Es war spät nachts, als Chan in Budapest ankam. Er nahm sich am Flughafen ein Taxi und stieg im Hotel Danubius als Heng Raffarin ab — unter dem Namen, unter dem er schon als Reporter von Le Monde aufgetreten war. So war er durch die Passkontrolle gekommen, aber er hatte auch weitere — ebenfalls gekaufte — Papiere bei sich, die ihn als Interpol-Inspektor auswiesen.
«Ich bin eigens aus Paris angereist, um Mr. Conklin zu interviewen«, sagte er in gereiztem Tonfall.»All diese Verzögerungen! Ich bin schrecklich spät dran. Könnten Sie Mr. Conklin bitte mitteilen, dass ich endlich angekommen bin? Wir haben beide einen recht vollen Terminkalender.«
Wie Chan vorausgesehen hatte, sah der Hotelangestellte an der Rezeption sich automatisch nach den Brieffächern hinter sich um, über denen in goldenen Ziffern die jeweilige Zimmernummer stand.»Tut mir Leid, Monsieur, aber Mr. Conklin ist im Augenblick nicht in seiner Suite. Möchten Sie eine Nachricht für ihn hinterlassen?«
«Mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben. Vielleicht klappt’s ja morgen früh. «Chan gab vor, eine kurze Mitteilung für» Mr. Conklin «zu schreiben, klebte den Umschlag zu und gab ihn dem jungen Mann. Dann nahm er seinen Schlüssel mit, wandte sich ab und beobachtete dabei aus den Augenwinkeln, wie der Angestellte den Umschlag in das Fach PENTHOUSE 3 legte. Be-friedigt fuhr er in sein Zimmer hinauf, das im Stockwerk unter der Penthouse-Etage lag.
Nachdem er geduscht hatte, nahm er einige Utensilien aus einem kleinen Beutel mit und verließ sein Zimmer. Über die Treppe gelangte er in die Penthouse-Etage hinauf. Oben blieb er sehr lange auf dem Korridor stehen, horchte einfach nur, gewöhnte sich an die in jedem Gebäude zu hörenden kleinen Geräusche. Er stand unbeweglich da und wartete auf etwas — einen Laut, eine Vibration, ein Gefühl —, das ihm sagen würde, ob er weitergehen oder den Rückzug antreten sollte.
Als sich nichts Verdächtiges erkennen ließ, setzte Chan sich endlich vorsichtig in Bewegung, erkundete den gesamten Korridor und vergewisserte sich, dass zumindest hier keine Gefahr drohte. Zuletzt stand er vor der polierten zweiflügligen Teakholztür von Penthouse 3. Aus einem kleinen Besteck wählte er einen Dietrich aus. Keine Minute später öffnete er die Tür.
Chan blieb wieder eine Zeit lang auf der Schwelle stehen und nahm die Atmosphäre der Suite in sich auf. Sein Instinkt sagte ihm, dass sie leer war. Trotzdem musste er sich vor einer Falle in Acht nehmen. Während langer Schlafmangel und die auf ihn einstürzenden Emotionen ihn leicht schwanken ließen, suchte er den Raum ab. Außer den Überresten eines Päckchens, das ungefähr die Größe eines Schuhkartons gehabt haben musste, wies kaum etwas darauf hin, dass diese Suite vor kurzem bewohnt worden war. Das Bett schien noch unbenutzt zu sein. Aber wo ist Bourne jetzt? fragte Chan sich.
Schließlich konzentrierte er sich wieder darauf, was er hier zu tun hatte, ging durch die Suite ins Bad und machte Licht. Auf der Ablage vor dem Spiegel sah er die
Toilettenartikel — Kunststoffkamm, Zahnbürste, Zahnpasta und ein winziges Fläschchen Mundwasser —, die das Hotel ebenso wie Seife, Shampoo und Handcreme zur Verfügung gestellt hatte. Er schraubte die Zahnpastatube auf, drückte etwas von dem Inhalt ins Waschbecken, spülte es weg. Dann holte er eine Büroklammer und ein kleines Silberdöschen aus seiner Jackentasche. Das Döschen enthielt zwei Kapseln aus schnell löslicher Gelatine. Eine war weiß, die andere schwarz.
«One pill makes your heart beat, the other makes it slow, and the pills that Father gives you don’t do anything at all«, sang er mit klarer Tenorstimme zur Melodie von» White Rabbit«, als er die weiße Kapsel herausnahm.
Chan wollte sie gerade in die aufgeschraubte Zahnpastatube stecken und mit einem Ende der Büroklammer in die weiche Masse drücken, als ihn irgendetwas daran hinderte. Er zählte bis zehn, dann schraubte er die Tube wieder zu und legte sie genauso hin, wie er sie vorgefunden hatte.
