Kapitel neunzehn

Der unterirdische Zugang zum Kloster lag im Schatten der tiefsten Spalte in der Nordwand der Schlucht verborgen. Die tiefer stehende Sonne hatte enthüllt, dass die Spalte eher ein Engpass war — wie schon vor vielen Jahrhunderten, als die Mönche diesen Ort für ihr wehrhaftes Kloster ausgewählt hatten. Vielleicht waren sie kampferprobte Mönche gewesen, denn die ausgedehnten Befestigungsanlagen kündeten von Kämpfen und Blutvergießen und der Notwendigkeit, das Kloster gegen äußere Feinde zu verteidigen.

Das Team bewegte sich, der Sonne folgend, schweigend durch den Engpass. Zwischen Spalko und Sina gab es jetzt kein intimes Gespräch mehr, nicht den geringsten Hinweis darauf, was zwischen ihnen vorgefallen war, obwohl es ungeheuer bedeutsam gewesen war. In gewisser Beziehung hätte man von einem heiligen Segen sprechen können; jedenfalls war damit ein Transfer von Loyalität und Macht verbunden gewesen, den Schweigen und Geheimhaltung jetzt noch wirkungsvoller machten. Es war wieder Spalko gewesen, der einen metaphorischen Kiesel in einen stillen Teich geworfen und sich dann zurückgelehnt hatte, um zu beobachten, wie die kleinen Wellen sich ringförmig ausbreiteten und die grundlegende Natur des Teichs und aller seiner Bewohner veränderten.

Die von der Sonne angestrahlten Felsen blieben hinter ihnen zurück, als sie in den Schatten eintraten und ihre Stablampen einschalteten. Spalko und Sina wurden von zwei Männern begleitet — der dritte Mann lag, von dem Chirurgen betreut, in Spalkos Privatjet auf dem Flughafen Kazantzakis. Sie trugen leichte Nylonrucksäcke mit allen möglichen Ausrüstungsgegenständen von Tränengaskanistern bis zu Zwirnspulen. Da Spalko nicht wusste, was sie erwartete, hatte er für alle Eventualitäten vorgesorgt.

Die beiden Männer, die schussbereite Maschinenpistolen an breiten Schultergurten trugen, bildeten die Vorhut. In dem schmalen Engpass mussten sie hintereinander hergehen. Wenig später verschwand der Himmel jedoch unter einem Felsendach, und sie befanden sich in einer Höhle. Sie war feucht und moderig, roch nach Verwesung.

«Sie stinkt wie ein geöffnetes Grab«, sagte einer der Männer.

«Seht euch das an!«, rief der andere.»Knochen!«

Sie blieben stehen, und der Lichtschein ihrer Stablampen konzentrierte sich auf die verstreuten Knochen eines kleinen Säugetiers, aber keine hundert Meter weiter stießen sie auf den Schenkelknochen eines weit größeren Warmblüters.

Sina ging in die Hocke, um den Knochen in die Hand zu nehmen.

«Nicht!«, sagte der erste Mann warnend.»Menschenknochen anzufassen bringt Unglück.«

«Was soll der Unsinn? Archäologen tun das dauernd. «Sina lachte.»Außerdem muss der nicht von einem Menschen stammen. «Trotzdem ließ sie den Knochen wieder in den Staub fallen.

Fünf Minuten später waren sie alle um ein Objekt versammelt, das unverkennbar ein Menschenschädel war. Der Lichtschein ihrer Stablampen ließ die Augenwülste hervortreten und tauchte die Augenhöhlen in tiefen Schatten.

«Woran mag er gestorben sein?«, fragte Sina.

«Unterkühlung, nehme ich an«, sagte Spalko.»Oder er ist verdurstet.«

«Armer Teufel.«

Sie gingen weiter, drangen tiefer in den gewachsenen Fels ein, auf dem das Kloster erbaut war. Je weiter sie vorankamen, desto häufiger wurden die Knochen. Jetzt waren es ausschließlich Menschenknochen, von denen viele gebrochen oder zersplittert waren.

«Ich glaube nicht, dass diese Leute an Durst oder Unterkühlung gestorben sind«, sagte Sina.

«Woran sonst?«, fragte einer der Männer, aber niemand wusste eine Antwort.

«Weiter!«, befahl Spalko knapp. Nach seiner Einschätzung mussten sie sich jetzt ziemlich genau unter der Stelle befinden, wo die von Zinnen gekrönten äußeren Mauern des Klosters aufragten. Im Licht ihrer Stablampen wurde vor ihnen eine merkwürdige Felsformation sichtbar.

«Hier teilt sich die Höhle«, sagte einer der Männer, indem er erst in den linken, dann in den rechten Gang hineinleuchtete.

«Höhlen teilen sich nicht«, sagte Spalko. Er trat nach vorn, steckte den Kopf in die linke Abzweigung.»Dieser Gang ist eine Sackgasse. «Er ließ seine Hand über den Rand der Öffnungen gleiten.»Der Fels ist bearbeitet worden«, sagte er.»Vor langer Zeit, vielleicht damals, als das Kloster erbaut wurde. «Seine Stimme klang merkwürdig hallend, als er den rechten Gang betrat.»Ja, der hier geht weiter, aber er knickt ab und verzweigt sich wieder.«

Als er zurückkam, trug sein Gesicht einen seltsamen Ausdruck.»Ich glaube nicht, dass dieser Gang nur ein Fluchtweg ist«, sagte er.»Kein Wunder, dass Molnar sich dafür entschieden hat, Dr. Schiffer hier zu verstecken. Ich glaube, dass wir im Begriff sind, ein Labyrinth zu betreten.«

Seine Männer wechselten einen besorgten Blick.

«Wie sollen wir jemals wieder herausfinden?«, fragte Sina.

«Was uns dort drinnen erwartet, weiß kein Mensch. «Spalko zog einen kleinen rechteckigen Gegenstand, kaum größer als eine Zigarettenschachtel, aus der Tasche. Er grinste, während er ihr zeigte, wie das Gerät funktionierte.»Das ist ein GPS-Empfänger. Ich habe gerade unseren Ausgangspunkt gespeichert. «Er nickte den Männern zu.»Auf geht’s!«

Aber sie brauchten nicht lange, um zu erkennen, dass sie hier unten orientierungslos waren. Keine fünf Minuten später waren sie wieder am Eingang des Labyrinths versammelt.

«Was ist passiert?«, fragte Sina.

