Kapitel sechsundzwanzig

Chan betrat das Houdini, ein Geschärt für Zauberartikel und Logikspiele im Gebäude 87 Vaci utca. Die Regale und Vitrinen der nicht allzu großen Boutique quollen über von schwarzen Umhängen, Zylindern, Zauberkästen und magischen Würfeln aller Art. Kinder jeden Alters, die ihre Mütter oder Väter im Schlepp hatten, streiften durch die Gänge und zeigten mit staunend aufgerissenen Augen auf das fantastische Angebot.

Chan wandte sich an eine der gestressten Verkäuferinnen und sagte ihr, er wolle zu Oszkar. Sie fragte ihn nach seinem Namen, dann hob sie einen Telefonhörer ab und wählte die Nummer einer Nebenstelle. Nach einigen kurzen Sätzen legte sie auf und schickte Chan durch den Laden nach hinten.

Durch eine Tür in der Rückwand gelangte er in einen winzigen Vorraum, der von einer nackten Glühbirne erhellt wurde. Die Wände waren von unbestimmbarer Farbe, und die Luft roch nach gekochtem Kohl. Chan stieg eine eiserne Wendeltreppe hinauf und gelangte ins Büro im ersten Stock. Die Wände standen voller Bücher — hauptsächlich Erstausgaben von Zauberbüchern und Biografien und Memoiren von berühmten Zauberern und Entfesslungskünstlern. An der Wand über einem alten Schreibtisch mit Rollverschluss hing ein signiertes Foto von Harry Houdini. Der alte Orientteppich auf den Bodendielen hätte noch immer unbedingt gereinigt werden müssen, und der riesige thronartige Lehnsessel mit der hohen Rückenlehne behauptete weiter seinen Ehrenplatz hinter dem Schreibtisch.

Oszkar saß in genau derselben Haltung da wie vor einem Jahr, als Chan ihn zuletzt besucht hatte. Er war ein birnenförmiger Mann mittleren Alters mit gewaltigem Backenbart und einer Knollennase. Als Chan auf der Schwelle erschien, stand er auf, kam hinter dem Schreibtisch hervor und schüttelte ihm grinsend die Hand.

«Willkommen!«, sagte er und bot Chan mit einer Handbewegung den Besuchersessel an.»Was kann ich für dich tun?«

Chan zählte seinem Kontaktmann auf, was er brauchte. Oszkar schrieb mit, während Chan sprach, und nickte zwischendurch mehrmals wortlos.

Dann sah er auf.»Ist das alles?«Er wirkte enttäuscht, denn er liebte nichts mehr als echte Herausforderungen, und die Beschaffung einer Luftpistole war das gewiss nicht.

«Nicht ganz«, sagte Chan.»Außerdem muss ich ein mit einer Magnetkarte gesichertes Schloss knacken.«

«Das klingt schon viel besser!«Oszkar strahlte jetzt. Er rieb sich die Hände, als er aufstand.»Komm mit, mein Freund.«

Er führte Chan auf einen tapezierten Korridor hinaus, auf dem altmodische Gaslampen zu brennen schienen. Oszkars watschelnder Gang erinnerte an einen Pinguin, aber wenn man erlebte, wie er sich in weniger als neunzig Sekunden aus drei Paar Handschellen befreite, erhielt das Wort Finesse plötzlich eine ganz neue Bedeutung. Osz-kar öffnete eine Tür und ging in seine Werkstatt voraus — ein großer Raum, der durch Werkbänke und Stahltheken unterteilt war. Er führte Chan zu einer Theke und begann, in ihren senkrecht übereinander angeordneten Schubladen herumzuwühlen. Schließlich brachte er einen kleinen Würfel aus Chrom und schwarzem Metall zum Vorschein.

«Alle Magnetschlösser gehen auf, wenn sie stromlos sind, das weißt du, nicht wahr?«Als Chan nickte, fuhr er fort:»Und sie sind alle störungssicher, was bedeutet, dass sie ständig unter Spannung stehen müssen, um zu funktionieren. Wer eines dieser Schlösser einbaut, weiß natürlich, dass jede Unterbrechung der Stromversorgung das Schloss öffnet, deshalb gibt’s immer eine Notstromversorgung, manchmal auch zwei, wenn der Betreffende paranoid genug ist.«

«Dieser Mann ganz sicher«, sagte Chan.