Er stand einige Augenblicke lang verwirrt da und starrte die beiden Kapseln an, die er selbst angefertigt hatte. Als er sie vorbereitet hatte, hatte er genau gewusst, wozu sie dienen sollten: Im Gegensatz zu der sofort tödlich wirkenden schwarzen Kapsel enthielt die weiße nur eben genug Gift einer Ceylon-Krait-Schlange, um Bournes Körper zu lähmen, während sein Verstand klar und er selbst völlig ansprechbar blieben. Bourne wusste mehr über Spalkos Absichten als Chan; er musste mehr über ihn wissen, denn er war der aufgenommenen Fährte bis zu Spalkos Zentrale gefolgt. Chan wollte erfahren, was Bourne wusste, bevor er ihn umbrachte. Zumindest redete er sich das selbst ein.
Aber er konnte unmöglich noch länger leugnen, dass es in seinem Verstand, der so lange von fiebrigen Rachevisionen erfüllt gewesen war, in letzter Zeit Raum für andere Szenarien gab. Auch wenn er noch so viel Energie aufwandte, um sie zu verdrängen, hielten sie sich hartnäckig. Tatsächlich, das erkannte er jetzt, weigerten sie sich umso hartnäckiger, zu verschwinden, je energischer er sie zu unterdrücken versuchte.
Er kam sich wie ein Idiot vor, als er, im Hotelzimmer seines Feindes stehend, außerstande war, seinen sorgfältig ausgearbeiteten Plan in die Tat umzusetzen. Stattdessen erschien vor seinem inneren Auge wieder Bournes Gesichtsausdruck beim Anblick des aus Stein geschnittenen Buddhas, den er an einer Goldkette um den Hals trug. Als er jetzt nach dem Buddha griff, empfand er wie immer ein Gefühl des Trosts und der Sicherheit, das die glatte, schwere Form der kleinen Statue ihm vermittelte. Was war nur mit ihm los?
Mit einem ärgerlichen kleinen Grunzlaut wandte er sich ab und stolzierte aus der Suite. Auf der Treppe zur Hotelhalle hinunter zog er sein Handy aus der Tasche und tippte eine Budapester Telefonnummer ein. Nach dem zweiten Klingeln meldete sich eine Stimme.
«Ja?«, sagte Ethan Hearn.
«Wie läuft’s in Ihrem Job?«
«Oh, es gefällt mir eigentlich ganz gut.«
«Genau wie ich vorhergesagt habe.«
«Wo sind Sie jetzt?«, fragte der neu angestellte Spendenwerber von Humanistas, Ltd.
«Budapest.«
«Das überrascht mich«, sagte Hearn.»Ich dachte, Sie hätten einen Auftrag in Ostafrika.«
«Den habe ich abgelehnt«, erklärte Chan ihm. Er hatte die Hotelhalle erreicht und durchquerte sie jetzt auf dem Weg zur Drehtür.»Tatsächlich stehe ich für einige Zeit nicht mehr zur Verfügung.«
«Etwas ziemlich Wichtiges muss Sie hergeführt haben.«
«Ihr Boss, wenn Sie’s genau wissen wollen. Was haben Sie über ihn in Erfahrung bringen können?«
«Nichts Konkretes, aber er plant etwas, das steht fest, und es ist sehr, sehr groß.«
«Wie kommen Sie darauf?«, fragte Chan.
«Erstens hat er ein tschetschenisches Paar bei sich zu Gast gehabt«, antwortete Hearn.»Auf den ersten Blick war das nicht verdächtig. Schließlich haben wir in Tschetschenien ein wichtiges Hilfsunternehmen laufen. Und trotzdem war es seltsam, sehr seltsam, denn obwohl die beiden westlich gekleidet waren — der Mann war bartlos, die Frau hat kein Kopftuch getragen —, habe ich sie erkannt… nun, zumindest ihn. Er war Hassan Arsenow, der tschetschenische Rebellenführer.«
«Bitte weiter«, drängte Chan, der schon jetzt dachte, sein Maulwurf habe sich reichlich bezahlt gemacht.
«Und vorgestern Abend hat er mich aufgefordert, in die Oper zu gehen«, fuhr Hearn fort.»Angeblich wollte er mit meiner Hilfe einen reichen Geldgeber namens Laszlo Molnar ködern.«
«Was ist daran so seltsam?«, fragte Chan.
