Kapitel zehn

Bourne stand im Schatten des aus Stahl und Glas erbauten internationalen Abflugterminals. Der Washington National Airport war ein Tollhaus: Geschäftsleute mit Laptops und kleinen Rollenkoffern, Familien mit riesigem Gepäck, Kinder mit Micky-Maus-, Power-Ranger- oder TeddybärRucksäcken, ältere Leute in Rollstühlen, eine Gruppe Mormonenmissionare auf dem Weg in die Dritte Welt und Händchen haltende Liebespaare mit Flugtickets ins Paradies drängten und schoben sich durch die Halle. Doch trotz des Gewühls hatten Flughäfen stets etwas Leeres an sich. Deshalb sah Bourne nichts als leeres Starren: den nach innen gerichteten Blick, mit dem der Mensch sich instinktiv gegen grässliche Langeweile abschottet.

Eine Ironie, die Bourne nicht entging, war die Tatsache, dass auf Flughäfen, wo das Warten eine Institution war, die Zeit stillzustehen schien. Nur nicht für ihn. Jetzt zählte jede Minute, denn sie brachte ihn der Liquidierung durch genau die Leute näher, für die er früher gearbeitet hatte.

In der Viertelstunde, die er nun schon hier war, hatte er ein Dutzend Verdächtige in Zivil gesehen. Einige patrouillierten in den Abflugbereichen und tranken aus Pappbechern Kaffee, als könnten sie so mit Zivilisten verwechselt werden. Die meisten standen jedoch in der Nähe der Check-in-Schalter der Fluggesellschaften und musterten die Fluggäste, die dort Schlange standen, um ihr Gepäck abzugeben und ihre Bordkarte in Empfang zu nehmen. Bourne erkannte fast augenblicklich, dass es für ihn unmöglich sein würde, an Bord einer Passagiermaschine zu gehen. Doch welche Alternative hatte er sonst? Er musste so schnell wie möglich nach Budapest.

Bourne trug eine beige Sommerhose, einen billigen durchsichtigen Regenmantel über einem schwarzen Rollkragenpullover und Top-Sider-Schuhe von Sperry statt der Laufschuhe, die er mit den übrigen Klamotten, die er im Wal-Mart getragen hatte, in einen Abfallbehälter gestopft hatte. Weil er dort erkannt worden war, hatte er sein Aussehen möglichst schnell verändern müssen. Aber nachdem er die Situation im Terminal begutachtet hatte, war er mit der Wahl seiner Garderobe ganz und gar nicht zufrieden.

Er wich den patrouillierenden Agenten aus, ging in die von feinem Nieselregen erfüllte Nacht hinaus und bestieg einen Shuttlebus, der ihn zum Frachtterminal bringen würde. Er setzte sich hinter den Fahrer und begann eine Unterhaltung mit ihm. Der Busfahrer hieß Ralph. Bourne stellte sich als Joe vor. Als der Bus an einem Zebrastreifen halten musste, schüttelten sie sich kurz die Hand.

«He, ich will meinen Cousin bei OnTime Cargo besuchen«, sagte Bourne,»aber dämlich wie ich bin, hab ich die Wegbeschreibung verloren.«

«Was isser dort?«, fragte Ralph, während er auf die Überholspur wechselte.

«Er ist Pilot. «Bourne rückte etwas näher.»Er wollte unbedingt zu American oder Delta, aber Sie wissen ja, wie so was läuft.«

Ralph nickte mitfühlend.»Die Reichen werden reicher, und die Armen werden beschissen. «Er hatte eine

Knopfnase, einen widerspenstigen Haarschopf und dunkle Ringe unter den Augen.»Wem erzählen Sie das?«

«Okay, können Sie mir sagen, wie ich dort hinkomme?«

«Ich kann mehr als das«, sagte Ralph, indem er Bournes Blick in seinem langen Rückspiegel erwiderte.»Am Frachtterminal ist meine Schicht zu Ende. Ich bringe Sie hin.«

Chan stand im gleißend hellen Licht der Flughafenbeleuchtung im Regen und durchdachte die Situation. Bourne würde die Agenten gewittert haben, noch bevor sie ihn entdeckten. Chan hatte über fünfzig gezählt, was vermutlich bedeutete, dass in anderen Bereichen des Flughafens dreimal so viele im Einsatz waren. Bourne würde wissen, dass er niemals durch ihr Spalier hindurch an Bord einer ins Ausland fliegenden Maschine gelangen würde, selbst wenn er seine Kleidung noch so sehr veränderte. Im Wal-Mart war er erkannt worden; sie wussten jetzt, wie er aussah, das hatte Chan in der Unterführung gehört.

