«Muss ein ziemlich übler Unfall gewesen sein, so wie Sie aussehen«, sagte Jack Kerry.
«Eigentlich nicht, bloß ein Platter«, antwortete Bourne leichthin.»Aber der Reservereifen war auch platt, und dann bin ich über irgendwas gestolpert — eine Baumwurzel, denke ich. Dann bin ich mit dem Kopf voraus in den Bach geklatscht. «Er machte eine entschuldigende Handbewegung.»Mit meiner Körperbeherrschung ist’s leider nicht weit her.«
«Willkommen im Club«, sagte Kerry. Er war ein großer, grobknochiger Mann mit Doppelkinn und zu viel Fett um die Hüften. Er hatte Bourne vor einer Meile bei sich einsteigen lassen.»Mich hat meine Frau mal gebeten, den Geschirrspüler anzustellen. Ich hab ein gewöhnliches Waschmittel reingetan. Jesus, die Schaumberge hätten Sie sehen sollen!«Er lachte gutmütig.
Die Nacht war pechschwarz, ohne Mond oder Sterne. Leichter Nieselregen setzte ein, und Kerry stellte die Scheibenwischer an. Bourne fröstelte in seiner nassen Kleidung. Er wusste, dass er sich konzentrieren musste, aber sobald er die Augen schloss, sah er Alex und Mo vor sich; er sah aus Schusswunden sickerndes Blut zwischen Knochensplittern und Gehirnmasse. Seine Finger verkrampften sich, und er ballte unwillkürlich die Fäuste.
«Und was machen Sie beruflich, Mr. Little?«
Nachdem Kerry sich vorgestellt hatte, hatte Bourne sich als Dan Little ausgegeben. Kerry war anscheinend ein Gentleman alter Schule, der noch großen Wert auf solche Formalitäten legte.
«Ich bin Buchhalter.«
«Ich plane Anlagen für die Entsorgung von Atommüll. Dabei kommt man ganz schön rum, das dürfen Sie mir glauben. «Kerrys Brillengläser glitzerten, als er zu Bourne hinübersah.»Teufel, Sie sehen aber nicht wie ein Buchhalter aus, wenn ich das bemerken darf.«
Bourne rang sich ein Lachen ab.»Das sagen alle. Ich hab im College Football gespielt.«
«Sie haben Ihren Körper nicht vernachlässigt wie viele ehemalige Sportler«, bemerkte Kerry. Er tätschelte seinen Schmerbauch.»Nicht wie ich. Bloß war ich nie ein Sportler. Einmal hab ich’s versucht. Wusste nie, wohin ich laufen sollte. Bin vom Trainer angebrüllt worden. Und dann bin ich vom Gegner umgerannt worden. «Er schüttelte den Kopf.»Das hat mir gereicht. Ich bin ein Liebhaber, kein Kämpfer. «Er sah erneut zu Bourne hinüber.»Haben Sie Familie, Mr. Little?«
Bourne zögerte kurz.»Ich bin verheiratet, habe zwei Kinder.«
«Und glücklich, was?«
Ein Streifen schwarzer Bäume zog vorbei, dann ein windschiefer Telefonmast und eine verlassene kleine Hütte: mit Dornenranken überwuchert, von der Wildnis allmählich zurückerobert. Bourne schloss die Augen.»Sehr.«
Kerry lenkte den Wagen durch eine weite Rechtskurve. Eines musste man ihm lassen: Er war ein ausgezeichneter Fahrer.»Ich selbst bin geschieden. Das war eine schlimme Sache. Meine Frau hat mich mit unserem
Dreijährigen im Schlepptau verlassen. Das war vor zehn Jahren. «Er runzelte die Stirn.»Oder vor elf? Na, jedenfalls habe ich seither kein Wort mehr von den beiden gehört.«
Bourne öffnete abrupt die Augen.»Sie haben die Verbindung zu Ihrem Sohn abreißen lassen?«
«Nicht, dass ich’s nicht versucht hätte. «In Kerrys Stimme lag ein gereizter Unterton, als er sich zu rechtfertigen versuchte.»Anfangs habe ich jede Woche angerufen, Briefe geschrieben, ihm Geld für Dinge geschickt, die er sich vielleicht wünschen würde — ein Fahrrad und solche Sachen. Aber ich hab nie eine Antwort gekriegt.«
«Warum haben Sie ihn nicht besucht?«
Kerry zuckte mit den Schultern.»Irgendwann hab ich kapiert, dass er mich nicht sehen wollte.«
«Das war die Botschaft Ihrer Frau«, sagte Bourne.»Ihr Sohn ist noch ein Kind. Er weiß nicht, was er will. Wie denn auch? Er kennt Sie kaum.«
Kerry grunzte.»Sie haben leicht reden, Mr. Little. Sie haben ein behagliches Heim, eine glückliche Familie, zu der Sie jeden Abend heimkehren.«
«Gerade weil ich Kinder habe, weiß ich, wie kostbar sie sind«, sagte Bourne.»Wäre er mein Sohn, würde ich mit Zähnen und Klauen dafür kämpfen, ihn wieder kennen zu lernen und in mein Leben zu integrieren.«
Sie erreichten jetzt ein etwas dichter besiedeltes Gebiet, und Bourne sah ein Motel, eine Reihe von geschlossenen Läden. In der Ferne konnte er ein rotes Licht aufblitzen sehen, dann noch eines. Das war eine Straßensperre — allem Anschein nach eine große. Er zählte acht Streifenwagen, die zwei Reihen zu je vier Fahrzeugen bildeten und in einem Winkel von fünfundvierzig Grad zur
Fahrbahn parkten, damit sie ihren Insassen maximalen Schutz gewähren und notfalls rasch die Straße sperren konnten. Bourne wusste, dass er nicht mal in die Nähe dieser Straßensperre kommen durfte — zumindest nicht deutlich sichtbar auf dem Beifahrersitz eines Autos. Er würde irgendeine andere Möglichkeit finden müssen, dort durchzukommen.
Aus dem Dunkel tauchte plötzlich die Leuchtreklame eines die ganze Nacht geöffneten Tankstellshops auf.