«Zwei Dinge«, sagte Hearn.»Erstens hat Spalko mich mitten am Abend abgelöst. Er hat mir praktisch befohlen, den nächsten Tag freizunehmen. Zweitens ist Mol-nar seitdem verschwunden.«
«Verschwunden?«
«Spurlos verschwunden, als habe er nie existiert«, bestätigte Hearn.»Spalko hält mich für zu naiv, um das zu überprüfen. «Er lachte halblaut.
«Bloß kein übertriebenes Selbstbewusstsein«, warnte Chan ihn.»Dann fängt man an, Fehler zu machen. Und denken Sie daran, was ich gesagt habe: Unterschätzen Sie Spalko nicht! Sobald Sie das tun, sind Sie so gut wie tot.«
«Schon verstanden, Chan. Jesus, ich bin schließlich kein Dummkopf.«
«Wären Sie einer, stünden Sie nicht auf meiner Gehaltsliste«, erinnerte Chan ihn.»Wissen Sie, wo dieser Laszlo Molnar wohnt?«
Ethan Hearn gab ihm die Adresse.
«Jetzt«, sagte Chan,»brauchen Sie nur noch Augen und Ohren offen zu halten und in Deckung zu bleiben. Ich will alles, was Sie über ihn in Erfahrung bringen können.«
Jason Bourne beobachtete, wie Annaka Vadas die Leichenhalle verließ, in die sie vermutlich von der Polizei gebracht worden war, um ihren erschossenen Vater und seine drei Begleiter zu identifizieren. Der Attentäter war beim Sturz vom Dach mit dem Kopf voraus aufgeschlagen, was eine Identifizierung mit Hilfe seines Zahnschemas ausschloss. Die Polizei war vermutlich dabei, Interpol seine Fingerabdrücke zu übermitteln. Bourne hatte Gesprächsfetzen in der Matthiaskirche mitbekommen, und die Polizei fragte sich nun völlig zu Recht, weshalb ein Profikiller auf Janos Vadas angesetzt worden war, aber Annaka gab vor, sie könne sich das auch nicht erklären, sodass die Polizei schließlich kapitulierte. Sie ahnte natürlich nichts von Bournes Verwicklung in diese Sache. Er hatte notwendigerweise einen weiten Bogen um die
Ermittler gemacht — schließlich war er ein international gesuchter Verdächtiger —, aber er empfand eine gewisse Beklemmung. Er wusste nicht, ob er Annaka trauen durfte. Dass sie ihm eine Kugel durch den Kopf hatte jagen wollen, lag noch nicht lange zurück. Aber er hoffte, dass sein Verhalten nach der Ermordung ihres Vaters sie davon überzeugen würde, dass er auf ihrer Seite war.
Das war wohl auch der Fall, denn Annaka hatte der Polizei nichts von ihm erzählt. Stattdessen hatte er seine Stiefel in der Kapelle gefunden, die Annaka ihm gezeigt hatte; dort lagen sie zwischen den Sarkophagen von König Bela III. und Anne de Chatillon. Bourne hatte einen Taxifahrer mit einem guten Trinkgeld geködert und war ihr zum Polizeirevier und zur Leichenhalle nachgefahren. Jetzt beobachtete er, wie die Polizeibeamten zum Abschied grüßend an ihre Mützenschirme tippten und ihr eine gute Nacht wünschten. Sie hatten angeboten, Anna-ka nach Hause zu fahren, aber sie hatte dankend abgelehnt. Stattdessen zog sie auf dem Gehsteig ihr Handy heraus — um ein Taxi zu rufen, vermutete er.
Als er bestimmt wusste, dass sie allein war, trat er aus den Schatten, in denen er versteckt gewesen war, und überquerte rasch die Straße, um zu ihr zu gelangen. Sie sah ihn und steckte das Handy ein. Ihr besorgter Blick stoppte ihn abrupt.
«Sie! Wie haben Sie mich gefunden?«Annaka sah sich um — ziemlich wild, wie Bourne fand.»Sind Sie mir die ganze Zeit nachgefahren?«
«Ich wollte sichergehen, dass mit Ihnen alles in Ordnung ist.«
«Mein Vater ist vor meinen Augen erschossen worden«, sagte sie knapp.»Wie soll da alles in Ordnung sein?«
Ihm war bewusst, dass sie unter einer Straßenlampe standen. Nachts dachte er immer in Ziel- und Sicherheitskategorien; das war ihm zur zweiten Natur geworden — dagegen war er machtlos.»Die hiesige Polizei kann unangenehm sein.«
«Wirklich? Und woher wollen Sie das wissen?«Seine Antwort interessierte sie anscheinend nicht, denn sie begann von ihm wegzugehen. Ihre Absätze klackten auf den Pflastersteinen.