Spalko runzelte die Stirn.»Das GPS hat dort drinnen nicht funktioniert.«

Sie schüttelte den Kopf.»Wie ist das möglich?«

«Anscheinend blockiert der Fels das Satellitensignal«, vermutete Spalko. Er konnte es sich nicht leisten, einzugestehen, dass er keine Ahnung hatte, weshalb der GPS-Empfänger hier unten nicht funktionierte. Stattdessen machte er seinen Rucksack auf, holte eine dicke Zwirnspule heraus.»Wir machen’s wie Theseus und rollen den Zwirn als Ariadnefaden ab.«

Sina betrachtete die Spule zweifelnd.»Was ist, wenn uns der Faden ausgeht?«

«Theseus ist das nicht passiert«, sagte Spalko.»Und da wir praktisch schon unter dem Kloster sind, können wir hoffen, dass er uns auch nicht ausgeht.«

Dr. Felix Schiffer langweilte sich. Seit Tagen hatte er nun schon nichts anderes getan, als Anweisungen auszuführen, während sein Team aus Beschützern ihn im Schutz der Nacht nach Kreta flog und dort in regelmäßigen Abständen von einem Versteck zum anderen brachte. Sie blieben nirgends länger als drei Tage. Das Haus in Iraklion hatte ihm gefallen, aber letztlich hatte er sich auch dort gelangweilt. Er hatte absolut nichts zu tun. Sie weigerten sich, ihm eine Zeitung zu bringen oder ihn Radio hören zu lassen. Einen Fernseher gab es dort nicht, und wenn es einen gegeben hätte, wäre er bestimmt davon fern gehalten worden. Trotzdem, überlegte er sich trübselig, war das Haus verdammt viel behaglicher gewesen als dieses schimmelige Gemäuer, in dem ein Feldbett und ein Kaminfeuer den einzigen Komfort darstellten. Schwere Schränke und Kommoden waren buchstäblich die einzigen Einrichtungsgegenstände, sodass die Männer Klappstühle, Feldbetten und Schlafsäcke hatten mitbringen müssen. Da es hier anscheinend keine Toilette gab, hatten sie auf dem Innenhof eine Latrine gegraben, deren Gestank bis ins Innere des Klosters drang. Selbst mittags- und nach Einbruch der Dunkelheit erst recht — war der alte Bau feucht und düster. Es gab nicht einmal Licht, bei dessen Schein man hätte lesen können, wenn es denn eine Lektüre gegeben hätte.

Er dürstete nach Freiheit. Wäre er ein gottesfürchtiger Mann gewesen, hätte er um Erlösung gebetet. Es war schrecklich lange her, dass er Laszlo Molnar gesehen oder mit Alex Conklin gesprochen hatte. Als er seine Beschützer nach ihnen gefragt hatte, hatten sie sich auf das ihnen heiligste Wort berufen: Sicherheit. Telefonate waren einfach nicht sicher genug. Sie beeilten sich, ihm zu versichern, er werde bald mit seinem Freund und seinem Wohltäter wieder vereint sein. Aber als er fragte, was» bald «heiße, zuckten sie lediglich mit den Schultern und setzten ihr endloses Kartenspiel fort. Er spürte, dass sie sich ebenfalls langweilten — zumindest die Männer, die gerade nicht Wache stehen mussten.

Sie waren zu siebt. Ursprünglich waren es mehr gewesen, aber die anderen waren in Iraklion zurückgeblieben. Wie er mitbekommen hatte, hätten sie längst eintreffen sollen. Deshalb gab’s heute kein Kartenspiel — alle sieben Männer des Teams waren auf Patrouille. In der Luft hing deutlich wahrnehmbare Spannung, die auch ihn nervös machte.

Schiffer war ein ziemlich großer Mann mit durchdringend blauen Augen und einer kräftigen Nase unter einer grau melierten Mähne. Bevor er zur DARPA gegangen war, hatte es eine Zeit gegeben, in der er sich mehr in der Öffentlichkeit bewegt hatte und oft mit Burt Bacharach verwechselt worden war. Da er nicht sehr gut mit Leuten umgehen konnte, hatte er immer hilflos auf die Verwechslung reagiert. Er hatte nur etwas Unverständliches gemurmelt und sich abgewandt, aber seine offenkundige Verlegenheit hatte die Leute nur in ihrer Fehleinschätzung bestärkt.

Er stand auf und schlenderte durch den Raum zum Fenster, wurde aber von einem Mann des Teams abgefangen und zurückdirigiert.

«Sicherheit«, sagte der Söldner mit deutlicher Nervosität in der Stimme, wenn auch nicht im Blick.

«Sicherheit! Sicherheit! Wie ich dieses Wort satt habe!«, rief Dr. Schiffer aus.

Trotzdem wurde er zu dem Stuhl zurückbegleitet, auf dem er sitzen sollte. Auf seinen von allen Türen und Fenstern entfernten Platz. Er zitterte in der feuchten Kälte.

«Mir fehlt mein Labor — mir fehlt meine Arbeit!«Schiffer sah in die dunklen Augen des Söldners.»Ich komme mir wie im Gefängnis vor, verstehen Sie das nicht?«

Sean Keegan, der Führer des Teams, der die Unruhe seines Schutzbefohlenen spürte, kam mit langen Schritten herüber.»Bitte setzen Sie sich, Doktor.«

«Aber ich…«

«Das ist zu Ihrem eigenen Besten«, sagte Keegan. Er gehörte zu dem dunklen irischen Typ mit schwarzen Augen und Haaren, kantigem Gesicht, aus dem grimmige Entschlossenheit sprach, und der sehnigen Gewandtheit eines Straßenkämpfers.»Wir haben den Auftrag, für Ihre Sicherheit zu sorgen, und nehmen diese Verantwortung ernst.«

Schiffer nahm gehorsam Platz.»Will mir nicht endlich jemand sagen, was hier vorgeht?«

Keegan starrte einige Zeit auf ihn hinab. Dann fasste er einen Entschluss und ging neben dem Stuhl in die Hocke. Halblaut sagte er:»Ich habe Sie bewusst im Unklaren gelassen, aber vielleicht ist’s besser, wenn Sie’s jetzt erfahren.«

«Was?«Schiffers Gesicht wirkte gequält und verkniffen.»Was ist passiert?«

«Alex Conklin ist tot.«

«O Gott, nein. «Schiffer fuhr sich mit dem Handrücken über seine plötzlich schweißnasse Stirn.