«Setzen Sie mich bitte dort vorn ab?«
«Wollen Sie das wirklich, Mr. Little? Die Gegend ist noch ziemlich einsam.«
«Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen. Ich lasse mich einfach von meiner Frau abholen. Wir wohnen nicht weit von hier entfernt.«
«Dann sollte ich Sie ganz nach Hause bringen.«
«Bis hierher genügt. Wirklich.«
Kerry bremste, lenkte an den Straßenrand und hielt unmittelbar nach dem Tankstellenshop. Bourne stieg aus.
«Vielen Dank fürs Mitnehmen.«
«Gern geschehen. «Kerry lächelte.»Und, Mr. Little, vielen Dank für Ihren Rat. Ich werd darüber nachdenken, was Sie gesagt haben.«
Bourne beobachtete, wie Kerry davonfuhr, dann wandte er sich ab und betrat den Tankstellenshop. Von der ultrahellen Neonbeleuchtung schmerzten ihm die Augen. Der Kassierer, ein pickeliger junger Mann mit langem Haar und blutunterlaufenen Augen, rauchte eine Zigarette und las ein Taschenbuch. Er sah kurz auf, als Bourne hereinkam, nickte ohne sonderliches Interesse und widmete sich wieder seiner Lektüre. Irgendwo lief ein Radio, in dem eine Frau mit weltverdrossener, melancholischer Stimme» Yesterday’s Gone «sang. Sie hätte eigens für Bourne singen können.
Ein Blick in die Regale erinnerte ihn daran, dass er seit Mittag nichts mehr gegessen hatte. Er griff sich einen Korb und legte eine Plastikdose Erdnussbutter, eine Schachtel Kräcker eine Packung Salami, Orangensaft und Mineralwasser hinein.
Proteine und Vitamine waren das, was er jetzt brauchte. Außerdem kaufte er ein T-Shirt, ein langärmeliges gestreiftes Hemd, Zahnputz- und Rasierzeug und weitere Kleinigkeiten, von denen er aus langer Erfahrung wusste, dass er sie brauchen würde.
Bourne trat an die Kasse, und der pickelige junge Mann legte das eselsohrige Buch weg. Dhalgren von Samuel R. Delany. Bourne erinnerte sich daran, dass er dieses Buch kurz nach seiner Heimkehr aus Vietnam gelesen hatte: ein Buch, das ebenso halluzinatorisch war wie der Krieg. Fragmente seines früheren Lebens stiegen in ihm hoch: das Blut, der Tod, die Wut, das rücksichtslose Töten — alles, um den unerträglichen, niemals endenden Schmerz darüber zu betäuben, was im Fluss vor seinem Haus in Phnom Penh geschehen war.»Sie haben ein behagliches Heim, eine glückliche Familie, zu der Sie jeden Abend heimkehren«, hatte Kerry gesagt. Wenn der wüsste!
«Alles?«, fragte der pickelige junge Mann.
Bourne blinzelte, kehrte in die Gegenwart zurück.»Haben Sie ein Ladegerät für ein Handy?«
«Sorry, Kumpel, alle ausverkauft.«
Bourne bezahlte seine Einkäufe bar, nahm sie in einer braunen Papiertüte mit und verließ den Laden. Zehn Minuten später erreichte er das Motel. Auf dem Gelände parkten nur wenige Autos. Am anderen Ende des lang gestreckten Gebäudes stand ein Sattelschlepper, dem Anbauaggregat nach zu urteilen ein Kühltransporter. An der Rezeption kam ein spindeldürrer Mann mit dem grauen Gesicht eines Leichenbestatters hinter dem Schreibtisch im rückwärtigen Teil des Raums hervorgeschlurft, an dem er vor einem uralten tragbaren SchwarzWeiß-Fernseher gesessen hatte. Bourne trug sich unter falschem Namen ein und zahlte wieder bar. Jetzt besaß er noch genau siebenundsechzig Dollar.
«Gottverdammt merkwürdige Nacht«, krächzte der Spindeldürre.
«Wie das?«
Die Augen des anderen leuchteten auf.»Sagen Sie bloß, dass Sie nichts von den Morden gehört haben?«
Bourne schüttelte den Kopf.
«Keine zwanzig Meilen von hier. «Der Spindeldürre beugte sich über die Theke. Sein Atem roch unangenehm nach Kaffee und Magensäure.»Zwei Männer — Staatsbedienstete —, ansonsten sagt niemand was über sie, und Sie wissen ja, was das hierzulande bedeutet: Schlapphüte, alles streng geheim, wer zum Teufel weiß, was diese Burschen getrieben haben? Schalten Sie CNN ein, wenn Sie in Ihrem Zimmer sind, wir haben Kabelanschluss und alles. «Er gab Bourne den Schlüssel.»Hab Ihnen das Zimmer gegeben, das am weitesten von Guy entfernt ist- er ist der Trucker. Bestimmt haben Sie draußen seinen Sattelschlepper gesehen. Guy ist regelmäßig zwischen Florida und D.C. unterwegs; er fährt immer um fünf Uhr los, und wir wollen nicht, dass Sie gestört werden, stimmt’s?«
Das Zimmer war trostlos braun und schäbig. Selbst der Geruch eines gewerblich benützten Desinfektionsmittels konnte den Modergeruch des Verfalls nicht ganz überdecken. Bourne schaltete den Fernseher ein und suchte die Kanäle ab, bis er CNN gefunden hatte. Dann packte er Erdnussbutter und Kräcker aus und begann zu essen.
«Zweifellos eröffnet diese kühne, visionäre Initiative des Präsidenten die Chance, Brücken in eine friedlichere Zukunft zu bauen«, sagte die CNN-Moderatorin gerade. DER TERRORISMUS-GIPFEL verkündete ein feuerrotes grafisches Banner im oberen Drittel des Bildschirms in der subtilen Art eines Londoner Boulevardblatts.»Außer dem Präsidenten selbst werden an dem Gipfeltreffen der russische Präsident und arabische Spitzenpolitiker teilnehmen. Im Lauf der kommenden Woche werden Wolf Blitzer, der den Präsidenten begleitet, und Christiane Amanpour, die Eindrücke bei den russischen und arabischen Delegationen sammelt, mit ausführlichen Kommentaren zu Wort kommen. Schließlich könnte der Terrorismusgipfel die Story des Jahres werden. Nun zu einem topaktuellen Lagebericht aus der isländischen Hauptstadt Reykjavik.«
Auf dem Bildschirm erschien der Haupteingang des Hotels Oskjuhlid, in dem in fünf Tagen der Terrorismusgipfel stattfinden würde. Ein allzu ernster CNN-Reporter begann ein Interview mit Jamie Hull, dem für die Sicherheitsvorkehrungen der Amerikaner beim Gipfeltreffen zuständigen Mann. Bourne starrte Hulls Gesicht mit dem kantigen Kinn, seinem Bürstenhaarschnitt, dem ingwerfarbenen Schnurrbart und den kalten blauen Augen an und glaubte, Alarmglocken schrillen zu hören. Hull kam aus der Agency, er war ein hohes Tier im
Zentrum für Terrorismusbekämpfung. Conklin und er waren schon mehr als einmal aneinander geraten. Hull agierte politisch sehr geschickt, war jedoch im Umgang mit wichtigen Leuten ein Arschkriecher. Aber er handelte überall und immer streng nach Vorschrift, selbst wenn die Umstände flexibleres Verhalten erfordert hätten. Conklin musste einem Schlaganfall nahe gewesen sein, als er gehört hatte, dass Hull zum US-Sicherheitschef beim Gipfeltreffen ernannt worden war.