Er konnte Bourne in der Nähe fühlen. Nachdem er neben ihm auf der Parkbank gesessen und sein Gewicht, seinen Knochenbau, sein Muskelspiel, die Verteilung von Licht und Schatten auf seinem Gesicht in sich aufgenommen hatte. Er wusste, dass er hier war. In der kurzen Zeit ihres Beisammenseins hatte er heimlich Bournes Gesicht studiert. Ihm war bewusst gewesen, dass er sich dringend alle Umrisse und ihre Veränderung durch das Mienenspiel des anderen einprägen musste. Was hatte er in Bournes Gesichtsausdruck gesucht, als er sein lebhaftes Interesse bemerkt hatte? Bestätigung? Respekt? Das wusste er nicht einmal selbst. Er wusste nur, dass Bournes Ge-sicht zu einem Bestandteil seines Bewusstseins geworden war. Was auch geschehen mochte, Bourne hatte ihn in seiner Gewalt. Sie waren gemeinsam aufs Rad ihrer eigenen Begierden geflochten und würden es bleiben, bis der Tod sie erlöste.

Chan sah sich nochmals um. Bourne musste die Stadt, vielleicht sogar das Land verlassen. Aber die Agency würde ihr Personal verstärken, um die Fahndung auszudehnen, während sie gleichzeitig versuchte, das Netz enger zu ziehen. Chan an seiner Stelle hätte das Land so schnell wie möglich verlassen wollen, deshalb machte er sich auf den Weg zum internationalen Ankunftsgebäude. Im Terminal stand er vor einem riesigen, farbig kodierten Plan des Flughafens und suchte den kürzesten Weg zum Frachtterminal heraus. Da die internationalen Flüge bereits scharf überwacht wurden, lag Bournes beste Chance, von diesem Flughafen wegzukommen, an Bord einer Frachtmaschine. Dabei musste er sich jetzt beeilen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Agency erkannte, dass er nicht versuchen würde, an Bord eines Passagierflugzeugs zu gelangen, und prompt anfangen würde, auch die Frachtterminals zu überwachen.

Chan ging wieder in den Regen hinaus. Nachdem er festgestellt hatte, welche Maschinen in der kommenden Stunde starten würden, brauchte er nur noch auf Bourne zu achten und ihn — wenn er richtig vermutet hatte — zu erledigen. Er hegte keine Illusionen mehr darüber, wie schwierig diese Aufgabe sein würde. Zu seinem großen Schock und Verdruss hatte Bourne sich als cleverer, entschlossener und einfallsreicher Gegner erwiesen. Er hatte Chan wehgetan, hatte ihn sogar gefangen, war ihm mehr als einmal entwischt. Chan wusste, dass Bourne mit sei-nem Angriff rechnete. Diesmal würde er ihn überraschen müssen, wenn er Erfolg haben wollte. In seinem Kopf glaubte er die Stimme des Dschungels zu hören, die ihn rief, die ihre Botschaft von Tod und Verderben wiederholte. Das Ende seines langen Trecks war in Sicht. Er würde Jason Bourne dieses eine letzte Mal überlisten.

Bourne war der einzige Fahrgast, als sie die Endstation erreichten. Der Regen war stärker geworden, und der Nachmittag ging in eine frühe Abenddämmerung über. Der Hirnmel war eintönig schiefergrau: eine leere Tafel, auf die jetzt jede Zukunft geschrieben werden konnte.

«On Time Cargo ist mit FedEx, Lufthansa und dem Zoll im Cargo fünf. «Ralph fuhr seinen Bus auf die Parkfläche und stellte die Zündung ab. Sie stiegen aus und hasteten im Regen über den Asphalt zu einem der riesigen hässlichen Flachdachbauten hinüber.»Gleich hier drin.«

Sie betraten das Gebäude, und Ralph schüttelte den Regen von sich ab. Er war ein Mann mit birnenförmiger Figur und merkwürdig zierlichen Händen und Füßen. Jetzt deutete er nach links.»Sehen Sie, wo der Zoll ist? Zwei Stationen weiter das Gebäude entlang finden Sie Ihren Cousin.«

«Vielen Dank«, sagte Bourne.

Ralph zuckte mit den Schultern und grinste.»Keine Ursache, Joe. «Er streckte ihm die Hand hin.»Freut mich, dass ich Ihnen helfen konnte.«

Als der Busfahrer mit den Händen in den Hosentaschen davonschlenderte, machte Bourne sich auf den Weg zu OnTime Cargo. Aber er hatte nicht die Absicht, dort hinzugehen — zumindest nicht gleich. Stattdessen machte er kehrt und folgte Ralph zu einer Tür mit der Aufschrift

KEIN ZUTRITT FÜR UNBEFUGTE — ZUTRITT NUR FÜR PERSONAL. Während er beobachtete, wie Ralph seinen laminierten Dienstausweis in einen Metallschlitz steckte, zog er eine Kreditkarte aus der Tasche. Die Tür ließ sich öffnen, und als Ralph nach drinnen verschwand, huschte Bourne lautlos nach vorn und steckte die Kreditkarte in den Schlitz. Die Tür schloss sich wie vorgesehen automatisch, aber die Kreditkarte verhinderte, dass das Schloss einschnappte. Er zählte in Gedanken bis dreißig, um sicherzugehen, dass Ralph nicht mehr in der Nähe der Tür war. Dann stieß er sie auf und steckte seine Kreditkarte wieder ein, als er hindurchging.