«Und was Laszlo Molnar betrifft, haben wir seit zwei Tagen nichts mehr von ihm gehört.«

«Allmächtiger!«

«Beruhigen Sie sich, Doktor. Denkbar ist durchaus, dass Molnar sich aus Sicherheitsgründen nicht gemeldet hat. «Keegan erwiderte seinen Blick.»Andererseits sind die Leute, die wir in dem Haus in Iraklion zurückgelassen haben, uns nicht wie geplant gefolgt.«

«Ja, das habe ich mitgekriegt«, sagte Schiffer.»Glauben Sie, dass ihnen… ein Unheil zugestoßen ist?«

«Das muss ich leider annehmen.«

Schiffers Gesicht glänzte, und wider Willen schwitzte er weiterhin vor Angst.»Dann ist’s möglich, dass Spalko herausbekommen hat, wo ich bin. Es ist möglich, dass er hier auf Kreta ist!«

Keegans Gesicht war wie aus Stein gehauen.»Von dieser Prämisse gehen wir aus.«

Das Entsetzen machte Schiffer aggressiv.»Und?«, fragte er scharf.»Was tun Sie dagegen?«

«Ich lasse die Mauern von Männern mit Maschinenpistolen bewachen, aber ich bezweifle sehr, dass Spalko töricht genug ist, einen Sturmangriff über deckungsloses Gelände zu wagen. «Er schüttelte den Kopf.»Nein, wenn er hier ist, wenn er’s auf Sie abgesehen hat, Doktor, bietet sich ihm nur eine Möglichkeit. «Keegan stand auf und hängte sich seine MP über die Schulter.»Er muss durchs Labyrinth kommen.«

Spalko, der mit seinen Leuten im Labyrinth unterwegs war, wurde mit jeder Biegung und Abzweigung nervöser. Für einen Angriff aufs Kloster bildete das Labyrinth den einzig logischen Zugang, was andererseits bedeuten konnte, dass sie geradewegs in einen Hinterhalt marschierten.

Ein Blick auf seine Hand zeigte ihm, dass der Zwirn zu zwei Dritteln abgerollt war. Inzwischen mussten sie direkt unter dem Kloster oder fast in der Mitte der Anlage angelangt sein. Der Faden bestätigte ihm, dass sie im Labyrinth nicht im Kreis gegangen waren. Er glaubte, an jeder Abzweigung den richtigen Weg gewählt zu haben.

Spalko wandte sich an Sina, flüsterte ihr zu:»Ich wittere einen Hinterhalt. Ich möchte, dass du als Reserve hier bleibst. «Er klopfte leicht auf ihren Rucksack.»Sollte es Schwierigkeiten geben, weißt du, was du zu tun hast.«

Sina nickte, und die drei Männer bewegten sich geduckt weiter. Sie waren gerade erst verschwunden, als sie mehrere kurze Feuerstöße aus Maschinenpistolen hörte. Sina öffnete rasch ihren Rucksack, holte einen Tränengaskanister heraus und folgte ihnen, wobei sie sich an dem Zwirnsfaden orientierte.

Sie roch den beißenden Gestank von Kordit, noch bevor sie die zweite Biegung erreichte. Als sie um die Ecke spähte, sah sie einen Mann ihrer Truppe in einer Blutlache auf dem Felsboden daliegen. Spalko und der zweite Mann wurden durch MP-Feuer festgenagelt. Von ihrem Standort aus konnte sie feststellen, dass es aus zwei verschiedenen Richtungen kam.

Sie zog den Sicherungsstift heraus und warf den Kanister in hohem Bogen über Spalko hinweg. Der Behälter prallte auf, rollte nach links und explodierte leise zi-schend. Spalko schlug seinem Mann auf den Rücken, und die beiden zogen sich vor den Schwaden des Tränengases zurück.

Sie konnten Husten und Würggeräusche hören. Unterdessen hatten sie alle drei ihre Gasmasken aufgesetzt und waren zu einem zweiten Angriff bereit. Spalko ließ einen weiteren Kanister nach rechts rollen, der dafür sorgte, dass das von dort kommende Feuer verstummte. Leider jedoch erst, nachdem sein letzter Mann von drei Kugeln in Brust und Hals getroffen worden war. Er brach mit Blutblasen zwischen seinen schlaffen Lippen zusammen.

Spalko und Sina trennten sich, stießen nach links und rechts vor und erledigten die kampfunfähigen Söldner — jeweils zwei — mit wirksamen Feuerstößen aus ihren Maschinenpistolen. Beide sahen die Treppe zur selben Zeit und hielten darauf zu.

Sean Keegan packte Felix Schiffer, noch während er seinen Männern auf den Mauern zubrüllte, ihre Stellungen zu räumen und ins Hauptgebäude des Klosters zurückzukehren, wohin er seinen verängstigten Schutzbefohlenen jetzt schleppte.

Er hatte augenblicklich reagiert, als er den ersten Hauch von Tränengas wahrgenommen hatte, das aus dem Labyrinth unter ihnen aufstieg. Sekunden später hörte er nochmals hämmerndes MP-Feuer, danach herrschte tödlich hallende Stille. Als die beiden Männer hereingestürmt kamen, dirigierte er sie zu der Steintreppe, auf der er seine anderen Leute ins Labyrinth hinuntergeschickt hatte, wo sie Spalko auflauern sollten.

Keegan hatte jahrelang in der IRA gekämpft, bevor er sich als Söldner selbstständig gemacht hatte, deshalb wa-ren ihm Situationen vertraut, in denen er in der Unterzahl und an Feuerkraft unterlegen war. Tatsächlich genoss er solche Situationen, er betrachtete sie als Herausforderungen, die überwunden werden mussten.

Aber aus dem Hauptgebäude drang inzwischen Rauch in riesigen dichten Schwaden, aus denen jetzt Feuerstöße aus Maschinenpistolen hämmerten. Seine Männer hatten keine Chance — sie wurden niedergemäht, bevor sie die Killer auch nur identifizieren konnten.

Auch Keegan wartete nicht ab, bis er sie identifizieren konnte. Er schleppte Dr. Schiffer mit sich, hastete auf der Suche nach einem Fluchtweg durch ein Labyrinth aus kleinen, dunklen und stickigen Räumen.

Spalko und Sina trennten sich wie abgesprochen, sobald sie aus den dichten Schwaden der Rauchbombe herauskamen, die sie durch die Tür oben an der Steintreppe geworfen hatten. Spalko durchsuchte methodisch einen Raum nach dem anderen, während Sina einen Ausgang ins Freie suchte.

Jetzt war es Spalko, der Schiffer und Keegan als Erster entdeckte und sie anrief, was mit einem Feuerstoß aus einer Maschinenpistole beantwortet wurde, sodass er hinter einem massiven Schrank in Deckung gehen musste.