Während Bourne darüber nachdachte, kündigte der Lauftext am unteren Bildschirmrand eine aktualisierte Meldung an. Sie betraf den Mord an Alexander Conklin und Dr. Morris Panov, beide hohe Regierungsbeamte, wie der Lauftext verkündete. Dann wechselte die Szene abrupt: Das mehrmals blinkende Banner EILMELDUNG wurde durch das Wort MANAS SAS-MORDE ersetzt, das ein amtliches Foto von David Webb überlagerte, das fast den ganzen Bildschirm einnahm. Die Moderatorin begann ihren aktualisierten Text über den brutalen Doppelmord an Alexander Conklin und Dr. Morris Panov vorzulesen.»Beide wurden mit jeweils einem Kopfschuss getötet«, sagte sie mit dem grimmigen Entzücken solcher Leute,»was auf einen Profikiller schließen lässt. Die zuständigen Stellen verdächtigen vor allem diesen Mann: David Webb, der unter Umständen auch als Jason Bourne auftritt. Wie aus Kreisen der Ermittler verlautet, leidet Webb — oder Bourne — unter Wahnvorstellungen und gilt als gefährlich. Falls Sie diesen Mann sehen, halten Sie sich von ihm fern. Rufen Sie die Nummer auf Ihrem Bildschirm an.«
Bourne stellte den Ton ab. Jesus, die Fahndung lief wirklich schon auf Hochtouren! Kein Wunder, dass die hier eingerichtete Straßensperre so gut organisiert ausgesehen hatte — das waren CIA-Agenten, nicht die hiesigen Cops.
Er musste sich schleunigst an die Arbeit machen. Nachdem er sich Krümel vom Schoß gewischt hatte, zog er Conklins Handy aus der Tasche. Es wurde Zeit, festzustellen, mit wem Alex telefoniert hatte, als er erschossen worden war. Bourne aktivierte die Wahlwiederholung, hörte das Klingeln am anderen Ende. Dann meldete sich ein Anrufbeantworter. Dies war keine Privatnummer, sondern eine Maßschneiderei: Lincoln Fine Tailors. Der Gedanke, dass Conklin mit seinem Schneider telefoniert hatte, als er erschossen worden war, deprimierte ihn. Ein klägliches Ende für einen Meisterspion.
Als Nächstes überprüfte er den letzten eingegangenen Anruf, der vom Vorabend stammte. Der Anrufer war der CIA-Direktor. Sackgasse, dachte Bourne. Er stand auf. Während er in Socken ins Bad ging, zog er sich bereits aus. Danach stand er lange unter der heißen Dusche und dachte bewusst an nichts, während er Schmutz und Schweiß von seiner Haut spülte. Hätte er jetzt nur frische Klamotten gehabt! Im nächsten Augenblick hob er ruckartig den Kopf. Er wischte sich Wasser aus den Augen, sein Herz jagte, und sein Verstand arbeitete wieder auf Hochtouren. Conklins Anzüge kamen aus dem Maßatelier Old World Tailors an der M Street; Alex war dort seit vielen Jahren Kunde. Mit dem Besitzer, einem russischen Immigranten, ging er sogar gelegentlich essen.
Bourne trocknete sich in fliegender Eile ab, griff wieder nach Conklins Handy und rief die Auskunft an. Nachdem er die Adresse von Lincoln Fine Tailors in Alexandria bekommen hatte, blieb er auf der Bettkante sitzen und starrte ins Leere. Er fragte sich, was die Firma Lincoln Fine Tailors noch tat, außer Stoffe zuzuschneiden und Säume zu nähen.
Hassan Arsenow schätzte Budapest auf eine Weise, wie Chalid Murat es nie gekonnt hätte. Entsprechend äußerte er sich gegenüber Sina Hasijew, als sie die Kontrollen auf dem Flughafen passiert hatten.
«Der arme Murat«, sagte er.»Ein braver Kerl, ein tapferer Freiheitskämpfer, aber in seinem Denken hoffnungslos im neunzehnten Jahrhundert verhaftet. «Sina, Arsenows getreue Stellvertreterin und überdies seine Geliebte, war klein, drahtig, so sportlich wie Arsenow. Volles pechschwarzes Haar umgab ihren Kopf wie eine Löwenmähne. Volle Lippen und dunkle, glänzende Augen verliehen ihr etwas Wildes, Zigeunerhaftes, aber ihr Verstand konnte distanziert und berechnend sein wie der eines Staranwalts, und sie war eiskalt und furchtlos.
Arsenow grunzte schmerzlich, als er hinten in die wartende Limousine stieg. Der Schuss des Attentäters hatte perfekt getroffen: Die Kugel hatte den Oberschenkel durchschlagen, ohne den Knochen zu treffen, und war glatt wieder ausgetreten. Die Wunde tat verdammt weh, aber das Projekt war diesen Schmerz wert, fand Arsenow, als er neben seiner Stellvertreterin in die Polster sank. Auf ihn war kein Verdacht gefallen; nicht einmal Sina ahnte, dass er an dem Attentat auf Murat beteiligt gewesen war. Aber was war ihm anderes übrig geblieben? Murat war zunehmend nervös geworden, was die möglichen Konsequenzen des Plans des Scheichs betraf. Er hatte nicht Arsenows Vision, ihm fehlte sein starker Sinn für soziale Gerechtigkeit. Chalid hätte sich damit zufrieden gegeben, Tschetschenien wieder den Russen abzunehmen, während der Rest der Welt sich verächtlich abwandte.