«Annaka, wir brauchen einander.«
Sie hielt sich sehr gerade, trug den Kopf auf ihrem langen, schlanken Hals hoch erhoben.»Was veranlasst Sie zu dieser absurden Behauptung?«
«Sie ist nicht absurd, sie ist wahr.«
Die junge Frau machte auf dem Absatz kehrt, sah ihm ins Gesicht.»Nein, sie ist nicht wahr. «Ihre Augen funkelten.»Ihretwegen ist mein Vater tot!«
«Wer stellt hier absurde Behauptungen auf?«Er schüttelte den Kopf.»Ihr Vater ist wegen einer Sache ermordet worden, in die er gemeinsam mit Alex Conklin verwickelt war. Wegen dieser Sache ist Alex in seinem Haus erschossen worden, und deshalb bin ich hier.«
Sie schnaubte verächtlich. Bourne verstand die Ursachen ihrer Sprödigkeit. Sie war — vielleicht von ihrem Vater — auf ein von Männern beherrschtes Schlachtfeld getrieben worden und befand sich jetzt mehr oder weniger im Krieg. Zumindest nahm sie eine höchst defensive Haltung ein.
«Wollen Sie nicht herausbekommen, wer Ihren Vater ermordet hat?«
«Offen gesagt, nein. «Ihre zur Faust geballte Rechte war in die Hüfte gestemmt.»Ich will ihn begraben und vergessen, dass ich je von Alex Conklin und Dr. Felix Schiffer gehört habe.«
«Das ist doch nicht Ihr Ernst!«
«Kennen Sie mich, Mr. Bourne? Wissen Sie irgendwas über mich?«Sie hielt den Kopf leicht schief, während ihre klaren Augen ihn prüfend musterten.»Das glaube ich nicht. Sie tappen völlig im Dunkeln. Deshalb sind Sie hergekommen und haben sich als Alexej ausgegeben. Eine dämliche List, auf den ersten Blick zu durchschauen. Und nachdem wegen Ihrer Ungeschicklichkeit Blut geflossen ist, halten Sie’s für Ihre Pflicht, festzustellen, was Alexej und mein Vater planten.«
«Kennen Sie mich, Annaka?«
Ihre Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln, als sie einen Schritt näher an ihn herantrat.»O ja, Mr. Bourne, ich kenne Sie gut. Ich habe Männer ihrer Art kommen und gehen gesehen — jeder in den letzten Augenblicken, bevor er niedergeschossen wird, von dem Glauben erfüllt, er sei cleverer als seine Vorgänger.«
«Wer bin ich also?«
«Denken Sie, dass ich mich nicht traue, Ihnen das zu sagen? Mr. Bourne, ich weiß genau, wer Sie sind. Sie gleichen einer Katze mit einem Wollknäuel. Sie sind erpicht darauf, das Knäuel zu entwirren, koste es, was es wolle. Für Sie ist dies nur ein Spiel — ein Rätsel, das gelöst werden muss. Alles andere ist unwichtig. Sie werden durch eben das Rätsel definiert, das Sie zu lösen versuchen. Sonst wären Sie gar nicht existent.«
«Sie täuschen sich.«
«O nein, das tue ich nicht. «Das spöttische Lächeln wurde breiter.»Deshalb können Sie nicht begreifen, dass ich diese Sache hinter mir lassen will. Sie begreifen nicht, warum ich nicht mit Ihnen zusammenarbeiten und Ihnen nicht helfen will, den Mörder meines Vaters zu finden. Wozu auch? Würde ihn das wieder lebendig machen? Er ist tot, Mr. Bourne. Er denkt, er atmet nicht mehr. Er ist nur noch ein Leichnam, der darauf wartet, dass die Zeit beendet, was sie begonnen hat.«
Sie wandte sich ab und wollte gehen.
«Annaka…«
«Lassen Sie mich in Ruhe, Mr. Bourne. Was immer Sie zu sagen haben, es interessiert mich nicht.«
Er lief ihr nach, holte sie ein.»Wie können Sie das behaupten? Sechs Männer haben ihr Leben gelassen, weil.«
Sie bedachte ihn mit einem wehmütigen Blick, und er merkte, dass sie dicht davor war, in Tränen auszubrechen.»Ich habe meinen Vater gebeten, sich aus dieser Sache rauszuhalten, aber Sie wissen schon. alte Freunde, der Reiz des Geheimen, weiß der Teufel, was es war. Ich habe ihn gewarnt, alles würde ein schlimmes Ende nehmen, aber er hat nur gelacht — ja, gelacht — und gesagt, Frauen verstünden nichts von solchen Dingen. Nun, das hat mich in meine Schranken gewiesen, nicht wahr?«
«Annaka, nach mir wird wegen eines Doppelmordes gefahndet, den ich nicht begangen habe. Meine beiden besten Freunde sind erschossen worden, und ich gelte als Hauptverdächtiger. Können Sie nicht begreifen, dass…«
«Jesus, haben Sie denn kein Wort von dem gehört, was ich gesagt habe? Ist alles bei einem Ohr hinein- und beim anderen hinausgegangen?«
«Allein kann ich’s nicht schaffen, Annaka. Sie müssen mir helfen. Ich kann mich an sonst niemanden wenden.