«Sie kommen hier niemals lebend raus!«, rief er dem Söldner zu.»Ich will nicht Sie — ich will Schiffer.«

«Das ist das Gleiche«, rief Keegan zurück.»Ich habe einen Auftrag übernommen und werde ihn ausführen.«

«Wozu?«, fragte Spalko.»Ihr Auftraggeber Laszlo Molnar ist tot. Janos Vadas ebenfalls.«

«Ich glaube Ihnen nicht«, antwortete Keegan. Als Schiffer wimmerte, hielt er ihm grob den Mund zu.

«Wie habe ich Sie Ihrer Meinung nach aufgespürt?«, fuhr Spalko fort.»Diese Adresse habe ich mit Gewalt aus Molnar rausgeholt. Mann, geben Sie auf! Sie wissen, dass nur er gewusst hat, wo Sie sind.«

«Sie sind alle tot«, sagte Spalko und glitt langsam vorwärts.»Wer soll den Rest Ihres Honorars zahlen? Übergeben Sie mir Schiffer, dann zahle ich Ihnen, was Sie noch zu bekommen haben, und lege einen Bonus drauf. Na, was halten Sie davon?«

Sina hatte sich von der anderen Seite angeschlichen. Keegan wollte gerade antworten, als sie ihm eine Kugel in den Hinterkopf jagte.

Die dadurch ausgelöste Explosion von Blut und Gehirnmasse ließ Dr. Schiffer winseln wie einen geprügelten Hund. Als sein letzter Beschützer zusammenbrach, sah er Stepan Spalko auf sich zukommen. Er warf sich herum… und lief geradewegs Sina in die Arme.

«Für Sie gibt’s keinen Ausweg mehr, Felix«, sagte Spalko.»Das sehen Sie doch ein?«

Schiffer starrte Sina mit weit aufgerissenen Augen an. Als er zu schnattern begann, hob sie eine Hand und strich ihm das Haar aus der feuchten Stirn, als sei er ein fieberkrankes Kind.

«Früher waren Sie mein«, sagte Spalko, als er über Keegans Leiche hinwegstieg.»Und jetzt sind Sie’s wieder. «Aus seinem Rucksack holte er zwei Gegenstände. Sie bestanden aus Edelstahl, Glas und Titan.

«O Gott!«Schiffers Stöhnen kam ebenso von Herzen, wie es unfreiwillig war.

Sina lächelte Schiffer an und küsste ihn auf beide Wangen, als seien sie alte Freunde, die nach langer Zeit endlich wieder vereint waren. Er brach sofort in Tränen aus.

Spalko genoss die Wirkung des Diffusors NX 20 auf seinen Erfinder sichtlich und fragte:»So gehören die beiden Hälften zusammen, nicht wahr, Felix?«Zusammengesetzt war der NX 20 nicht größer als die vor Spalkos Brust hängende Maschinenpistole.»Nachdem ich jetzt die richtige Ladung dafür habe, müssen Sie mich in seinem Gebrauch unterweisen.«

«Nein«, sagte Schiffer mit zittriger Stimme.»Nein, nein, nein!«

«Nur keine Sorge«, flüsterte Sina, als Spalko Dr. Schiffer am Genick packte, wobei den Wissenschaftler ein weiterer Schauder durchlief.»Sie sind jetzt in besten Händen.«

Die Treppe war nur kurz, aber für Bourne war dieser Abstieg viel schmerzhafter als erwartet. Bei jedem Schritt ließ die Rippenprellung, die er Chans Tritt verdankte, Schmerzwogen durch seinen Körper fluten. Was er jetzt brauchte, waren ein heißes Bad und ein paar Stunden Schlaf — doch beides konnte er sich noch nicht leisten.

In Annakas Wohnung zeigte er ihr die Kratzer an der Klavierbank und hörte sie leise fluchen. Gemeinsam schoben sie die Bank unter die Deckenleuchte, und Bourne stieg hinauf.

«Siehst du was?«

Er schüttelte den Kopf.»Was soll ich sehen? Ich verstehe überhaupt nichts.«

Er stieg von der Bank, trat an den Sekretär und kritzelte auf einen Notizblock: Hast du eine Stehleiter?

Sie sah ihn seltsam an, nickte jedoch.

Dann hol sie, schrieb er.

Als sie die Leiter ins Wohnzimmer brachte, stieg er hoch genug hinauf, um in die Milchglasschale der Deckenleuchte blicken zu können. Und tatsächlich entdeckte er etwas. Er griff hinein, angelte den winzigen Gegenstand mit zwei Fingern heraus. Dann stieg er von der Leiter und hielt ihn Annaka auf der flachen Hand hin.

«Was…?«Sie verstummte, als er nachdrücklich den Kopf schüttelte.

«Hast du eine Kombizange?«, fragte er.

Wieder der seltsame Blick, bevor Annaka einen nicht sehr tiefen Schrank öffnete. Dann gab sie ihm die Zange. Er legte das winzige Quadrat zwischen die geriffelten Enden und drückte kräftig zu. Das Quadrat zersplitterte.

«Ein elektronischer Minisender«, sagte er.

«Was?«Neugier hatte sich in Verständnislosigkeit verwandelt.

«Deshalb ist der Mann vom Dach hier eingebrochen — um die Wanze in der Lampe zurückzulassen. Er hat uns nicht nur beobachtet, sondern auch belauscht.«

Sie sah sich in dem behaglichen Raum um und fuhr zusammen.»Großer Gott, jetzt werde ich mich hier nie mehr richtig wohl fühlen. «Dann wandte sie sich an Bourne.»Was will er überhaupt? Wieso versucht er, jedes unserer Worte aufzuzeichnen?«Sie schnaubte, als ihr die Erklärung einfiel.»Alles wegen Dr. Schiffer, stimmt’s?«

«Möglich«, sagte Bourne.»Ich weiß es nicht. «Ihm wurde plötzlich schwindlig, und er sank einer Ohnmacht nahe aufs Sofa.

Annaka lief ins Bad, um ein Desinfektionsmittel und Verbandzeug zu holen. Er lehnte den Kopf nach hinten in die Kissen und versuchte, nicht mehr daran zu den-ken, was vorhin passiert war. Er musste sich abschotten, seine Konzentration bewahren und fest im Auge behalten, was als Nächstes getan werden musste.

Als sie zurückkam, trug sie ein Tablett mit einer flachen Porzellanschale mit heißem Wasser, einem Schwamm, Papierhandtüchern, einem Eisbeutel, einer Flasche Desinfektionslösung, Verbandzeug und einem Glas Wasser.

«Jason?«

Er öffnete die Augen.