Hinter der Tür lag der Umkleide- und Duschraum des Flughafenpersonals. Die Wände waren weiß gekachelt; den Betonboden bedeckte eine wabenförmige Gummimatte, damit die Füße der Männer auf dem Weg zu und von den Duschen trocken blieben. Vor ihm standen acht Reihen von Metallspinden in Standardausführung, die meisten mit einfachen Zahlenschlössern gesichert. Rechts hinten führte ein Durchgang zu den Waschbecken und Duschkabinen. In einem kleinen Raum am Ende des Flurs befanden sich die Toiletten.

Bourne spähte vorsichtig um die Ecke der nächsten Reihe von Spinden und sah Ralph barfuß zu den Duschen tapsen. Ihm etwas näher seifte sich ein weiterer Mann vom Flughafenpersonal ein, wobei er Bourne und Ralph den Rücken zukehrte. Als Bourne sich umsah, entdeckte er sofort Ralphs Spind. Die Tür stand einen Spalt weit offen, das Zahlenschloss hing geöffnet am Türgriff selbst. Natürlich. Was war an einem sicheren Ort wie diesem zu befürchten, wenn man seinen Spind für ein paar Minuten unverschlossen ließ, während man unter der Dusche stand? Bourne zog die Tür weiter auf und sah Ralphs Dienstausweis auf seinem Unterhemd auf einer Metallablage liegen. Er steckte ihn ein. Ganz in der Nähe stand der ebenfalls offene Spind des zweiten Duschenden. Bourne vertauschte die Schlösser, ließ das an Ralphs Spindtür einschnappen. Das würde den Busfahrer hoffentlich so lange daran hindern, den Diebstahl seines Dienstausweises zu bemerken, wie Bourne ihn voraussichtlich brauchen würde.

Er schnappte sich einen der vom Bodenpersonal getragenen Overalls aus dem offenen Wagen für Schmutzwäsche, kontrollierte, ob die Größe ungefähr stimmte, und zog sich rasch um. Dann verließ er mit Ralphs Dienstausweis um den Hals den Umkleideraum und ging eilig zum Zoll weiter, wo auf einem Monitor die nächsten planmäßigen Flüge angezeigt waren. Nach Budapest ging keiner, aber Flug 113 von Rush Service nach Paris sollte in achtzehn Minuten von Cargo vier aus starten. In den kommenden neunzig Minuten war dies der einzige Flug, aber Paris gehörte zu den großen Drehkreuzen des europäischen Luftverkehrs, das war auch in Ordnung. Von dort aus würde er leicht nach Budapest kommen.

Bourne hastete auf das nass glänzende Vorfeld hinaus. Es goss jetzt in Strömen, aber er sah keine Blitze, und auch der Donner, den er zuvor gehört hatte, war verstummt. Das war gut, denn er wollte nicht, dass Flug 113 aus irgendwelchen Gründen verspätet startete. Er ging schneller und hielt auf das nächste Gebäude zu, in dem Cargo drei und vier untergebracht waren.

Als er das Terminal betrat, war er nass bis auf die Haut. Ein kurzer Blick nach links und rechts, dann strebte er dem Abfertigungsbereich von Rush Service zu. Hier waren nur wenige Leute unterwegs, was nicht gut war. Es war immer leichter, in einer Menge unterzutauchen, als sich einigen wenigen Leuten anpassen zu müssen. Er fand den Eingang für Berechtigte, steckte Ralphs Dienstausweis in den Schlitz, hörte das erfreuliche Klicken, mit dem das Schloss sich öffnete, stieß die Tür auf und ging hindurch. Als er auf gewundenem Weg den Korridoren aus Hohlblocksteinen folgte, die zwischen Lagerräumen mit hohen Kistenstapeln hindurchführten, wurden die Gerüche von harzigem Holz, Sägemehl und Pappe fast überwältigend stark. Überall herrschte eine Atmosphäre von Vergänglichkeit, ein Gefühl von ständiger Bewegung, von Menschenleben, die von Flugplänen und dem Wetter abhängig waren, und von Besorgnis wegen möglicher technischer und menschlicher Fehler. Hier gab es nirgends Sitzgelegenheiten, nirgends einen Platz zum Ausruhen.

Bourne sah weder links noch rechts und bewegte sich mit zielbewusster Autorität, die niemand anzweifeln würde. Bald erreichte er eine weitere Tür, diesmal eine Stahltür, in die ein kleines Fenster eingelassen war. Durchs Fenster konnte er auf dem Vorfeld Frachtflugzeuge sehen, die be- oder entladen wurden. Er brauchte nicht lange, um die Maschine von Rush Service ausfindig zu machen, deren Frachtraumtür noch offen stand. Von dem Flugzeug führte ein dicker Schlauch zu einem Tankwagen. Ein Mann in gelber Regenjacke mit hochgeschlagener Kapuze überwachte den Tankvorgang. Pilot und Kopilot waren im Cockpit und führten die Vorflugkontrollen durch.

Als er gerade Ralphs Dienstausweis in den Schlitz stecken wollte, klingelte Conklins Handy. Der Anrufer war Robbinet.