Mein Leben liegt buchstäblich in Ihren Händen. Bitte erzählen Sie mir von Dr. Felix Schiffer. Sagen Sie mir, was Sie über ihn wissen, und ich schwöre Ihnen, dass Sie mich nie wieder sehen werden.«
Sie wohnte im Haus 106–108 Fo utca in Vfzivaros, einem engen Stadtviertel mit Hügeln und steilen Treppen statt Straßen, das zwischen Festungsbezirk und Donau eingeklemmt war. Von ihrem nach vorn hinausführenden Erkerfenster aus konnte man den Bem ter sehen. Dort hatten sich im Jahr 1956 wenige Stunden vor dem Ungarnaufstand Tausende versammelt und ungarische Fahnen geschwenkt, aus denen sie freudig und sorgfältig Hammer und Sichel herausgeschnitten hatten, bevor sie zum Parlament gezogen waren.
Das kleine Apartment wirkte umso beengter, weil ein Konzertflügel fast die Hälfte des Wohnzimmers einnahm. Die Bücherwand gegenüber war mit Büchern, Monografien und Zeitschriften über Musikgeschichte und Musiktheorie, Biografien von Komponisten, Dirigenten und Musikern voll gestopft.
«Sie spielen Klavier?«, fragte Bourne.
«Ja«, sagte Annaka einfach.
Er setzte sich auf die Klavierbank und warf einen Blick auf das vor ihm stehende Notenheft. Ein Nocturne von Chopin, Opus 9, No. 1 in b-moll. Sie muss ziemlich gut spielen, wenn sie das meistert, dachte er.
Von dem Erkerfenster im Wohnzimmer aus waren der Boulevard und die Häuser auf der gegenüberliegenden Seite zu sehen. Nur hinter wenigen Fenstern brannte noch Licht; leiser Jazz aus den Fünfzigern — Thelonious Monk — schwebte durch die Nacht. Ein Hund bellte kurz und verstummte wieder. Von Zeit zu Zeit trug die leichte Brise Verkehrsgeräusche herüber.
Nachdem Annaka überall Licht gemacht hatte, ging sie in die Küche und setzte Teewasser auf. Aus einem butterblumengelben Hängeschrank nahm sie Tassen und Untertassen, und während der Tee zog, schraubte sie eine Flasche auf und kippte in jede Tasse einen kräftigen Schuss Rum.
Sie machte den Kühlschrank auf.»Möchten Sie etwas essen? Käse, ein Wurstbrot?«Sie sprach mit ihm wie mit einem alten Freund.
«Danke, ich habe keinen Hunger.«
«Ich auch nicht. «Sie schloss seufzend die Tür. Seit sie sich dafür entschieden hatte, ihn mit in ihre Wohnung zu nehmen, schien sie ihre Abwehrhaltung aufgegeben zu haben. Von Janos Vadas oder Bournes vergeblicher Verfolgung des Mörders wurde nicht mehr gesprochen. Das war ihm nur recht.
Sie gab ihm seinen Tee mit Rum, sie gingen ins Wohnzimmer und setzten sich auf das uralte Sofa.
«Mein Vater hat mit einem professionellen Vermittler namens Laszlo Molnar zusammengearbeitet«, sagte sie ohne Vorrede.»Er war derjenige, der Dr. Schiffer versteckt hatte.«
«Versteckt?«Bourne schüttelte den Kopf.»Das verstehe ich nicht.«
«Dr. Schiffer war entführt worden.«
Bournes nervöse Spannung wuchs.»Von wem?«
Sie schüttelte den Kopf.»Mein Vater hat’s gewusst, aber ich nicht. «Sie runzelte die Stirn, während sie sich konzentrierte.»Deshalb hat Alexej sich ursprünglich mit ihm in Verbindung gesetzt. Er brauchte die Hilfe meines
Vaters, um Dr. Schiffer zu befreien und an einen geheimen, sicheren Ort zu bringen.«
Plötzlich hatte er Mylene Dutroncs Stimme im Ohr:
«An jenem Tag hat Alex in ganz kurzer Zeit viele Anrufe bekommen und selbst viel telefoniert. Er war schrecklich nervös, und ich wusste, dass irgendein wichtiges Unternehmen in die kritische Phase getreten war. Bei dieser Gelegenheit habe ich mehrmals Dr. Schiffers Namen gehört und vermute daher, dass das Unternehmen ihm gegolten hat.«Dies war das wichtige Unternehmen gewesen.