Sie gab ihm das Glas. Als Bourne es geleert hatte, hielt sie ihm den Eisbeutel hin.»Deine Backe ist schon ganz dick.«

Er legte den Eisbeutel darauf und fühlte, wie die Schmerzen sich langsam in Taubheit verwandelten. Als er jedoch rasch Luft holte, spürte er einen Stich in der Seite, weil er den Oberkörper verdrehte, um das Glas auf den Beistelltisch zu stellen. Er drehte sich langsam und steif wieder um und dachte an Joshua, der zwar nicht wirklich, aber in seiner Erinnerung wiederauferstanden war. Vielleicht empfand er deshalb so blinde Wut gegen Chan, denn Chan hatte die Gespenster einer schrecklichen Vergangenheit wachgerufen und damit ein Wesen ins Licht gerückt, das David Webb so lieb war, dass es ihn in seinen beiden Persönlichkeiten verfolgt hatte.

Als er Annaka beobachtete, während sie sein Gesicht von angetrocknetem Blut säuberte, erinnerte er sich an ihren kurzen Dialog im Cafe. Er hatte von ihrem Vater gesprochen, und sie hatte fast die Nerven verloren, und er wusste jetzt, dass er dieses Thema nochmals anschneiden musste. Er war ein Vater, der durch Gewalt seine Familie verloren hatte. Sie war eine Tochter, die durch Gewalt ihren Vater verloren hatte.

«Annaka«, begann er ruhig,»ich weiß, dass dieses Thema für dich schmerzlich ist, aber ich wüsste sehr gern mehr über deinen Vater. «Er merkte, dass sie sich versteifte, sprach aber trotzdem weiter.»Kannst du über ihn reden?«

«Was möchtest du denn wissen? Wie Alexej und er sich kennen gelernt haben, nehme ich an.«

Sie konzentrierte sich auf ihre Tätigkeit, aber er fragte sich, ob sie seinem Blick absichtlich auswich.

«Ich dachte mehr an dein Verhältnis zu ihm.«

Ein Schatten glitt über ihr Gesicht.»Das ist eine seltsame — und recht intime — Frage, findest du nicht auch?«

«Das hängt mit meiner Vergangenheit zusammen, weißt du. «Bourne zuckte hilflos mit den Schultern. Er konnte weder lügen noch die volle Wahrheit sagen.

«An die du dich nur bruchstückhaft erinnerst. «Sie nickte.»Ja, ich verstehe. «Als sie den Schwamm ausdrückte, verfärbte das Wasser in der Schale sich rosa.»Also, Janos Vadas war der perfekte Vater. Er hat mich als Baby gewickelt, mir später Gutenachtgeschichten vorgelesen, mir vorgesungen, wenn ich krank war. Er war an jedem Geburtstag und zu allen speziellen Anlässen da. Ich weiß ehrlich nicht, wie er das geschafft hat. «Sie drückte den Schwamm erneut aus; Bourne hatte wieder zu bluten begonnen.»Ich habe für ihn immer an erster Stelle gestanden. Unverrückbar. Und er ist nie müde geworden, mir zu sagen, wie sehr er mich liebte.«

«Was für ein glückliches Kind du warst!«

«Glücklicher als alle meine Freundinnen, glücklicher als alle, die ich kenne. «Sie konzentrierte sich noch mehr darauf, die Blutung zu stillen.

Bourne war in eine Art Halbtrance verfallen. Er dachte an Joshua — und den Rest seiner Familie —, an all die Dinge, die er nie mehr mit ihnen hatte tun können, und an die vielen kleinen Augenblicke, an die man sich später erinnert, weil sie einem aus den Jahren einer frühen Kindheit im Gedächtnis geblieben sind.

Nachdem es Annaka schließlich gelungen war, die Blutung zu stillen, warf sie einen Blick unter den Eisbeutel. Ihr Gesichtsausdruck verriet nicht, was sie sah. Sie ließ sich so zurücksinken, dass sie neben dem Sofa auf dem Teppich saß, und legte die Hände in den Schoß.

«Du solltest Jacke und Hemd ausziehen.«

Er zog verständnislos die Augenbrauen hoch.

«Damit wir uns deine Rippen ansehen können. Ich habe gesehen, wie du zusammengezuckt bist, als du das Glas abgestellt hast.«

Sie streckte eine Hand aus, und Bourne ließ den Eisbeutel hineinfallen. Annaka wog ihn prüfend in der Hand.»Der muss nachgefüllt werden.«

Als sie zurückkam, saß er mit nacktem Oberkörper da. Eine erschreckend große Prellung in der Herzgegend war bereits rot angeschwollen und sehr druckempfindlich, als ihre Fingerspitzen sie berührten.

«Mein Gott, du brauchst ein Eisbad!«, rief sie aus.

«Wenigstens ist nichts gebrochen.«

Sie warf ihm den Eisbeutel zu. Er schnappte unwillkürlich nach Luft, als er ihn auf die Schwellung legte. Annaka ging wieder neben ihm in die Hocke und betrachtete ihn abermals prüfend. Er wünschte sich, ihre Gedanken lesen zu können.

«Du kannst bestimmt nicht anders, als dich an deinen Sohn zu erinnern, der so jung umgekommen ist.«

Bourne nickte trübselig.»Das ist’s eben. Der Mann auf dem Dach — der Kerl, der uns bespitzelt — ist mir aus Amerika hierher gefolgt. Er sagt, dass er mich ermorden will, aber ich weiß, dass er lügt. Ich soll ihn hier zu jemandem führen, deshalb bespitzelt er uns.«

Ihre Miene verfinsterte sich.»An wen will er herankommen?«

«An einen Mann namens Spalko.«

Sie war sichtlich überrascht.»Stepan Spalko?«

«Ganz recht. Kennst du ihn?«

«Natürlich kenne ich ihn dem Namen nach«, sagte sie.»In Ungarn kennt ihn jeder. Er ist der Präsident von Humanistas, Ltd. der weltweit tätigen Hilfsorganisation. «Sie runzelte die Stirn.»Jetzt bin ich wirklich besorgt, Jason. Dieser Mann ist gefährlich. Wenn er versucht, an Stepan Spalko heranzukommen, sollten wir die Polizei verständigen.«

Bourne schüttelte den Kopf.»Was sollen wir ihr erzählen? Dass wir glauben, ein Mann, den wir nur als Chan kennen, wolle mit Stepan Spalko in Verbindung treten? Wir wissen nicht einmal, weshalb. Und weißt du, was die Polizei fragen würde? >Warum greift dieser Chan nicht einfach nach dem Telefonhörer und ruft ihn an?<«

«Dann sollten wir wenigstens jemanden bei Huma-nistas anrufen.«

«Annaka, bevor ich weiß, was hier vorgeht, möchte ich mit niemandem Verbindung aufnehmen. Das würde die Situation, die wegen zahlreicher Fragen, auf die ich keine Antwort weiß, schon kompliziert genug ist, nur noch verworrener machen.«

Er stand auf, ging an den Schreibsekretär und setzte sich vor ihren Laptop.»Ich habe dir erzählt, dass ich eine Idee habe. Darf ich deinen Computer benützen?«

«Natürlich«, sagte sie und stand ebenfalls auf.