«Jacques, wies aussieht, bin ich bald in deine Richtung unterwegs. Kannst du mich um… in ungefähr sieben Stunden am Flughafen abholen?«

«Mais oui, mon ami. Ruf mich an, wenn du gelandet bist. «Er gab Bourne seine Handynummer.»Ich freue mich sehr, dich schon so bald wiederzusehen.«

Bourne wusste, was Robbinet damit meinte. Er freute sich, dass es ihm gelungen war, durchs Netz der Agency zu schlüpfen. Noch nicht, dachte Bourne. Noch nicht ganz. Aber bald war es so weit. Bis dahin…

«Jacques, was hast du rausgekriegt? Hast du in Erfahrung bringen können, was NX 20 ist?«

«Nein, leider nicht. Ein Projekt mit dieser Bezeichnung ist nirgends bekannt.«

Bournes Herz sank.»Was ist mit Dr. Schiffer?«

«Ah, da habe ich etwas mehr Glück gehabt«, sagte Robbinet.»Ein Dr. Felix Schiffer arbeitet bei der DARPA — oder hat es zumindest getan.«

Eine kalte Hand schien nach Bournes Herz zu greifen.»Was soll das heißen?«

Bourne hörte Papier rascheln und konnte sich vorstellen, wie sein Freund in den Informationen blätterte, die seine Washingtoner Quellen ihm übermittelt hatten.»Dr. Schiffer steht nicht mehr auf der Liste der DARPA. Er ist dort vor dreizehn Monaten ausgeschieden.«

«Was macht er seitdem?«

«Keine Ahnung. Kein Mensch weiß, wo er steckt.«

«Er ist spurlos verschollen?«, fragte Bourne ungläubig.

«Genau das scheint passiert zu sein, so unglaublich das heutzutage klingen mag.«

Bourne schloss kurz die Augen.»Nein, nein. Er ist noch irgendwo — er muss irgendwo sein.«

«Aber was…?«

«Er ist >verschwunden< worden — von Profis.«

Da Felix Schiffer verschwunden war, musste er so schnell wie möglich nach Budapest. Sein einziger Hinweis war der Schlüssel aus dem Grandhotel Danubius. Er sah auf seine Uhr. Die Zeit drängte. Er musste los. Sofort.»Danke, dass du dich so für mich exponiert hast, Jacques.«

«Tut mir Leid, dass ich nicht mehr für dich tun konnte. «Robbinet zögerte.»Jason…«

«Ja?«

«Bonne chance.«

Bourne steckte das Handy ein, stieß die mit Edelstahl beplankte Tür auf und trat in das schwere Wetter. Aus tief hängenden, dunklen Wolken goss es in Strömen; im Licht der Vorfeldbeleuchtung bildete der schräg fallende Regen silbrig schimmernde Schleier, lief in glitzernden Bächen über Unebenheiten im Asphalt. Er ging wegen des Windes leicht nach vorn gebeugt, aber mit dem sicheren Schritt eines Mannes, der seine Aufgabe kennt und sie rasch und effektiv erledigen will. Als er um den Bug der Maschine kam, konnte er die offene Frachtraumtür vor sich sehen. Der Mann, der das Flugzeug betankte, war eben fertig und hatte den Schlauch abgeschraubt.

Aus dem Augenwinkel heraus nahm Bourne Bewegungen links von sich wahr. Eine der Türen von Cargo vier wurde aufgestoßen, und mehrere Sicherheitsbeamte kamen mit schussbereiten Waffen aufs Vorfeld gestürmt. Ralph musste seinen Spind endlich aufbekommen haben. Bournes Zeit war fast abgelaufen. Trotzdem behielt er sein gleichmäßiges Tempo bei. Er hatte die Frachtraumtür schon fast erreicht, als der Tankwagenfahrer ihn ansprach:»He, Kumpel, kannst du mir sagen, wie spät es ist? Meine Uhr ist stehen geblieben.«

Bourne drehte sich um. Im selben Augenblick erkannte er die asiatischen Züge unter der Kapuze. Chan spritzte ihm einen Strahl Kerosin ins Gesicht. Bourne riss verspätet die Hände hoch, würgte krampfhaft und war geblendet.

Chan stürzte sich auf ihn, drängte ihn gegen die regennasse Metallbeplankung des Flugzeugrumpfs zurück. Er brachte zwei brutale Boxhiebe an, von denen einer Bournes Solarplexus und der andere seine linke Kopfseite traf. Als Bourne auf die Knie sank, stieß Chan ihn in den Frachtraum.

Chan drehte sich um und sah einen Mann von Rush Service auf sich zukommen. Er hob einen Arm.»Alles okay, ich schließe hier ab«, sagte er. Dabei hatte er Glück, weil der Regen es erschwerte, sein Gesicht oder seine Uniform zu erkennen. Der Mann vom Frachtdienst, der froh war, aus Wind und Regen herauszukommen, hob dankend die Hand. Chan knallte die Frachtluke zu und verriegelte sie. Dann spurtete er zu dem Tankwagen hinüber und fuhr ihn so weit von der Maschine weg, dass er sie beim Rollen nicht behinderte.