Als ihm der Scheich dagegen seinen kühnen und verwegenen Plan dargelegt hatte, war das für Arsenow der Augenblick der Offenbarung gewesen. Er konnte die Zukunft, die der Scheich ihnen wie eine reife Frucht hinhielt, deutlich sehen. Ganz unter dem Eindruck dieser übernatürlichen Erleuchtung stehend, hatte er von Cha-lid Murat eine Bestätigung erwartet — und stattdessen die bittere Wahrheit einsehen müssen. Chalid konnte nicht über die Grenzen seines Heimatlandes hinaussehen, er konnte nicht begreifen, dass eine Zurückeroberung der Region in gewisser Weise zweitrangig war. Arsenow war bewusst, dass die Tschetschenen stärker werden mussten, um nicht nur das Joch der russischen Ungläubigen abzuschütteln, sondern um ihren Platz in der islamischen Welt einnehmen und sich den Respekt der anderen muslimischen Staaten verdienen zu können.
Die Tschetschenen waren Sunniten, die den Lehren der Sufi-Mystiker anhingen, deren Verkörperung das sikr genannte Gedenken an Allah war: ein Gemeinschaftsritual mit heruntergeleierten Gebeten und rhythmischem Tanz, das einen gemeinschaftlichen Trancezustand bewirkte, in dem den Versammelten das Auge Allahs erschien. Die Sunniten, deren Glaube ebenso monolithisch war wie jede andere Religion, verabscheuten, fürchteten und schmähten deshalb jeden, der auch nur im Geringsten von ihrer starren Doktrin abwich. Mystizismus, aus welcher Quelle auch immer, war ihnen ein Gräuel. Wirklich in jeder Beziehung Gedankengut aus dem 19. Jahrhundert, dachte Arsenow verbittert.
Seit dem Tag des Attentats, seit dem lange herbeigesehnten Augenblick, in dem er der neue Führer der tschetschenischen Freiheitskämpfer geworden war, lebte Arsenow in einem fieberhaften, fast halluzinatorischen Zustand. Er schlief tief, aber nicht erholsam, denn er hatte ständig Albträume, in denen er in Ruinenlandschaften etwas oder jemanden zu suchen schien — stets vergeblich. Das bewirkte, dass er im Umgang mit Untergebenen reizbar und kurz angebunden war, dass er keinerlei Ausreden gelten ließ. Nur Sina war imstande, ihn zu beruhigen; ihre alchimistische Berührung gestattete ihm, aus dem seltsamen Schwebezustand zurückzukehren, in den er mittlerweile verfallen war.
Die Wundschmerzen brachten Arsenow in die Gegenwart zurück. Er starrte aus dem Autofenster auf die Straßen mit alten Häusern hinaus, beobachtete mit an Todesqualen grenzendem Neid, wie jedermann seinen Geschäften nachging, ohne die geringste Angst erkennen zu lassen.
Er hasste sie, hasste jeden einzelnen dieser Menschen, die in ihrem ungezwungen freien Leben niemals einen Gedanken auf den verzweifelten Freiheitskampf verschwendeten, den sein Volk seit dem 18. Jahrhundert führte und den er fortsetzte.
«Was hast du, Liebster?«Ein besorgter Schatten zog über Sinas Gesicht.
«Die Beine tun mir weh. Ich kann nicht mehr richtig sitzen, das ist alles.«
«Ich kenne dich. Die Tragödie von Murats Ermordung belastet dich weiter, obwohl wir ihn blutig gerächt haben. Fünfunddreißig russische Soldaten haben den Mord an Chalid Murat mit dem Leben bezahlt.«
«Nicht nur an Murat«, sagte Arsenow.»An unseren Männern. Durch russischen Verrat haben wir siebzehn Mann verloren.«
«Du hast den Verräter aufgespürt und ihn eigenhändig vor den Unterführern erschossen.«
«Um ihnen zu zeigen, was allen Verrätern an unserer Sache blüht. Das Urteil ist rasch gefällt worden, die Strafe war hart. Das ist unser Los, Sina. Es gibt nicht genug Tränen, um unser Volk zu beweinen. Sieh uns doch an! Verloren und zersprengt, im Kaukasus versteckt, über hundertfünfzigtausend Tschetschenen als Flüchtlinge im Ausland.«
Sina unterbrach Hassan nicht, als er diese quälenden Tatsachen erneut aufzählte, denn solche Erzählungen mussten so oft wie möglich wiederholt worden. Sie waren die Geschichtsbücher der Tschetschenen.
Arsenows Fingerknöchel wurden weiß, so krampfhaft ballte er die Hände zu Fäusten.»Ah, hätten wir doch nur eine Waffe, die tödlicher als ein AK-47 und wirksamer als eine Ladung C4 ist!«
«Bald, bald, Liebster!«, gurrte Sina mit ihrer tiefen, melodischen Stimme.»Der Scheich hat sich als unser bester Freund erwiesen. Denke nur daran, wie viel Hilfe seine Organisation unserem Volk allein im letzten Jahr hat zukommen lassen; denk auch daran, welche Aufmerksamkeit seine Presseleute uns in internationalen Zeitungen und Zeitschriften gesichert haben.«
«Und trotzdem lastet das russische Joch weiter auf uns«, klagte Arsenow.»Trotzdem sterben wir weiter zu Hunderten.«
«Der Scheich hat uns eine Waffe versprochen, die das alles ändern wird.«
«Er hat uns alle möglichen Versprechungen gemacht. «Arsenow rieb sich Staub aus dem linken Auge.»Damit muss endlich Schluss sein. Wir wollen Taten sehen.«
Die Limousine, die der Scheich den Tschetschenen geschickt hatte, bog von der Autobahn auf den Kalmankrt-Boulevard ab, der über die Arpadbrücke führte, unter der die Donau mit ihren großen Schleppzügen und bunten Sportbooten wie ein glitzerndes Bild lag. Sina nahm das Bild von der Brücke in sich auf. Auf einer Seite erhob sich das riesige Parlamentsgebäude mit atemberaubender Kuppel und neugotischen Spitztürmen; auf der anderen lag die dicht bewaldete Margareteninsel mit dem Grandhotel Danubius, in dem blütenweiße Bettwäsche und dicke Daunendecken auf sie warteten. Die tagsüber stahlharte Sina genoss ihre Budapester Nächte — und ganz besonders den Luxus eines übergroßen Hotelbetts. Dieses Fest der Sinnenfreude sah sie nicht als Verrat an ihrer asketischen Existenz, sondern als kurze Atempause von Entbehrungen und Erniedrigungen: als eine Belohnung wie eine Oblate aus belgischer Schokolade, die man heimlich unter die Zunge nahm, wo sie in einer Wolke aus Ekstase schmolz.