«Ihrem Vater ist es also gelungen, Dr. Schiffer zu befreien.«
Annaka nickte. Der Lampenschein ließ ihr Haar in tiefem Kupferrot leuchten. Es beschattete die halbe Stirn und ihre Augen. Sie saß leicht nach vorn gebeugt mit geschlossenen Knien da und hielt ihre Teetasse mit beiden Händen umfasst, als wolle sie die Wärme des Tees in sich aufnehmen.
«Sobald mein Vater Dr. Schiffer befreit hatte, hat er ihn Laszlo Molnar übergeben. Das war eine reine Vorsichtsmaßnahme. Alexej und er hatten schreckliche Angst vor seinem Entführer.«
Auch das stimmte mit dem überein, was Mylene ihm erzählt hatte: »An jenem Tag war er ängstlich.«
Bournes Verstand arbeitete auf Hochtouren.»Annaka, damit dies alles einen Sinn ergibt, müssen Sie verstehen, dass die Ermordung Ihres Vaters ein sorgfältig geplantes Unternehmen war. Der Attentäter war schon vor uns in der Kirche, und er hat gewusst, dass Ihr Vater kommen würde.«
«Wie meinen Sie das?«
«Ihr Vater ist erschossen worden, bevor er mir erzählen konnte, was ich wissen wollte. Jemand will verhindern, dass ich Dr. Schiffer finde, und nun stellt sich immer deutlicher heraus, dass dieser Jemand der Mann sein muss, der Dr. Schiffer entführt hat und vor dem Alexej und Ihr Vater Angst hatten.«
Annaka machte große Augen.»Dann ist Laszlo Molnar jetzt möglicherweise in Gefahr.«
«Kann dieser Unbekannte von der Verbindung Ihres Vaters zu Molnar gewusst haben?«
«Mein Vater war äußerst vorsichtig, sehr sicherheitsbewusst, deshalb halte ich das für unwahrscheinlich. «Ihre Augen waren dunkel vor Angst, als sie ihn jetzt ansah.»Andererseits ist seine Abwehr in der Matthiaskirche durchbrochen worden.«
Bourne nickte zustimmend.»Wissen Sie, wo Molnar wohnt?«
Annaka fuhr sie zu Molnars Apartment im eleganten Botschaftsviertel Roszadomb oder Rosenhügel. Budapest präsentierte sich mit einer unglaublichen Vielfalt von Gebäuden aus hellem Stein, mit ornamental geschmückten Fensterstürzen und Gesimsen, üppig verziert wie Geburtstagstorten, malerischen Pflastergassen, schmiedeeisernen Balkonen mit Blumenkästen, Kaffeehäusern, die von kunstvollen Kronleuchtern erhellt wurden, deren gelbes Licht rötliche Wandtäfelungen beleuchtete, und bunt leuchtenden Glasfenstern in unverfälschten Jugendstilmustern. Wie Paris wurde diese Stadt zuallererst durch den mächtigen Fluss definiert, der sie in zwei Teile zerschnitt, und danach durch die Brücken, die ihn überspannten. Darüber hinaus war Budapest eine Stadt aus behauenem Stein mit gotischen Türmen, breiten
Treppenanlagen, angestrahlten Wällen, mit Kupfer eingedeckten Kuppeln, efeubewachsenen Mauern, monumentalen Statuen und glitzernden Mosaiken. Und wenn es regnete, wurden entlang der Donau Schirme, tausende von Schirmen, wie Segel aufgespannt.
Alles das und noch mehr bewegte Bourne zutiefst. Er hatte das Gefühl, in einer Stadt anzukommen, an die er sich aus einem Traum erinnerte — mit der für Träume charakteristischen übernatürlichen Klarheit, die von ihrer direkten Verbindung zum Unterbewusstsein herrührt. Und trotzdem konnte er den Emotionen, die aus seinem bruchstückhaften Gedächtnis aufstiegen, keine spezifische Erinnerung abringen.
«Was haben Sie?«, fragte Annaka, als spüre sie sein Unbehagen.