Die Sicherheitsbeamten, die Bourne zuvor beobachtet hatte, arbeiteten sich die abgestellten Flugzeuge entlang vor. Sie kontrollierten dabei die Cockpitbesatzungen. Chan brachte das Flugzeug zwischen sich und die Uniformierten. Er griff nach oben, entriegelte die Frachtraumtür und schwang sich hinein. Bourne hatte sich auf Händen und Knien aufgerichtet, ließ den Kopf hängen. Von seiner Fähigkeit, sich zu erholen, überrascht, trat

Chan ihm brutal in die Rippen. Bourne kippte mit einem Grunzen zur Seite und schlang die Arme um seinen Oberkörper.

Chan zog eine Nylonkordel aus der Brusttasche seiner gelben Regenjacke. Er drückte Bourne mit dem Gesicht nach unten auf den Boden des Frachtraums, riss ihm die Arme nach hinten und fesselte seine gekreuzten Handgelenke mit der Kordel. Obwohl der Regen auf den Flugzeugrumpf trommelte, konnte er hören, wie die Sicherheitsbeamten die beiden Piloten aufforderten, ihre Dienstausweise vorzuzeigen. Chan ließ den Gefesselten liegen, trat an die Frachtraumluke und verriegelte sie lautlos von innen.

Danach saß Chan einige Minuten lang mit untergeschlagenen Beinen in der Dunkelheit des Frachtraums. Durch den auf den Flugzeugrumpf prasselnden Regen entstand ein arrhythmisches Geräusch, das ihn an Urwaldtrommeln erinnerte. Er war ziemlich krank gewesen, als er diese Trommeln gehört hatte. Sein fiebriger Verstand hatte sie für das Röhren von Flugzeugtriebwerken, das Knattern von verdichteter Luft an den Lufteinlässen kurz nach Einleitung eines steilen Sturzflugs gehalten. Die Geräusche hatten ihn erschreckt, weil sie Erinnerungen weckten: Erinnerungen, die er lange und mühsam in den hintersten Winkel seines Bewusstseins verbannt hatte. Das Fieber hatte alle seine Sinne auf fast schmerzhafte Weise geschärft. So nahm er wahr, dass der Dschungel lebendig geworden war, dass Gestalten in bedrohlich keilförmiger Formation auf ihn zukamen. Seine einzige bewusste Reaktion bestand darin, dass er den kleinen, aus Stein geschnittenen Buddha, den er um den Hals trug, hastig im weichen Boden neben sich verscharrte. Er konnte Stimmen hören und begriff nach einiger Zeit, dass die Gestalten ihm Fragen stellten. Er blinzelte durch den Fieberschweiß und versuchte, sie in dem smaragdgrünen Dämmerlicht zu erkennen, aber eine von ihnen verband ihm die Augen. Eine überflüssige Vorsichtsmaßnahme. Als sie ihn von seiner Lagerstatt aus Laubstreu aufhoben, verlor er das Bewusstsein. Und als er zwei Tage später wieder zu sich kam, befand er sich in einem Lager der Roten Khmer. Sobald er nach Ansicht eines ausgemergelten Mannes mit eingefallenen Wangen und nur einem wässrigen Auge vernehmungsfähig war, begann das Verhör.

Sie warfen ihn in ein Erdloch mit sich windenden Lebewesen, die er bis heute nicht hatte identifizieren können. Er wurde in eine Dunkelheit geworfen, die tiefer und vollständiger war als irgendeine, die er zuvor erlebt hatte. Und es war diese Finsternis, die ihn am meisten ängstigte. Sie hüllte ihn ein, beengte ihn, drückte gegen seine Schläfen wie ein Gewicht, das unheilvoll proportional zur Länge seines Aufenthalts In dem Erdloch anwuchs.

Eine Finsternis, die der im Bauch von Rush Service Flug 113 nicht unähnlich war.

Und Jona betete zu dem Herrn, seinem Gott, im Leibe des Fisches. Und sprach: Ich rief zu dem Herrn in meiner Angst, und er antwortete mir; ich schrie aus dem Bauche der Hölle, und du hörtest meine Stimme. Du warfst mich in die Tiefe mitten im Meer, dass die Fluten mich umgaben; alle deine Wogen und Wellen gingen über mich…

An diese Stelle in der fleckigen, zerlesenen Bibel erinnerte er sich, aus der er auf Geheiß des Missionars vieles hatte auswendig lernen müssen. Grausig! Grausig! Denn in den Händen der feindseligen, mörderischen Roten

Khmer war Chan buchstäblich in den Bauch der Hölle geworfen worden und hatte um Errettung gebetet, so gut er’s in seiner noch kindlichen Art vermochte. Das war vor der Zeit gewesen, in der ihm die Bibel aufgedrängt worden war, und bevor er die Lehren Buddhas verstanden hatte, denn er war in sehr jungen Jahren in ein formloses Chaos gestürzt worden. Der Herr hatte Jonas Gebet aus dem Bauch des Wals gehört, aber Chan war von niemandem erhört worden. Er hatte in völliger Dunkelheit geschmachtet, und dann, als sie glaubten, er müsse jetzt weich genug sein, hatten sie ihn herausgeholt und mit kalter Leidenschaftslosigkeit, die er sich erst Jahre später aneignen würde, zu vernehmen begonnen.