Die Limousine rollte in die Tiefgarage der Zentrale von Humanistas, Ltd. Beim Aussteigen ließ Sina sich vom Fahrer ein längliches Paket geben. Uniformierte Wachleute verglichen die Pässe der beiden mit Fotos in der Datenbank ihres Computerterminals, klipsten ihnen laminierte Besucherausweise an und begleiteten sie in einen prächtigen Aufzug aus Bronze und Glas.
Spalko empfing sie in seinem Arbeitszimmer. Die Sonne stand schon hoch am Himmel und ließ den Fluss wie geschmolzenes Messing glänzen. Er umarmte beide und erkundigte sich nach ihrem Flug, der Fahrt vom Flughafen Ferihegy hierher und Arsenows Schussverletzung. Nachdem der Konvention Genüge getan war, gingen sie nach nebenan in einen mit honigfarbenem Pe-kanholz getäfelten Raum, in dem ein Tisch mit blütenweißem Damast, glänzendem Porzellan und blitzendem Tafelsilber gedeckt war. Spalko hatte ein westliches Mahl nach dem Geschmack der Tschetschenen vorbereiten lassen: Steak, Hummer, drei Sorten Gemüse. Und nirgends eine Kartoffel in Sicht. Kartoffeln waren oft tagelang alles, was Arsenow und Sina zu essen hatten. Bevor sie Platz nahmen, legte Sina das längliche Paket auf einen freien Stuhl.
«Scheich«, sagte Arsenow,»wie immer sind wir von deiner großzügigen Gastfreundschaft überwältigt.«
Spalko neigte den Kopf. Er war sehr zufrieden mit dem Namen, den er für ihre Welt angenommen hatte: Heiliger, Freund Allahs. Er bewirkte die richtige Mischung aus Ehrfurcht und Verehrung, er erhob den Hirten weit über seine Schafe.
Jetzt stand er auf und schraubte eine Flasche hochprozentigen polnischen Wodka auf, mit dem er drei Gläser füllte. Er hob sein Glas, und die beiden taten es ihm gleich.»Zum Andenken an Chalid Murat, den großen Führer, gewaltigen Krieger und grimmigen Feind«, intonierte er nach tschetschenischer Art ernst.»Möge Allah ihm den Ruhm schenken, den er sich durch sein Blutopfer verdient hat. Mögen die Sagen von seiner Kühnheit und Tapferkeit als Führer wieder und wieder von den Gläubigen erzählt werden. «Alle drei kippten das scharfe Getränk mit einem Zug.
Arsenow stand auf, füllte die Gläser erneut. Er hob seines, und die beiden anderen folgten seinem Beispiel.»Auf den Scheich, den Freund der Tschetschenen, der uns in der neuen Weltordnung unseren rechtmäßigen Platz verschaffen wird. «Auch diesmal kippten sie ihren Wodka.
Sina wollte aufstehen, wollte zweifellos ihrerseits einen Trinkspruch ausbringen, aber Arsenow legte ihr die Hand auf den Arm. Diese Geste, mit der ihr Einhalt geboten wurde, entging Spalkos Aufmerksamkeit nicht. Am meisten interessierte ihn Sinas Reaktion. Trotz ihrer ausdruckslosen Miene sah er ihr an, dass sie innerlich kochte. Auf der Welt gab es viele Ungerechtigkeiten, das wusste er — in jeder nur vorstellbaren Größenordnung. Ihm erschien es seltsam und ein wenig pervers, dass Menschen sich über großes Unrecht aufregen konnten, während sie die kleinen Ungerechtigkeiten, unter denen viele täglich zu leiden hatten, geflissentlich übersahen. Sina hatte Seite an Seite mit den Männern gekämpft; weshalb sollte sie also nicht auch einen Trinkspruch ausbringen dürfen? Sie kochte vor Wut; das gefiel Spalko, denn er verstand sich darauf, den Zorn anderer für seine Zwecke zu nutzen.
«Meine Gefährten, meine Freunde. «In seinen Augen blitzte Überzeugungskraft.»Auf das Zusammentreffen von kummervoller Vergangenheit, verzweifelter Gegenwart und glorreicher Zukunft. Unser Sieg ist zum Greifen nahe!«
Sie begannen zu essen, unterhielten sich dabei wie eine zwanglos zusammengewürfelte Tischgesellschaft über allgemeine, belanglose Themen. Und trotzdem machte sich eine erwartungsvolle Stimmung, die Veränderungen anzukündigen schien, in dem Raum breit. Ihre Blicke blieben auf ihre Teller oder die anderen gerichtet, als widerstrebe es ihnen, dem aufziehenden Sturm, der sie schon jetzt in Unruhe versetzte, ins Auge zu sehen. Dann war das Mahl schließlich beendet.
«Es ist Zeit«, sagte der Scheich. Arsenow und Sina erhoben sich, standen vor ihm.
Arsenow verneigte sich.»Wer aus Liebe zur materiellen Welt stirbt, stirbt als Heuchler. Wer aus Liebe zum Jenseits stirbt, stirbt als Asket. Aber wer aus Liebe zur Wahrheit stirbt, stirbt als Sufi.«
Er wandte sich Sina zu, die das Paket aufriss, das sie aus Grosny mitgebracht hatten. Es enthielt drei Gewänder. Eines davon reichte sie Arsenow, der es anlegte. Das zweite legte sie selbst an. Das dritte hielt Arsenow in den Händen, als er sich erneut an den Scheich wandte.
«Die cherkeh ist das Ehrenkleid der Derwische«, erklärte Arsenow ihm.»Sie symbolisiert das Wesen und die Attribute Gottes.«
Sina sagte:»Das Gewand wird mit der Nadel der Frömmigkeit und dem Faden selbstlosen Gedenkens an Gott genäht.«
Der Scheich neigte den Kopf und erwiderte: »La illaha ill Allah.« Es gibt keinen Gott außer Gott, der eins ist.