«Ich bin schon einmal hier gewesen«, sagte er.»Erinnern Sie sich daran, dass ich gesagt habe, die hiesige Polizei könne unangenehm sein?«
Sie nickte.»Damit haben Sie völlig Recht. Aber soll das heißen, dass Sie nicht wissen, woher Sie das wissen?«
Er lehnte den Kopf an die Kopfstütze.»Vor vielen Jahren hatte ich einen schrecklichen Unfall. In Wirklichkeit war’s gar kein Unfall. Ich bin auf einem Boot angeschossen worden und über Bord gefallen. Schock, Blutverlust und Unterkühlung hätten mich beinahe das Leben gekostet. Ein Arzt auf der französischen Ile de Port Noir hat mir die Kugel herausgeschnitten und mich gesund gepflegt. Körperlich war ich bald wieder ganz gesund, aber mein Gedächtnis war beeinträchtigt. Nach anfänglichem Gedächtnisverlust sind in einem langsamen, schmerzhaften Prozess Bruchstücke meines früheren Lebens wieder aufgetaucht. Aber ich muss mit der Wahr-heit leben, dass ich mein Gedächtnis wohl niemals vollständig wieder erlangen werde.«
Annaka fuhr schweigend weiter, aber ihr Gesichtsausdruck zeigte ihm, dass seine Erzählung sie bewegte.
«Sie können sich gar nicht vorstellen, wies ist, nicht zu wissen, wer man ist«, sagte er.»Bis es einem selbst zustößt, kann man nicht wissen oder gar erklären, wie man sich dabei fühlt.«
«Wie Treibgut.«
Er sah zu ihr hinüber.»Ja.«
«Auf hoher See treibend, nirgends Land in Sicht, weder Sonne, Mond noch Sterne, nach denen man seinen Kurs setzen könnte, um wieder die Heimat zu erreichen.«
«Ganz ähnlich. «Bourne war überrascht. Er wollte sie fragen, woher sie das wisse, aber dann hielten sie bereits vor einem prächtig restaurierten Jugendstilgebäude.
Sie stiegen aus und betraten den Windfang. Als Annaka einen Knopf drückte, flammte eine schwache Glühbirne auf, deren trübes Licht den Mosaikfußboden und eine lange Reihe von Klingelknöpfen beleuchtete. Niemand reagierte, als sie bei Laszlo Molnar klingelten.
«Das braucht nichts zu bedeuten«, meinte Annaka.»Wahrscheinlich ist er bei Dr. Schiffer.«
Bourne trat an die breite, massive Haustür mit ihrer in Hüfthöhe beginnenden geätzten Milchglasscheibe.»Das werden wir gleich feststellen.«
Er beugte sich zu dem Schloss hinunter und hatte es wenig später offen. Annaka drückte einen weiteren Knopf, der das Licht in der Eingangshalle dreißig Sekunden lang einschaltete, während sie auf der breiten Treppe zu Molnars Apartment im ersten Stock vorausging.
Mit der Wohnungstür hatte Bourne etwas mehr Schwierigkeiten, aber dann war auch dieses Schloss geknackt. Annaka wollte hineinstürmen, aber er hielt sie zurück. Er zog seine Keramikpistole und stieß die Tür langsam auf. Dahinter brannte Licht, aber in dem Apartment war es totenstill. Als sie vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer, ins Bad und dann in die Küche gingen, fanden sie die gesamte Wohnung tadellos sauber und aufgeräumt vor. Nichts wies darauf hin, dass hier ein Kampf stattgefunden haben könnte, und von Molnar war keine Spur zu entdecken.
«Was mich stört«, sagte Bourne, als er seine Pistole wegsteckte,»sind die brennenden Lampen. Er kann nicht mit Dr. Schiffer zusammen sein.«
«Dann kommt er bestimmt bald zurück«, meinte Annaka.»Wir sollten auf ihn warten.«
Bourne nickte. Im Wohnzimmer griff er nach mehreren gerahmten Fotos, die im Bücherregal und auf dem Schreibtisch standen.»Ist das Molnar?«, fragte er Annaka und zeigte auf einen stämmigen Mann, der seine schwarze Mähne glatt zurückgekämmt trug.
«Ja, das ist er. «Sie sah sich um.»Meine Großeltern haben in diesem Haus gewohnt, und ich habe als Kind auf den Fluren gespielt. Die hier lebenden Kinder haben alle möglichen Verstecke gekannt.«
Bourne ließ seinen Zeigefinger über die Rücken der Hüllen altmodischer Langspielplatten gleiten, die neben der teuren Stereoanlage mit einem hochwertigen Plattenspieler standen.»Wie ich sehe, ist er nicht nur ein Hi-Fi-Fan, sondern auch ein Opernliebhaber.«
Annaka zog die Augenbrauen hoch.»Kein CD-Player?«
«Leute wie Molnar erzählen einem, dass digitale Auf-nahmen niemals die Wärme und den Nuancenreichtum von Vinylplatten besitzen.«
Bourne wandte sich dem Schreibtisch zu, auf dem ein aufgeklapptes Notebook stand. Er sah, dass es mit der Steckdose und einem Modem verbunden war. Der Bildschirm war schwarz, aber als er das Gehäuse berührte, schien es leicht warm zu sein. Als er die Taste» Esc «drückte, wurde der Bildschirm sofort hell; der Computer war nicht ausgeschaltet, sondern nur im Stromsparmo-dus gewesen.