«Also gut«, sagte Oszkar nickend.»Eine Unterbrechung der Stromversorgung kannst du vergessen — das dauert zu lange, und selbst wenn du genügend Zeit hättest, könntest du vielleicht nicht alle Zuleitungen kappen. «Er hob einen Zeigefinger.»Nicht so allgemein bekannt ist allerdings, dass alle Magnetschlösser mit Gleichstrom arbeiten, deshalb. «Er wühlte in einer anderen Schublade, hielt einen weiteren Gegenstand hoch.»Was du brauchst, ist ein tragbares WechselstromVersorgungsteil, das genügend Saft liefert, um jedes Magnetschloss zu knacken.«

Chan griff nach dem Versorgungsteil. Es war schwerer, als es aussah.»Wie funktioniert die Sache?«

«Stell dir vor, dass ein Blitz in ein elektrisches System einschlägt. «Oszkar tippte auf das Versorgungsteil.»Dieses Baby bringt den Gleichstrom lange genug in Unordnung, ohne jedoch einen Kurzschluss zu verursachen, sodass du die Tür öffnen kannst. Nach gewisser Zeit steht die Gleichstromversorgung wieder, und das Schloss ist wieder gesichert.«

«Wie lange habe ich Zeit?«, fragte Chan.

«Das hängt vom Fabrikat und Modell des Magnetschlosses ab. «Oszkar zuckte mit den massigen Schultern.»Schätzungsweise eine Viertelstunde, vielleicht zwanzig Minuten, aber bestimmt nicht länger.«

«Kann ich den Stromstoß nicht einfach wiederholen?«

Oszkar schüttelte den Kopf.»Damit würdest du das Magnetschloss ziemlich sicher in verriegelter Stellung einfrieren und müsstest die Tür aufbrechen, um wieder herauszukommen. «Er lachte, schlug Chan auf den Rücken.»Keine Sorge, ich habe Vertrauen zu dir!«

Chan sah ihn fragend an.»Seit wann hast du zu irgendwas Vertrauen?«

«Recht hast du. «Oszkar legte ihm ein kleines Reißverschlussetui aus Leder hin.»Kunstfertigkeit ist immer besser als Vertrauen.«

Um Punkt zwei Uhr fünfzehn isländischer Zeit verstauten Arsenow und Sina die sorgfältig in Decken gewickelte Leiche Magomets in einem Van und fuhren damit auf der Küstenstraße weiter nach Süden zu einer abgelegenen kleinen Bucht. Arsenow saß am Steuer. Sina studierte eine genaue Landkarte und sagte ihm gelegentlich, wie er fahren musste.

«Ich spüre die Nervosität der anderen«, sagte er nach einiger Zeit.»Dahinter steckt mehr als einfach nur unruhige Erwartung.«

«Wir sind nicht zu einem einfachen Unternehmen hier, Hassan.«

Er sah zu ihr hinüber.»Manchmal frage ich mich, ob du Eiswasser in den Adern hast.«

Sie setzte ein Lächeln auf, als sie kurz sein Bein drückte.»Du weißt recht gut, was ich in den Adern habe.«

Arsenow nickte.»Das stimmt. «Sosehr ihn der Wunsch antrieb, sein Volk zu führen, er musste sich doch eingestehen, dass er in Sinas Gesellschaft am glücklichsten war. Er sehnte sich nach der Zukunft, in der es keinen Krieg mehr geben würde, damit er aus seiner Rebellenrolle schlüpfen und nur noch ihr Ehemann und der Vater ihrer Kinder sein konnte.

«Sina«, sagte er, als sie von der Asphaltstraße abbogen und dem tief ausgefahrenen Weg folgten, der durch Felsen zu der Bucht hinabführte,»wir haben nie über uns gesprochen.«

«Wie meinst du das?«Sie wusste natürlich sehr gut, wie er das meinte, und bemühte sich, die Angst zu verdrängen, die ihr plötzlich die Kehle zuschnürte.»Natürlich haben wir das getan.«

Der Weg wurde steiler, und Arsenow bremste den Van ab. Vor ihnen konnte Sina die letzte Biegung sehen, dahinter lagen ein steiniger Strand und der ruhelose Nordatlantik.

«Nicht über unsere Zukunft, unsere Ehe, unsere Kinder, die wir eines Tages haben werden. Ich wüsste keinen besseren Zeitpunkt, um einander Liebe zu geloben.«

Erst jetzt begriff Sina ganz, wie intuitiv der Scheich sich in andere hineinfühlte. Denn Hassan Arsenow hatte sich durch die eigenen Worte verdammt. Er fürchtete sich davor, zu sterben. Das hörte sie aus seiner Wortwahl heraus, selbst wenn Blick und Tonfall ihn nicht verrieten.