Arsenow und Sina wiederholten: »La illaha ill Allah.«Dann bekleidete der tschetschenische Rebellenführer den Scheich mit der cherkeh.»Für die meisten Männer genügt es, nach der Scharia, dem islamischen Gesetz, gelebt und sich dem göttlichen Willen ergeben zu haben, um in Ehren zu sterben und ins Paradies einzugehen«, sagte er.»Aber es gibt andere unter uns, die das Göttliche schon hier und jetzt herbeisehnen, deren Liebe zu Allah sie wie uns drängt, den Weg der Innerlichkeit zu suchen. Wir sind Sufis.«
Spalko, der das Derwischgewand auf seinen Schultern lasten fühlte, sagte feierlich:»O du Seele, die du in Frieden lebst, kehre zu deinem Herrn zurück — mit Freuden, die in ihm und in dir sein werden. Reihe du dich ein unter meine Diener. Gehe ein in mein Paradies.«
Arsenow, den dieses Zitat aus dem Koran rührte, ergriff Sinas Hand und kniete mit ihr vor dem Scheich nieder. In drei Jahrhunderte alter Wechselrede legten sie einen feierlichen Treueschwur ab. Spalko holte ein Messer und übergab es ihnen. Beide brachten sich einen Schnitt am Handgelenk bei und boten ihm ihr Blut in einem Stielglas dar. Dadurch wurden sie murids, Jünger des Scheichs, durch Wort und Tat an ihn gebunden.
Dann, obwohl das für Arsenow wegen seiner Schussverletzung schmerzhaft war, saßen sie einander mit untergeschlagenen Beinen gegenüber und vollzogen nach Art der Naqschibandi-Sufis die sikr, die ekstatische Vereinigung mit Gott. Jeder legte die rechte Hand auf den linken Oberschenkel, umfasste das rechte Handgelenk mit der linken Hand. Arsenow bewegte Hals und Kopf halbkreisförmig nach rechts, und Sina und Spalko blieben genau im Takt seiner sanften, fast sinnlichen Beschwörung:»Bewahre mich, o Gott, vor dem bösen Blick aus Neid und Missgunst, der auf deine reichen Gaben fällt. «Hals und Kopf schwangen nach links.»Bewahre mich davor, o Gott, in die Hände verspielter Kinder der Erde zu fallen, damit sie mich nicht für ihre Spiele benützen; sie könnten mit mir spielen und mich schließlich zerbrechen, wie’s Kinder mit ihren Spielsachen tun. «Von einer Seite zur anderen und wieder zurück.»Bewahre mich, o Gott, vor jeglicher Verletzung, die von der Bitterkeit meiner Feinde und der Unwissenheit meiner liebevollen Freunde kommt.«
So riefen sie im Sprechchor Gebete, und ihre Bewegungen verschmolzen miteinander, bis sie in Gegenwart Allahs ein ekstatisches Ganzes bildeten…
Später, viel später führte Spalko sie durch einen rückwärtigen Korridor zu einem kleinen Aufzug mit Edelstahlkabine, der sie noch unterhalb der Kellergeschosse in den gewachsenen Fels brachte, auf dem das Gebäude stand.
Sie betraten einen von Stahlstreben durchzogenen riesigen Raum mit hoher Decke. Hier unten war nur das leise Rauschen der Klimaanlage zu hören. Entlang einer Wand waren Holzkisten aufgestapelt, zu denen Spalko sie führte. Er drückte Arsenow ein Brecheisen in die Hand und beobachtete zufrieden, wie der Terroristenführer die erste Kiste öffnete und die fabrikneuen AK-47, die sie enthielt, sichtlich beeindruckt anstarrte. Sina nahm ein Sturmgewehr heraus, inspizierte es rasch und sorgfältig. Sie nickte Arsenow zu, der eine weitere Kiste öffnete, die von der Schulter abzufeuernde Raketen enthielt.
«Das modernste Material aus russischen Beständen«, sagte Spalko.
«Aber zu welchem Preis?«, fragte Arsenow.
Spalko breitete die Hände aus.»Welcher Preis wäre angemessen, wenn diese Waffen euch helfen würden, die Freiheit zu erkämpfen?«
«Wie soll man den Wert der Freiheit beziffern?«, erkundigte Arsenow sich stirnrunzelnd.
«Das kann man nicht, Hassan. An der Freiheit hängt kein Preisschild. Sie wird mit dem Blut und den unbeugsamen Herzen von Menschen wie uns bezahlt. «Nun sah er zu Sina hinüber.»Sie gehören euch — alle —, damit ihr eure Grenzen sichern und dafür sorgen könnt, dass eure Nachbarn aufmerken. «Endlich sah Sina durch lange Wimpern zu ihm auf.
Ihre Blicke hielten einander fest, bis es zwischen ihnen funkte, obwohl ihre Gesichter ausdruckslos blieben.
Wie als Antwort auf Spalkos forschenden Blick sagte Sina:»Selbst mit diesen Waffen kommen wir nicht zum Gipfeltreffen in Reykjavik.«
Spalko nickte, zog die Mundwinkel nach unten.»Das stimmt leider. Die internationalen Sicherheitsmaßnahmen sind viel zu umfangreich. Ein bewaffneter Überfall würde nur mit unserem Tod enden. Aber ich habe einen Plan, der uns nicht nur Zugang zum Hotel Oskjuhlid verschafft, sondern auch die Möglichkeit gibt, alle Menschen im Gebäude zu töten, ohne dass wir uns selbst exponieren müssen. Wenige Stunden später ist alles, wovon ihr seit Jahrhunderten träumt, endlich euer.«
«Chalid Murat hatte Angst vor der Zukunft, Angst davor, was wir als Tschetschenen erreichen können. «Das Fieber der Selbstgerechtigkeit färbte Arsenows Gesicht rosig.»Die Welt hat uns allzu lange ignoriert. Die Russen bekämpfen uns mit allen Mitteln, während die Amerikaner, ihre Waffenbrüder, untätig zuschauen und nichts zu unserer Rettung unternehmen. In den Mittleren Osten fließen Milliarden US-Dollar — aber nach Tschetschenien kein einziger Rubel!«
Spalko hatte die zufriedene Miene eines Lehrers aufgesetzt, der Zeuge einer guten Leistung seines Lieblingsschülers wird. Seine Augen glitzerten hasserfüllt.»Das wird sich alles ändern. In fünf Tagen wird euch die Welt zu Füßen liegen. Dann habt ihr Macht und genießt den Respekt derer, die auf euch gespuckt und euch im Stich gelassen haben. Dazu gehören Russland, die islamische Welt und der gesamte Westen, vor allem die Vereinigten Staaten!«
«Hier geht’s darum, die Weltordnung auf den Kopf zu stellen, Sina!«, schrie Arsenow fast.