Chan schaltete seine kleine Stablampe ein, blieb zunächst unbeweglich sitzen und starrte Bourne an. Dann streckte er ein Bein aus und trat so kräftig gegen die Schulter des Gefesselten, dass er ihm zugewandt auf die Seite rollte. Bourne stöhnte, und seine Augen öffneten sich mit flatternden Lidern. Er keuchte, holte erschaudernd tief Luft, atmete dabei wieder Kerosindämpfe ein und musste sich krampfartig erbrechen. Er übergab sich zwischen der Stelle, an der er in brennendem Schmerz und Elend lag, und jener, an der Chan heiter wie Buddha persönlich saß.

«Ich sank hinunter zu der Berge Gründen, die Erde hatte mich verriegelt ewiglich; aber du hast mein Leben aus dem Verderben geführt«, sagte Chan, der dabei Jona zitierte.»Du siehst beschissen aus.«

Bourne kämpfte darum, sich auf einem Ellbogen aufzurichten. Chan brachte ihn gelassen mit einem gut gezielten Tritt zu Fall. Bourne versuchte es erneut, und Chan trat ihm nochmals den Ellbogen weg. Aber beim dritten Versuch griff Chan nicht mehr ein, und Bourne setzte sich ihm gegenüber auf.

Um Chans Lippen spielte schwaches, rätselhaftes Lächeln, aber in seinen Augen flammte plötzlich Wut auf.

«Hallo, Vater«, sagte er.»Wir haben uns so lange nicht mehr gesehen, dass ich schon gefürchtet habe, wir würden diesen Augenblick nie genießen können.«

Bourne schüttelte leicht den Kopf.»Was soll das heißen, verdammt noch mal?«

«Ich bin dein Sohn.«

«Mein Sohn ist zehn Jahre alt.«

Chans Augen glitzerten.»Den meine ich nicht. Ich bin der andere, den du in Phnom Penh zurückgelassen hast.«

Bourne war zutiefst gekränkt. Roter Zorn stieg in ihm auf.»Was fällt dir ein, dich für ihn auszugeben? Ich weiß nicht, wer du bist, aber mein Sohn Joshua ist tot. «Sein Aufbegehren kam ihn teuer zu stehen: Weil er wieder Kerosindämpfe eingeatmet hatte, krümmte er sich plötzlich nach vorn und würgte wieder, ohne jedoch etwas heraufbringen zu können.

«Ich bin nicht tot. «Chans Stimme klang fast zärtlich, als er sich jetzt vorbeugte und Bourne hochzog, damit sie sich wieder Auge in Auge gegenübersaßen. Dabei schwang der kleine Steinbuddha von seiner unbehaarten Brust weg und pendelte bei seinen Anstrengungen, Bourne aufrecht zu halten, ein wenig hin und her.»Wie du siehst.«

«Nein, Joshua ist tot! Ich habe seinen Sarg selbst in die Erde gesenkt — mit denen von Dao und Alyssa! Alle drei waren in amerikanische Flaggen gehüllt.«

«Lügen, Lügen und noch mal Lügen!«Chan hielt Bourne den aus Stein geschnittenen Buddha auf seiner

Handfläche liegend hin.»Sieh ihn dir an und erinnere dich, Bourne.«

Bourne hatte das Gefühl, die Realität entgleite ihm. Er hörte den eigenen Herzschlag als donnerndes Brausen im Innenohr: eine Flutwelle, die ihn von den Beinen zu holen und mit sich zu reißen drohte. Das konnte nicht sein! Das konnte nicht sein!» Wo… wo hast du den her?«

«Den kennst du, nicht wahr?«Der Buddha verschwand, als seine Finger sich darum schlossen.»Hast du endlich deinen lange verlorenen Sohn Joshua wiedererkannt?«

«Du bist nicht Joshua!«Bourne war jetzt wütend, sein Gesichtsausdruck finster, seine Zähne wie zu einem Knurren gefletscht.»Welchen Diplomaten aus Südostasien hast du ermordet, um diesen Buddha zu bekommen?«Er lachte grimmig.»Ja, ich weiß mehr über dich, als du denkst.«

«Dann täuschst du dich gewaltig. Er gehört mir, Bourne. Hast du verstanden?«Chan öffnete die Hand und wies nochmals die von seinem Schweiß dunkel verfärbte kleine Steinfigur vor.»Dieser Buddha gehört mir!«

«Lügner!«Bourne riss die Arme hinter seinem Rücken hervor und stürzte sich auf ihn. Als Chan ihn gefesselt hatte, hatte er die Armmuskeln und die Sehnen des Handgelenks angespannt, damit sie stärker hervortraten. Und während Chan sich an seiner Hilflosigkeit geweidet hatte, war es ihm gelungen, die schlaff gewordene Fesselkordel abzustreifen.