Sie spürte jetzt auch seine Zweifel an ihr. Wenn sie eines gelernt hatte, seit sie sich den Aufständischen angeschlossen hatte, dann dass Zweifel alle Initiative, Entschlossenheit und besonders Tatkraft lähmten. Vielleicht wegen der extrem sorgenvollen Anspannung, unter der er stand, hatte er sich jetzt verraten, und seine Schwäche war ihr ebenso widerwärtig wie dereinst dem Scheich. Sie hatte einen schlimmen Fehler gemacht, als sie so rasch versucht hatte, Magomet anzuwerben, aber sie war sehr begierig, die Zukunft des Scheichs zu teilen. Trotzdem ließ Hassans gewalttätige Reaktion darauf schließen, dass seine Zweifel an ihr schon früher eingesetzt haben mussten. Hielt er sie etwa nicht mehr für vertrauenswürdig?

Sie hatten den Treffpunkt eine Viertelstunde vor der vereinbarten Zeit erreicht. Sina wandte sich ihm zu und nahm sein Gesicht in beide Hände.»Hassan, wir sind lange im Schatten des Todes Seite an Seite gegangen. Wir haben überlebt, weil das Allahs Wille war, aber auch wegen unserer unbeirrbaren Liebe zueinander. «Sie beugte sich nach vorn und küsste ihn.»Deshalb geloben wir einander nun ewige Treue, weil wir den Tod auf dem Pfad Allahs mehr begehren, als unsere Feinde ihr Leben lieben.«

Arsenow schloss kurz die Augen. Dies hatte er sich von ihr ersehnt; dies hatte er niemals zu erhalten befürchtet. Allein deshalb, das erkannte er jetzt, war er sofort zu einem hässlichen Schluss gelangt, als er sie mit Magomet gesehen hatte.

«In Allahs Blick, unter Allahs Hand, in Allahs Herz. «Das klang, als spreche er einen Segenswunsch aus.

Sie umarmten sich, aber Sina war in Gedanken natürlich weit jenseits des Nordatlantiks. Sie fragte sich, was der Scheich in diesem Augenblick tun mochte. Sie sehnte sich danach, sein Gesicht zu sehen, in seiner Nähe zu sein. Bald, tröstete sie sich. Schon bald würde ihr alles gehören, was sie begehrte.

Später stiegen sie aus dem Van, standen am Strand und sahen und hörten zu, wie die hereinkommenden Wellen sich im Geröll totliefen. In der kurzen Nacht des hohen Nordens war der Mond bereits untergegangen. In einer halben Stunde würde es hell werden, und ein weiterer langer Tag würde anbrechen. Sie standen mitten in der Bucht, deren Arme so weit ins Meer hinausragten, dass die Brandung stark abgeschwächt wurde und die niedrigeren Wellen sich ungefährlich am Strand brachen. Der kalte Wind, der übers schwarze Wasser strich, ließ Sina zittern, aber Arsenow war er willkommen.

In unbestimmbarer Entfernung auf dem Meer sahen sie ein weißes Licht dreimal blinken. Das Fischerboot war da. Arsenow bestätigte das Signal, indem er dreimal mit seiner Stablampe blinkte. Dann konnten sie das ohne Positionslichter fahrende Boot erkennen, das langsam näher an den Strand heranglitt. Sie gingen zum Van zurück und schleppten den Toten miteinander zur Gezeitenmarke hinunter.

«Werden sie überrascht sein, dich wiederzusehen?«, fragte Arsenow.

«Sie sind Männer des Scheichs, die überrascht nichts«, antwortete Sina, der nur allzu gut bewusst war, dass Hassan wegen der Lüge, die der Scheich ihm erzählt hatte, glauben musste, dies sei schon ihr zweites Treffen mit der Bootsbesatzung. Aber der Scheich würde natürlich vorgesorgt und sie entsprechend instruiert haben.

Als Arsenow die Stablampe wieder einschaltete, sahen sie ein Ruderboot auf sie zuhalten, das schwer beladen tief im Wasser lag. Es trug zwei Männer und einen Kistenstapel; weitere Kisten würden sich noch an Bord des Fischerboots befinden. Arsenow sah auf seine Uhr; er hoffte, sie würden vor Tagesanbruch fertig sein.

Die beiden Männer ließen den Bootsbug auf den Strand laufen und stiegen ins eisige Wasser. Sie vergeudeten keine Zeit damit, sich vorzustellen, taten aber auf Spalkos Befehl so, als sähen sie Sina nicht zum ersten Mal.

Tüchtig zupackend luden die vier die Kisten aus und stapelten sie auf der Ladefläche des Vans. Arsenow hörte ein Geräusch, drehte sich um und sah ein zweites Ruderboot auf den Strand laufen. Nun wusste er, dass sie der Morgendämmerung zuvorkommen würden.