Annaka war hinter ihn getreten und las vom Bildschirm ab:»Argentinisches hämorrhagisches Fieber,
Kryptokokkose, Lungenpest, Milzbrand… Großer Gott, weshalb hat Molnar sich auf einer Webseite über die Wirkung tödlicher — wie werden sie gleich wieder genannt — Pathogene informiert?«
«Ich weiß nur, dass Dr. Schiffer Anfang und Ende dieses Rätsels sein muss«, sagte Bourne.»Alex Conklin hat mit ihm Verbindung aufgenommen, als er noch bei der DARPA war — das ist eine Forschungseinrichtung, die im Auftrag des US-Verteidigungsministeriums modernste Waffen entwickelt. Binnen eines Jahres ist Dr. Schiffer zur CIA-Entwicklungsabteilung für nichttödliche taktische Waffen versetzt worden. Und kurz danach ist er ganz verschwunden. Ich habe keine Ahnung, was Conklin so sehr interessiert hat, dass er sich die Mühe gemacht hat, das Verteidigungsministerium gegen sich aufzubringen und einen prominenten Wissenschaftler aus einer CIA-Abteilung verschwinden zu lassen.«
«Vielleicht ist Dr. Schiffer ein Bakteriologe oder Epidemiologe. «Annaka fuhr zusammen.»Der Inhalt dieser Webseite ist beängstigend.«
Sie ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen, während Bourne im Web surfte, um vielleicht so herauszubekommen, weshalb Molnar diese Webseite besucht hatte. Als er nicht fündig wurde, öffnete er im Browser das Pull-down-Menü neben dem Adressfeld, um zu sehen, welche Seiten Molnar zuletzt aufgerufen hatte. Er klickte die letzte Seite an, die Molnar besucht hatte. Sie erwies sich als ein in Echtzeit stattfindendes wissenschaftliches Forum. Bourne rief die Archivfunktion auf und suchte rückwärts, um vielleicht dadurch festzustellen, wann Molnar an dem Forum teilgenommen und worüber er gesprochen hatte. Vor ungefähr 48 Stunden hatte Laszlo 1647M sich dort eingeloggt. Bourne, dessen Herz zu jagen begann, verbrachte mehrere Minuten damit, den Dialog Molnars mit einem anderen Mitglied des Forums zu lesen.
«Annaka, sehen Sie sich das an!«, rief er.»Dr. Schiffer ist offenbar weder Bakteriologe noch Epidemiologe, sondern Experte für das Teilungsverhalten von Bakterien.«
«Mr. Bourne, Sie sollten herkommen«, sagte Annaka mit gepresster Stimme.»Sofort!«
Der Klang ihrer Stimme ließ ihn in die Küche hasten. Annaka stand wie gelähmt am Ausguss. Die Hand mit einem Glas Wasser war auf halbem Weg zu ihren Lippen erstarrt. Sie war blass, und als sie Bourne sah, fuhr sie sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen.
«Was gibt’s?«
Sie deutete auf den Raum zwischen Küchenschrank und Kühlschrank, in dem er sieben oder acht weiß beschichtete Gitter, deren Rand an einer Querseite erhöht war, aufgestapelt liegen sah.
«Was zum Teufel sind das für Dinger?«, fragte er.
«Kühlschrankfächer«, sagte Annaka.»Jemand hat sie rausgenommen. «Sie wandte sich ihm zu.»Wozu sollte das jemand tun?«
«Vielleicht bekommt Molnar einen neuen Kühlschrank.«
«Dieser hier ist neu.«
Bourne sah hinter dem riesigen Kühlschrank nach.»Er ist eingesteckt, und das Aggregat scheint normal zu laufen. Haben Sie reingesehen?«
«Nein.«
Er packte den Griff, zog die Tür auf. Annaka holte entsetzt tief Luft.
«Jesus«, sagte er.
Ein im Tod glanzloses Augenpaar starrte sie blicklos an. In den Tiefen des ausgeräumten Kühlschranks steckte der zusammengefaltete, bläulich weiße Leichnam Laszlo Molnars.