Chan war nicht auf diesen Ansturm gefasst. Er fiel nach hinten, und Bourne landete auf ihm. Die Stablampe schepperte zu Boden und rollte mal hierhin, mal dorthin, wobei ihr heller Strahl die Kämpfenden beleuchtete und mal ein verzerrtes Gesicht, mal einen angespannten Muskel hervortreten ließ. In diesem unheimlichen Wechsel aus Licht und Schatten, der so an den dichten Urwald erinnerte, den sie hinter sich gelassen hatten, kämpften die beiden wie Raubtiere, sie atmeten die Feindseligkeit des anderen ein, sie rangen auf Leben und Tod.

Bourne knirschte mit den Zähnen, ohne sich dessen bewusst zu sein. In blinder Wut schlug er immer wieder auf Chan ein. Chan gelang es, seinen Oberschenkel in die Hände zu bekommen und mit den Daumen auf einen dort befindlichen Nervenknoten zu drücken. Bourne taumelte, weil sein vorübergehend gelähmtes Bein unter ihm nachgab. Chan verpasste ihm einen Kinnhaken, und Bourne taumelte noch mehr, schüttelte dabei benommen den Kopf. Als es ihm gelang, sein Schnappmesser herauszuziehen, traf Chan ihn mit einem weiteren gewaltigen Boxhieb. Bourne ließ das Messer fallen. Chan griff es sich sofort, ließ die Klinge aufschnappen.

Er stand jetzt über Bourne, hielt ihn am Hemd gepackt und riss ihn daran hoch. Ein kurzer Schauder durchlief seinen Körper, wie ein Stromstoß durch eine Leitung geht, wenn ein Schalter umgelegt wird.»Ich bin dein Sohn. Chan ist ein Name, den ich angenommen habe, genau wie David Webb den Namen Jason Bourne angenommen hat.«

«Nein!«Bourne musste schreien, um den anschwellenden Lärm und die Vibrationen der Triebwerke zu übertönen.»Mein Sohn ist mit dem Rest meiner Familie in Phnom Penh umgekommen!«

«Ich bin Joshua Webb«, sagte Chan.»Du hast mich im Stich gelassen. Du hast mich dem Dschungel, meinem Tod überlassen.«

Die Messerspitze schwebte über Bournes Kehle.»Unzählige Male war ich dem Tod nahe. Ich wäre auch gestorben, hätte ich mich nicht an die Erinnerung an dich klammern können.«

«Wage nicht, seinen Namen noch mal zu gebrauchen! Joshua ist tot!«Bourne war blass vor Zorn, fletschte in tierischer Wut die Zähne. Blutgier trübte sein Sehvermögen.

«Vielleicht ist er das. «Die Messerklinge berührte jetzt Bournes Haut. Einen Millimeter tiefer, dann würde sie eine blutende Wunde hinterlassen.»Ich bin jetzt Chan. Joshua — der Joshua, den du gekannt hast — ist tot. Ich bin zurückgekommen, um mich zu rächen, um dich dafür zu bestrafen, dass du mich verlassen hast. Ich hätte dich in den letzten Tagen ein Dutzend Mal liquidieren können, aber ich habe abgewartet, weil du vor deinem Tod erfahren sollst, was du mir angetan hast. «In Chans rechtem Mundwinkel hatte sich eine unbeachtete Speichelblase gebildet, die stetig größer wurde.»Warum hast du mich im Stich lassen? Warum bist du einfach abgehauen?«

Ein gewaltiger Ruck ging durch das Flugzeug, als es beim Start zu rollen begann. Von der Klinge spritzte Blut, als sie Bournes Haut zerschnitt; dann war sie auf einmal nicht mehr da, weil Chan das Gleichgewicht verlor. Das nützte Bourne zu einem Faustschlag aus, der Chans Rippen traf. Chan machte eine Sichelbewegung mit dem linken Fuß, hakte ihn hinter Bournes Knöchel und brachte ihn so zu Fall. Die Maschine wurde langsamer, bog vom Rollweg auf die Startbahn ab und bremste am Haltepunkt.

«Ich bin nicht abgehauen!«, brüllte Bourne.»Joshua ist mir weggenommen worden!«

Chan warf sich auf ihn. Das Messer zuckte herab. Bo-urne verdrehte im letzten Augenblick den Körper, sodass die Klinge an seinem rechten Ohr vorbeiging. Er dachte verzweifelt an die Keramikpistole an seiner rechten Hüfte, aber sosehr er sich auch abmühte, er schaffte es nicht, sie zu ziehen, weil er unablässig tödliche Angriffe abwehren musste. Sie kämpften mit geschwellten Muskeln, mit vor Anstrengung und Wut geröteten Gesichtern. Ihre Atemzüge kamen keuchend aus halb geöffneten Mündern; ihre Augen und ihr Verstand suchten die winzigste Lücke in der gegnerischen Deckung, während sie angriffen und sich verteidigten, nur um jedes Mal zurückgeschlagen zu werden. Sie waren einander gleichwertig, wenn auch nicht nach Jahren, dann doch in Bezug auf Schnelligkeit, Kraft, Können und List. Es war, als wüssten sie, was der andere dachte, als könnten sie seine Reaktionen jeweils Bruchteile von Sekunden vorhersehen und so jeden gesuchten Vorteil neutralisieren. Sie kämpften nicht leidenschaftslos, daher kämpften sie nicht auf höchstem Niveau. Alle ihre Gefühle waren an die Oberfläche gespült worden und überlagerten ihr Bewusstsein wie eine Ölschicht ein sonst klares Gewässer.