Während Bourne den Computer einschaltete, stellte sie die Schale wieder aufs Tablett, legte den Schwamm und alles andere dazu und tappte damit hinaus. Als er online ging, hörte er in der Küche Wasser laufen. Er rief die Webseite der US-Regierung auf, folgte den dort ver-zeichneten Links und hatte eben die gesuchte Seite gefunden, als Annaka aus der Küche zurückkam.

Die Agency hatte eine Unmenge von öffentlichen Seiten, die jeder aufrufen konnte, der einen Internetzugang besaß, aber es gab auch ein Dutzend weiterer Seiten, verschlüsselt und mit Passwörtern geschützt, die Bestandteil des sagenhaften CIA-Intranets waren.

Annaka merkte, dass er äußerst konzentriert arbeitete.»Was tust du?«Sie stellte sich hinter ihn und sah zu. Im nächsten Moment riss sie erstaunt die Augen auf.»Was zum Teufel machst du da?«

«Was du siehst«, antwortete er,»dringe ich gerade in die Zentraldatenbank der CIA ein.«

«Aber wie kannst du.«

«Frag mich nicht«, sagte Bourne, während seine Finger über die Tasten flogen.»Glaub mir, es ist besser, wenn du’s nicht weißt.«

Alex Conklin hatte stets Zugang durch den Vordereingang gehabt, aber das hatte daran gelegen, dass er jeden Montagmorgen um sechs Uhr das neueste Passwort erhalten hatte. Von Deron, dem Künstler und Meisterfälscher, hatte Bourne die hohe Kunst des Eindringens in Datenbanken von US-Regierungsbehörden gelernt. In seinem Beruf war das eine unentbehrliche Fertigkeit. Das Problem war, dass der Firewall, der das CIA-Netzwerk vor unerwünschtem Zugriff schützte, besonders schwer zu überwinden war. Das wöchentlich wechselnde Passwort war zusätzlich mit einem flexiblen Algorithmus gekoppelt. Aber Deron hatte Bourne gezeigt, wie man das System überlisten konnte. Er spiegelte dem Server vor, er kenne das Passwort, bis der Rechner es ihm zur Verfügung stellte.

Überwinden ließ der Firewall sich durch den Algorithmus, der eine Variante des Kern-Algorithmus war, mit dem der Inhalt der Zentraldatenbank verschlüsselt wurde. Die Formel kannte Bourne, weil Deron darauf bestanden hatte, dass er sie auswendig lernte.

Auf der CIA-Seite öffnete sich ein Fenster, das Bourne aufforderte, das aktuelle Passwort einzugeben. Stattdes-sen tippte er den Algorithmus, der aus weit mehr Buchstaben und Zahlen bestand, als das Kästchen aufnehmen konnte. Andererseits erkannte das Programm nach der dritten Schlüsselgruppe, was hier eingegeben wurde, und war vorübergehend perplex. Der Trick war, hatte Deron gesagt, den gesamten Algorithmus einzugeben, bevor das Programm merkte, was man tat, und einem den Zugang verweigerte, indem es sich abschaltete. Die Formelreihe war sehr lang; man durfte keinen Fehler machen oder auch nur einen Augenblick zögern, und Bourne begann zu schwitzen, weil er nicht glauben konnte, dass die Software so lange blockiert bleiben würde.

Schließlich gelang es ihm jedoch, den Algorithmus einzugeben, bevor das Programm sich abschaltete. Das Fenster verschwand, das Design des Bildschirms veränderte sich.

«Ich bin drin«, sagte Bourne aufatmend.

«Unglaublich«, flüsterte Annaka fasziniert.

Bourne navigierte zur Entwicklungsabteilung für nichttödliche taktische Waffen. Er gab den Namen Schiffer ein, aber das angezeigte spärliche Material war enttäuschend. Nichts über Schiffers gegenwärtige Arbeit, nichts über seinen Werdegang. Hätte Bourne es nicht besser gewusst, hätte er tatsächlich glauben müssen, Dr. Felix Schiffer sei irgendein unbedeutender Wissenschaftler, nur ein kleines Rädchen in der Entwicklungsabteilung.

Doch es gab noch eine weitere Möglichkeit. Wie er von Deron gelernt hatte, benützte er den Hintereingang, den auch Conklin benützt hatte, um sich darüber auf dem Laufenden zu halten, was sich im Verteidigungsministerium hinter den Kulissen ereignete.

Sobald er drin war, rief er die DARPA-Seite auf und navigierte zum Archiv. Zu seinem Glück arbeiteten die staatlichen Computerfachleute notorisch langsam, wenn es darum ging, veraltete Dateien zu löschen. Schiffers Personalakte war noch da und enthielt einiges über seinen Werdegang. Er hatte am MIT studiert und gleich nach der Promotion bei einem Pharmakonzern ein eigenes Labor bekommen. Schon nach weniger als einem Jahr hatte er sich selbstständig gemacht und einen Kollegen, einen Dr. Peter Sido, mitgenommen, mit dem er fünf Jahre lang zusammengearbeitet hatte, bevor er sich von der DARPA hatte anwerben lassen. Weshalb er seine Selbstständigkeit aufgegeben hatte, um zum Staat zu gehen, wurde nicht erläutert, aber so waren manche Wissenschaftler eben. Sie waren für eine normale Existenz so ungeeignet wie viele Häftlinge, die nach der Entlassung aus dem Gefängnis sofort die nächste Straftat verübten, nur um wieder in eine klar definierte Welt zurückgeschickt zu werden, in der ihnen jegliche Verantwortung abgenommen wurde.

Bourne las weiter und entdeckte, dass Schiffer im Defense Sciences Office gearbeitet hatte, das — was nichts Gutes ahnen ließ — mit Biowaffensystemen befasst war. In seiner Zeit bei der DARPA hatte Dr. Schiffer an einem Verfahren gearbeitet, das es ermöglichen sollte, mit Milzbranderregern infizierte Räume biologisch zu» reinigen«.

Doch als er weiterblätterte, konnte er keine näheren Angaben über Schiffers Arbeit finden. Was ihn beunruhigte, war die Tatsache, dass diese Informationen keine Erklärung für Conklins starkes Interesse an Schiffer lieferten.

