem Zangengriff. Von beiden Enden der K Street kamen CIA-Agenten mit schussbereiten Waffen angerannt.

«Sir, im Fahrerhaus liegt jemand. «Der Agent kletterte zu ihm hinauf.»Er ist angeschossen und blutet ziemlich stark.«

Lindros rannte zum Führerhaus. Auf seinem Gesicht stand Anspannung, als er ins Scheinwerferlicht kam.»Ist’s Bourne?«

Hoch über ihnen erreichte Bourne das Mannloch mit dem Eisendeckel. Als er den Riegel zurückzog und den Deckel hochstemmte, befand er sich unter den dekorativen Bäumen, die den Washington Circle am Rand umgaben. Um ihn herum brauste der Verkehr: eine unerbittliche, niemals endende Prozession von leicht verschwommenen Fahrzeugen. Im Tunnel unter ihm wurde der verletzte Trucker geborgen und ins nahe University Hospital gebracht. Nun wurde es Zeit, dass Bourne sich selbst rettete.

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