«Aber wie?«, fragte Sina.»Wie ist das möglich?«
«Trefft euch in drei Tagen mit mir in Nairobi«, antwortete Spalko,»dann werdet ihr’s sehen.«
Das Wasser, dunkel, tief, von namenlosen Schrecken erfüllt, schlägt über ihm zusammen. Er geht unter. Obwohl er mit aller Kraft kämpft, sich verzweifelt anstrengt, wieder an die Oberfläche zu gelangen, fühlt er sich wie mit Blei belastet in Spiralen in die Tiefe sinken. Dann blickt er nach unten und sieht ein dickes, von Wasserpflanzen schleimiges Tau, das um seinen linken Fußknöchel geknotet ist. Er kann nicht erkennen, was am Ende dieses Taus hängt, denn es verschwindet im Dunkel unter ihm. Aber die Last muss schwer sein, weil das Tau straff ist. Er krallt verzweifelt nach unten, seinen geschwollenen Fingern gelingt es endlich, den Knoten zu lösen, sich von der Buddhastatue zu befreien, die, sich überschlagend, ins unermessliche Dunkel sinkt…
Chan schrak wie jedes Mal mit dem Bewusstsein hoch, einen schrecklichen Verlust erlitten zu haben. Er lag in Schweiß gebadet in einem zerwühlten Bett. Dieser oft wiederkehrende Albtraum pulsierte noch einige Zeit bösartig in seinem Kopf. Dann ließ er die Finger behutsam, fast ehrfürchtig über seine straffen Bauch- und Brustmuskeln nach oben gleiten, bis sie den kleinen Buddha aus Jade erreichten, den er an einer dünnen Goldkette um den Hals trug. Chan legte ihn niemals ab, nicht einmal nachts. Natürlich war er da; er war immer da. Es war ein Talisman, obwohl Chan sich einzureden versuchte, er glaube nicht an Talismane.
Mit einem angewiderten kleinen Laut stand er auf, tappte barfuß ins Bad und ließ sich kaltes Wasser über den Kopf laufen. Er machte Licht und blinzelte einen Augenblick in der jähen Helligkeit. Dann brachte er seinen Kopf dicht an den Spiegel heran und studierte sein Spiegelbild, als sähe er sich zum ersten Mal. Er grunzte, erleichterte sich, ging ins Zimmer zurück und knipste die Nachttischlampe an, um auf der Bettkante sitzend erneut das spärliche Dossier zu lesen, das Spalko ihm gegeben hatte. Nichts darin lieferte den geringsten Hinweis darauf, dass David Webb die Fähigkeiten besaß, die er Chan gegenüber demonstriert hatte. Er berührte das blauschwarze Mal an seiner Kehle, dachte an das Netz, das Webb aus Ranken geflochten und so geschickt ausgespannt hatte. Dann zerriss er das einzelne Blatt Papier, aus dem das Dossier bestand. Es war wertlos, sogar schädlich, denn es hatte ihn dazu verleitet, die Zielperson zu unterschätzen. Und eine weitere Schlussfolgerung drängte sich ebenso auf: Spalko hatte ihm Informationen gegeben, die unvollständig oder falsch waren.
Chan hatte den Verdacht, Spalko wisse genau, wer und was David Webb war. Er musste herausbekommen, ob Spalko irgendein Projekt laufen hatte, das Webb betraf. In Bezug auf David Webb verfolgte er eigene Pläne und war entschlossen, sie von niemandem — nicht einmal von Stepan Spalko — durchkreuzen zu lassen.
Er knipste seufzend die Lampe aus und ließ sich ins
Bett zurücksinken, aber sein Verstand war nicht auf Schlaf eingestellt. Sein ganzer Körper schien von Spekulationen zu summen. Vor den Verhandlungen mit Spalko wegen des letzten Auftrags hatte er nicht einmal geahnt, dass David Webb überhaupt existierte. Chan bezweifelte, dass er den Auftrag angenommen hätte, wenn Spalko ihn nicht mit Webb geködert hätte. Er musste gewusst haben, dass Chan die Idee, Webb aufzuspüren, unwiderstehlich finden würde. Seit einiger Zeit fühlte Chan sich unbehaglich, wenn er für Spalko arbeitete. Spalko schien mehr und mehr zu glauben, er könne beliebig über ihn verfügen, und wurde zusehends größenwahnsinnig.
Im kambodschanischen Dschungel, in dem er sich als Kind und Jugendlicher hatte durchschlagen müssen, hatte er mehr als einmal mit Größenwahnsinn zu tun gehabt. Das schwülheiße Klima, das ständige Kriegschaos und der unsichere Alltag trugen vereint dazu bei, die Menschen an den Rand des Wahnsinns zu treiben. In dieser lebensfeindlichen Umwelt überlebten nur die Starken; jedermann wurde auf irgendeine grundlegende Weise verändert.
Im Bett liegend tastete Chan die Narben auf seinem Körper ab. Das war eine Art Ritual, vielleicht ein Aberglaube, ein Mittel, um vor Schaden sicher zu sein — nicht vor Gewalt, wie sie Erwachsene gegeneinander einsetzten, sondern vor dem kriechenden, namenlosen Entsetzen, das ein Kind mitten in der Nacht befällt. Kinder, die aus solchen Albträumen aufschrecken, laufen zu ihren Eltern, schlüpfen in die behagliche Wärme ihres Betts und sind bald wieder eingeschlafen. Aber Chan hatte keine Eltern gehabt, die ihn hätten trösten können. Er hatte sich im Gegenteil ständig aus den Krallen geistig minderbemittelter Erwachsener befreien müssen, die ihn nur als Quelle für Geld oder Sex sahen. Das Dasein als Sklave war viele Jahre lang sein Los gewesen — bei Asiaten ebenso wie bei Weißen, denen zu begegnen er das Unglück gehabt hatte. Er gehörte zu keiner der beiden Welten, dessen war er sich bewusst. Er war ein Mischling und als solcher verachtet, geschmäht, beschimpft, geschlagen, missbraucht und auf jede für menschliche Wesen nur denkbare Weise erniedrigt worden.