Annaka sah ihm weiter über die Schulter.»Lässt sich darin irgendein Hinweis auf Dr. Schiffers gegenwärtiges Versteck finden?«

«Nein, das glaube ich nicht.«

«Also gut. «Ihre Hände umfassten seine Schultern, drückten sie leicht.»Der Kühlschrank ist leer, und wir müssen beide etwas essen.«

«Ich denke, ich bleibe lieber hier, wenn ich darf, und ruhe mich ein bisschen aus.«

«Du hast Recht. In dieser Verfassung kannst du schlecht draußen rumlaufen. «Sie lächelte, als sie ihren Mantel anzog.»Ich gehe nur rasch um die Ecke und hole uns etwas zu essen. Möchtest du etwas Bestimmtes?«

Er schüttelte den Kopf und sah ihr nach, als sie zur Tür ging.»Annaka, sei bitte vorsichtig.«

Sie drehte sich um, zog ihre Pistole halb aus ihrer Umhängetasche.»Keine Sorge, mir passiert nichts. «Sie öffnete die Wohnungstür.»Bin in ein paar Minuten wieder da.«

Bourne hörte sie hinausgehen, aber seine Aufmerk-samkeit galt bereits wieder dem Bildschirm. Er spürte, dass sein Pulsschlag sich beschleunigte, und er versuchte erfolglos, sich zu beruhigen. Trotz seiner ernsten Absicht zögerte er noch. Er wusste, dass er weitermachen musste, aber er merkte auch, dass sein Vorhaben ihn ängstigte.

Während er seine Hände beobachtete, als gehörten sie einem anderen, verbrachte er die folgenden fünf Minuten damit, den Firewall der U.S. Army zu durchbrechen. An einer Stelle wäre er fast nicht weitergekommen. Das IT-Team des Militärs hatte den Firewall vor kurzem durch eine dritte Ebene verstärkt, von der Deron ihm nichts gesagt oder die er wahrscheinlich selbst noch nicht gesehen hatte. Seine Finger schwebten über der Tastatur wie Annakas über den Klaviertasten, und er zögerte einen Augenblick lang. Noch kannst du umkehren, sagte er sich, das wäre keine Schande. In den vergangenen Jahren hatte er stets das Gefühl gehabt, alles was mit seiner ersten Familie zusammenhing, auch die in den Datenbanken der U.S. Army über sie gespeicherten Informationen, sei für ihn tabu. Er litt schon genug unter ihrem Tod, wurde von Schuldgefühlen gepeinigt, weil er ungefährdet in einer Besprechung gesessen hatte, als der Tiefflieger sie im Sturzflug mit einem Geschosshagel eingedeckt hatte.

Bourne konnte nicht anders: Er musste sich erneut selbst quälen, indem er sich ihre letzten von Schrecken erfüllten Minuten vorstellte. Als Kind des Krieges musste Dao die durch den heißen Sommerhimmel herandröhnenden Triebwerke natürlich gehört haben. Anfangs würde sie die aus der weiß glühenden Sonne kommende Maschine nicht gesehen haben, aber als ihr Röhren anschwoll, ihre Metallmasse größer wurde als die Sonne, hatte sie zweifellos die Gefahr erkannt. Noch während Entsetzen ihr Herz erfüllte, würde sie versucht haben, ihre Kinder an sich zu reißen in dem vergeblichen Versuch, sie mit ihrem Leib vor den Kugeln zu schützen, die nun das schlammige Wasser des Flusses aufspritzen ließen. »Joshua! Alyssa! Schnell zu mir!«, würde sie gekreischt haben, als sei sie in der Lage, sie vor dem zu bewahren, was kommen würde.

Vor Annakas Computer sitzend merkte Bourne, dass er weinte. Einige Augenblicke ließ er seinen Tränen freien Lauf wie seit vielen Jahren nicht mehr. Dann schüttelte er sich, wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel ab und machte weiter, bevor er sich die Sache anders überlegen konnte.

Er fand eine Möglichkeit, die letzte Ebene des Firewalls zu umgehen, und war nach fünf Minuten qualvoller Arbeit endlich eingeloggt. Bevor er in seinem Entschluss wankend werden konnte, rief er das Sterberegister auf und gab in den dafür vorgesehenen Feldern die Namen und das Todesdatum von Dao Webb, Alyssa Webb und Joshua Webb ein. Er starrte die Namen an und sagte sich: Das war meine Familie, Wesen aus Fleisch und Blut, die geweint und gelacht, mich umarmt und mich» Darling «und» Daddy «genannt haben. Aber was waren sie jetzt? Namen auf einem Bildschirm. Statistiken in einer Datenbank. Das Herz drohte ihm zu brechen, und er spürte wieder einen Anflug von Wahnsinn wie im ersten Schmerz nach ihrem Tod. Das darf sich nicht wiederholen, dachte er. Sonst zerbrichst du daran. Voll namenloser Trauer drückte er die Eingabetaste. Er hatte keine andere Wahl; es gab kein Zurück mehr. Niemals zurückgehen — das war sein Motto seit dem Augenblick gewesen, in dem Alex Conklin ihn angeworben und ihn erst zu einem anderen David Webb, dann zu Jason Bourne gemacht hatte. Weshalb hörte er dann noch immer ihre Stimmen?

«Darling, du hast mir so gefehlt!«

«Daddy, du bist wieder da!«

Diese Erinnerungen, die durch die durchlässige Barriere der Zeit nach ihm griffen, hielten ihn in ihrem Netz gefangen, sodass Bourne nicht gleich darauf reagierte, was auf dem Bildschirm erschien. Er starrte ihn über eine halbe Minute lang an, ohne die entsetzliche Anomalie bewusst wahrzunehmen.

Er sah, was er gehofft hatte, nie sehen zu müssen: Fotos von seiner geliebten Frau Dao, Brust und Schultern von Kugeln durchsiebt, ihr Gesicht von traumatischen Wunden grotesk entstellt. Auf der zweiten Seite sah er ähnliche Fotos von Alyssa, deren armer Körper wegen seiner Verwundbarkeit, seiner geringeren Größe noch schlimmer zugerichtet war. Bourne saß vor Schmerz und Entsetzen wie gelähmt vor diesen Schreckensbildern. Aber er musste weitermachen. Noch eine Seite, noch ein Satz Fotos, um die Tragödie ganz zu erleben.

Bourne scrollte zur dritten Seite weiter und machte sich darauf gefasst, ähnliche Aufnahmen von Joshua zu sehen. Nur gab es keine.