Das Flugzeug ruckte nochmals; der Rumpf erzitterte, als es beim Start mit aufheulenden Triebwerken beschleunigte. Bourne rutschte aus, und Chan benützte seine freie Hand als Keule, um Bourne von dem Messer abzulenken. Bourne konterte und traf die Innenseite von Chans linkem Handgelenk. Aber nun zuckte die Messerspitze auf ihn herab. Er wich mit einem Schritt zur Seite zurück und entriegelte dabei unabsichtlich die Frachtraumluke. Der an dem stetig beschleunigenden Flugzeug vorbeiströmende Luftstrom bewirkte, dass sich die entriegelte Tür öffnete.

Während die Startbahn verschwommen unter ihnen vorbeihuschte, imitierte Bourne mit ausgestreckten Armen und Beinen einen Seestern, wobei er den Türrahmen mit beiden Händen umklammerte. Chan ging wie besessen grinsend zum Angriff über, und das Messer beschrieb einen bösartigen flachen Bogen, der Bourne den ganzen Unterleib aufschlitzen würde.

Chan stürzte sich auf ihn, kurz bevor das Flugzeug von der Startbahn abhob. Im letzten möglichen Augenblick ließ Bourne mit der rechten Hand los. Sein Körper, der durch die Schwerkraft nach draußen und hinten getrieben wurde, schwang mit solcher Gewalt weg, dass Bourne fast die Schulter ausgerenkt wurde. Wo eben noch sein Körper gewesen war, klaffte jetzt eine Lücke, durch die Chan sich überschlagend auf den Asphalt stürzte. Bourne erhaschte noch einen letzten Blick auf ihn: nur eine graue Kugel auf dem schwarzen Untergrund der Startbahn.

Dann hob die Maschine ab, und der Luftstrom trieb Bourne nach oben, weiter von der offenen Luke weg. Er kämpfte dagegen an; der Regen peitschte sein Gesicht wie mit dünnen Ketten. Der Wind drohte ihm den Atem zu rauben, aber zugleich schrubbte er ihm das letzte Kerosin vom Gesicht, während der Regen seine brennenden Augen ausspülte und das Gift von seiner Haut, aus seinem Gewebe wusch. Als das Flugzeug sich in eine Rechtskurve legte, rollte Chans Stablampe über den Boden des Frachtraums und fiel hinter ihm her hinaus. Bourne wusste, dass er verloren war, wenn er nicht binnen Sekunden wieder in die Maschine gelangte. Der schreckliche Zug an seinem linken Arm war viel zu gewaltig, um sehr viel länger ertragen zu werden.

Er schwang ein Bein nach vorn und schaffte es, die linke Ferse hinter dem Türrahmen zu verankern. Dann zog er sich mit atemloser Anstrengung nach vorn, während seine Kniekehle an dem erhöhten Türrahmen anlag, und verschaffte sich so genug Halt und Hebelkraft, um sich zu drehen, bis er dem Rumpf zugewandt war. Sobald seine rechte Hand auf der Türabdichtung lag, konnte er sich in den Frachtraum hinein vorarbeiten. Zuletzt knallte er die Luke wieder zu.

Bourne — am ganzen Körper mit Prellungen übersät, blutend und starke Schmerzen leidend — brach als erschöpftes Bündel Mensch zusammen. In der beängstigenden, turbulenten Dunkelheit des stark vibrierenden Flugzeugrumpfs glaubte er immer wieder, den kleinen aus Stein geschnittenen Buddha zu sehen, den seine erste Frau und er Joshua zum vierten Geburtstag geschenkt hatten. Dao hatte gewollt, der Geist Buddhas möge ihren Sohn von frühester Kindheit an erfüllen. Joshua, der mit Dao und seiner kleinen Schwester gestorben war, als ein feindliches Flugzeug sie in dem Fluss, in dem sie gebadet hatten, angegriffen hatte.

Joshua war tot. Dao, Alyssa, Joshua — alle drei waren tot, ihre Körper vom Kugelhagel des Tieffliegers zerfetzt. Sein Sohn lebte nicht mehr, konnte nicht mehr leben. Etwas anderes zu denken musste zum Wahnsinn führen. Wer war Chan also wirklich, und warum spielte er dieses entsetzlich grausame Spiel?

Darauf wusste Bourne keine Antwort. Das Flugzeug sackte kurz durch und stieg sofort weiter; dann veränderte sich der Triebwerkslärm, als es die Reiseflughöhe erreicht hatte. Im Frachtraum wurde es so kalt, dass sein Atem bestimmt weiße Wölkchen bildete. Er schlang beide Arme auf dem Boden sitzend um die Knie, wiegte sich leicht vor und zurück. Das war nicht möglich. Das konnte nicht sein!

Er stieß einen unartikulierten, tierischen Klagelaut aus und wurde von Schmerzen und äußerster Verzweiflung überwältigt. Sein Kopf sank herab, und er weinte zornig, ungläubig und kummervoll bittere Tränen.

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