Und trotzdem hatte er durchgehalten. Anfangs hatte er nur das Ziel gehabt, von einem Tag zum nächsten zu überleben. Aber er hatte aus bitterer Erfahrung gelernt, dass Flucht allein nicht genügte, weil die Sklavenhalter einen verfolgten, um einen schwer zu bestrafen. Das hatte ihn zweimal fast das Leben gekostet. Endlich begriff er, dass er mehr tun musste, wenn er überleben wollte. Er würde töten müssen, sonst würde er selbst getötet werden.
Kurz vor fünf Uhr schlichen die Männer des Eingreifteams sich von ihrer Ausgangsposition an der Straßensperre lautlos an das Motel an. Dass Jason Bourne hier abgestiegen war, hatte der Nachtportier der Agency gemeldet, der das Gesicht des Flüchtigen auf dem Fernsehschirm vor sich gehabt hatte, als er aus einem von Xanax bewirkten Dämmerschlaf hochgeschreckt war. Er hatte sich gezwickt, um sich zu vergewissern, dass er nicht träumte, einen Schluck billigen Rye genommen und nach dem Telefonhörer gegriffen.
Der Teamführer hatte verlangt, dass die Außenbeleuchtung des Motels abgeschaltet wurde, damit sein Team sich im Dunkeln annähern konnte. Als seine
Männer jedoch in Stellung zu gehen begannen, ließ der Fahrer des Kühllasters am anderen Ende des Motels seinen Motor an und schaltete die Scheinwerfer ein, deren grelles Licht einige Männer des Teams erfasste. Der Teamleader machte dem ahnungslosen Fahrer verzweifelt Handzeichen; dann rannte er zum Fahrerhaus und forderte ihn auf, schleunigst abzuhauen. Der Fahrer, dem beim Anblick des Teams die Augen aus den Höhlen zu quellen drohten, gehorchte eilig und ließ die Scheinwerfer ausgeschaltet, bis er vom Parkplatz des Motels auf den Highway hinausgerumpelt war.
Der Teamführer gab seinen Männern den Angriffsbefehl, und sie rückten gegen Bournes Motelzimmer vor. Auf ein Handzeichen hin lösten sich zwei Männer aus der Gruppe und verschwanden zur Rückseite des Gebäudes. Der Führer ließ ihnen zwanzig Sekunden Zeit, in Stellung zu gehen, bevor er den Befehl» Gasmasken auf!«gab. Zwei seiner Männer ließen sich auf ein Knie nieder und schossen Tränengasgranaten durchs vordere Fenster des Motelzimmers. Als der ausgestreckte Arm des Führers herabzuckte, brachen seine Männer die Tür auf und erstürmten den Raum. Gasschwaden umhüllten sie, als sie mit schussbereiten Maschinenpistolen eindrangen. Der Fernseher lief, der Ton war leise gestellt. CNN zeigte das Gesicht des Gesuchten. Auf dem fleckigen, abgetretenen Teppichboden waren die Überreste einer hastig eingenommenen Mahlzeit verstreut, und das Bett war abgezogen. Das Zimmer war leer.
Im Laderaum des Kühllasters, der eilends vom Motel wegfuhr, lag Bourne in Bettzeug gehüllt zwischen fast bis zur Decke gestapelten Holzkisten mit Erdbeeren in Plastikkörbchen. Er hatte es geschafft, sich etwas oberhalb der Ladefläche einzurichten, wo die Kisten auf beiden Seiten ihm Halt gaben. Nachdem er hinten eingestiegen war, hatte er die Hecktür hinter sich verriegelt. Wie bei allen Kühllastern ließen die Türen sich auch von innen öffnen und schließen, damit sichergestellt war, dass niemand versehentlich eingesperrt wurde. Bourne hatte kurz seine Stablampe eingeschaltet und einen Mittelgang gesehen, der eben breit genug für einen Mann war. In der Vorderwand rechts oben saß der Lufteinlass des Kühlaggregats.
Plötzlich erstarrte er. Der Sattelschlepper wurde langsamer, als er sich der Straßensperre näherte, dann hielt er ganz. Der Augenblick höchster Gefahr war da.
Schätzungsweise fünf Minuten lang herrschte völlige Stille, dann knarrte die Hecktür, als sie geöffnet wurde. Stimmen drangen an sein Ohr.»Haben Sie Anhalter mitgenommen?«, fragte ein Cop.
«Mmh-hmm«, antwortete Guy, der Trucker.
«Hier, sehen Sie sich dieses Foto an. Haben Sie diesen Mann vielleicht am Straßenrand gesehen?«
«Nein, Sir. Den Kerl hab ich nie gesehen. Was hat er angestellt?«
«Was haben Sie dort drin?«Die Stimme eines zweiten Cops.
«Frische Erdbeeren«, sagte Guy.»Hören Sie, Officers, haben Sie ein Herz. Denen tut’s nicht gut, wenn die Tür offen ist. Was verfault ist, wird mir vom Lohn abgezogen.«
Jemand grunzte. Der Strahl einer starken Stablampe huschte den Mittelgang entlang und suchte genau unter der Stelle, wo Bourne zwischen den Erdbeerkisten lag, den Wagenboden ab.
«Okay«, sagte der erste Cop,»zumachen, Kumpel.«
Die Stablampe erlosch, und die Tür wurde zugeknallt.
Bourne wartete, bis der Sattelschlepper wieder in Fahrt war und über den Highway in Richtung D.C. donnerte, bevor er aus seinem Versteck kroch. Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Die Cops mussten Guy dasselbe Foto von Daniel Webb gezeigt haben, das schon CNN gesendet hatte.
Keine halbe Stunde später wurde die gleichmäßige Fahrt auf dem Highway durch Stop-and-go-Verkehr auf Stadtstraßen mit Verkehrsampeln ersetzt. Es wurde Zeit, auszusteigen. Bourne ging nach hinten und betätigte den Sicherheitshebel. Er ließ sich nicht bewegen — auch mit größerer Anstrengung nicht. Leise fluchend schaltete er seine Stablampe ein, die er aus Conklins Haus mitgenommen hatte. Im hellen Kreis des Lichtstrahls sah er, dass der Mechanismus klemmte. Er saß in der Falle.