Aus Verblüffung tat er einen Augenblick lang nichts. Erst glaubte er an eine Computerpanne, durch die er unabsichtlich auf eine andere Archivseite geraten war. Aber nein, der Name stand da: Joshua Webb. Darunter folgten jedoch Angaben, die sich wie glühende Nadeln in sein Bewusstsein bohrten:»Drei Teile von Kleidungsstücken wie unten aufgeführt, ein Schuh (Sohle und Absatz fehlen), Fundort: zehn Meter von den Leichen von Dao und Alyssa Webb entfernt. Joshua Webb nach einstündi-ger Suche für tot erklärt. KLG.«

KLG. Die bei der Army übliche Abkürzung schrie ihn förmlich an. Keine Leiche gefunden. Bourne fühlte eine kalte Hand nach seinem Herzen greifen. Sie hatten eine Stunde nach Joshua gesucht — nur eine Stunde lang? Und warum hatte ihm das niemand gesagt? Er hatte drei Särge beisetzen lassen, hatte, von Schmerz, Reue und Schuldgefühlen fast vernichtet, am Grab seiner Familie gestanden. Und die ganze Zeit über hatten sie’s gewusst, die Scheißkerle hatten’s gewusst. Er lehnte sich zurück. Sein Gesicht war kreidebleich, seine Hände zitterten. In seinem Herzen wütete ein Zorn, den er nicht beherrschen konnte.

Er dachte an Joshua; er dachte an Chan.

Sein Intellekt stand in Flammen, wurde von der schrecklichen Möglichkeit, die er verdrängt hatte, seit er den aus Stein geschnittenen Buddha an Chans Hals gesehen hatte, fast überwältigt. Was war, wenn Chan wirklich Joshua war? Dann war er eine Tötungsmaschine, ein Monster geworden. Bourne wusste nur allzu gut, wie leicht man in den Dschungeln Südostasiens den Verstand verlieren und zum Killer werden konnte. Aber es gab natürlich noch eine andere Möglichkeit, zu der sein Verstand logischerweise neigte und an die er sich klammerte: Die Verschwörung mit dem Ziel, Chan als seinen Joshua auszugeben, reichte erheblich weiter und war komplexer, als er ursprünglich geglaubt hatte. Dann waren alle diese Angaben gefälscht, und die Verschwörung reichte bis in höchste Regierungskreise hinein. Aber seine Konzentration auf die üblichen Verschwörungstheorien bewirkte seltsamerweise nur, dass er noch desorientierter wurde.

Vor seinem inneren Auge erschien Chan, der ihm den aus Stein geschnittenen Buddha hinhielt und dabei sagte: »Den hast du mir geschenkt — ja, das hast du getan. Und dann hast du mich verlassen, damit ich im Dschungel…«

Bourne spürte plötzlich, dass ihm schlecht wurde, und als sein Magen wütend rebellierte, sprang er von seinem Platz vor dem Laptop auf, hastete, ohne auf die Schmerzen zu achten, durchs Wohnzimmer und lief ins Bad, wo er sich übergab, bis sein Magen restlos leer war.

Im Lageraum tief im Inneren der CIA-Zentrale griff der Offizier vom Dienst, der einen Bildschirm beobachtete, nach dem Telefon und wählte eine besondere Nummer. Er wartete einen Augenblick, bis eine Computerstimme» Sprechen Sie!«sagte. Der Wachhabende verlangte den Direktor. Seine Stimme wurde analysiert und mit dem Dienstplan verglichen. Erst dann wurde das Gespräch weitervermittelt, und eine Männerstimme sagte:»Bitte warten Sie. «Im nächsten Augenblick meldete sich die unverkennbar knurrige Stimme des CIA-Direktors.

«Ich dachte, Sie sollten wissen, Sir, dass ein interner Alarm ausgelöst worden ist. Jemand hat den Firewall der Army geknackt und ihr Sterberegister nach folgenden Personen abgefragt: Dao Webb, Alyssa Webb, Joshua Webb.«

Darauf folgte eine kurze, unangenehme Pause.»Sagten Sie Webb? Sie wissen bestimmt, dass der Name Webb war?«

Der plötzliche Ernst im Tonfall des Direktors ließ dem jungen Offizier vom Dienst den Schweiß auf die Stirn treten.»Ja, Sir.«

«Wo befindet sich dieser Hacker?«

«In Budapest, Sir.«

«Hat das Alarmsystem funktioniert? Hat es die Absenderadresse ermittelt?«

«Ja, Sir. Nummer 106–108 Fo utca.«

In seinem Dienstzimmer lächelte der Alte grimmig. Rein aus Zufall hatte er eben Martin Lindros’ letzten Bericht gelesen. Die Franzmänner hatten jetzt offenbar das gesamte Material vom Unfallort, an dem Jason Bourne umgekommen sein sollte, durchgesiebt, ohne eine Spur menschlicher Überreste zu finden. Nicht mal einen Backenzahn. Also gab es trotz der Zeugenaussage der Sure-te-Agentin keine amtliche Bestätigung dafür, dass Bourne wirklich tot war. Der Direktor schlug wütend mit der Faust auf seinen Schreibtisch. Bourne war ihnen wieder einmal entwischt. Aber trotz seines Zorns und seiner Frustration überraschte ihn das nicht sonderlich. Schließlich war Bourne von dem besten Mann ausgebildet worden, den die Agency hervorgebracht hatte. Auch Alex Conklin hatte mehrmals seinen eigenen» Tod «inszeniert, allerdings nie auf so spektakuläre Weise.

Natürlich, sagte der Direktor sich, war es immer möglich, dass ein anderer als Jason Bourne den Firewall der U.S. Army überwunden hatte, um an die moderigen Leichenakten einer Frau und ihrer zwei Kinder heranzukommen, die nicht einmal beim Militär gewesen und vermutlich nur einer Hand voll noch lebender Menschen bekannt waren. Aber wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass das zutraf?

Nein, dachte er zunehmend aufgeregt, Bourne ist nicht bei diesem Unfall bei Paris umgekommen. Er ist gesund und munter in Budapest — wieso dort? — und hat ausnahmsweise einen Fehler gemacht, den wir nutzen können. Warum er sich für die Leichenakten seiner ersten Familie interessierte, konnte der Direktor nicht beurteilen, und es war ihm auch egal, solange Bournes Wissbegierde ihnen die Chance eröffnete, ihn endlich zu liquidieren.

Der CIA-Direktor griff nach dem Telefonhörer. Alles Weitere hätte er einem Untergebenen überlassen können, aber er wollte sich das Vergnügen gönnen, gerade diese Liquidierung persönlich anzuordnen. Jetzt hab ich dich, du Hundesohn, dachte er, als er eine Auslandsnummer wählte.

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