Sie verfrachteten Magomets Leiche in das entladene Ruderboot, und Sina befahl den Männern, den Toten zu beschweren und in tiefstem Wasser über Bord zu werfen.

Sie bestätigten ihren Befehl ohne Murren, was Arsenow gefiel. Offenbar hatte Sina Eindruck gemacht, als sie die Übergabe der Fracht an die Bootsbesatzung überwacht hatte.

Binnen kurzem hatten sie zu sechst die restlichen Kisten in den Van verladen. Dann stiegen die Männer so schweigsam in ihre Ruderboote, wie sie zuvor ausgestiegen waren, und begannen mit einem kräftigen Schub von Arsenow und Sina die Rückfahrt zu dem Fischerboot.

Sina und Arsenow sahen sich an. Mit dem Eintreffen der Fracht hatte ihr Unternehmen plötzlich eine ganz neue Realität bekommen.

«Fühlst du’s, Sina?«, fragte Arsenow, indem er die

Hand auf eine der Kisten legte.»Kannst du den Tod spüren, der darin lauert?«

Sina bedeckte seine Hand mit ihrer.»Was ich spüre, ist unser Sieg.«

Sie fuhren zu dem Haus auf der Klippe zurück, in dem sie von den übrigen Angehörigen ihres Teams empfangen wurden, die sich durch geschickten Gebrauch von Wasserstoffperoxyd und farbigen Kontaktlinsen bis zur Unkenntlichkeit verwandelt hatten. Niemand verlor ein Wort über Magomets Tod. Mit ihm hatte es ein schlimmes Ende genommen, und so kurz vor Beginn ihres Unternehmens wollte niemand Einzelheiten wissen — alle hatten Wichtigeres im Kopf.

Die Kisten wurden sorgfältig ausgeladen und geöffnet; sie enthielten kompakte Maschinenpistolen, Pakete mit dem Plastiksprengstoff C4 und ABC-Schutzanzüge. Eine weitere Kiste, kleiner als die anderen, enthielt Schalotten, die abgepackt auf Eis lagen. Arsenow nickte Achmed zu, der sich Latexhandschuhe überstreifte und die Kiste mit den Schalotten zu dem Lieferwagen mit der Beschriftung Hajnarßördur Obst & Gemüse trug. Dann setzte der jetzt blonde und blauäugige Achmed sich ans Steuer und fuhr davon.

Arsenow und Sina blieb es vorbehalten, die letzte Kiste zu öffnen, die das NX 20 enthielt. Gemeinsam betrachteten sie die beiden Hälften, die scheinbar harmlos in ihrem schützenden Kokon aus Formschaum lagen, und erinnerten sich daran, was sie in Nairobi erlebt hatten. Arsenow sah auf seine Armbanduhr.»In wenigen Stunden trifft der Scheich mit der Ladung ein.«

Die letzten Vorbereitungen hatten begonnen.

Kurz nach neun Uhr hielt ein Fahrzeug des Möbelhauses Fontana vor der Lieferantenzufahrt im Untergeschoss der Zentrale von Humanistas, Ltd. wo es von zwei Wachleuten angehalten wurde. Einer der beiden sah auf einer Liste nach, und obwohl darin eingetragen war, dass Ethan Hearn eine Lieferung von Fontana erwartete, wollte er den Lieferschein sehen. Als der Fahrer ihn aushändigte, forderte der Wachmann ihn auf, die Hecktür des Möbelwagens zu öffnen. Er kletterte hinein und hakte die aufgeführten Artikel ab; dann öffneten sein Partner und er sämtliche Kartons und kontrollierten die beiden Sessel, das Sideboard, den Schrank und das Schlafsofa. Alle Türen wurden geöffnet, jedes Sofa- und Sesselpolster hochgehoben. Da alles in Ordnung war, gaben die Wachleute den Lieferschein zurück und erklärten den beiden Möbelpackern, wo Ethan Hearns Büro zu finden war.

Der Fahrer parkte in der Nähe des Aufzugs; dann lud er mit seinem Partner die Möbel aus. Sie mussten viermal fahren, um alles in den fünften Stock hinaufzuschaffen, wo sie von Hearn erwartet wurden. Er war nur zu gern bereit, ihnen zu zeigen, wohin sie die Möbelstücke stellen sollten, und ebenso gern steckten sie das großzügige Trinkgeld ein, das er ihnen nach getaner Arbeit in die Hand drückte.

Nachdem sie gegangen waren, schloss Hearn die Tür und begann, die bisher neben seinem Schreibtisch gestapelten Akten in alphabetischer Reihenfolge in den Schrank zu stellen. Die Stille eines gut geführten Büros sank über den Raum herab. Als einige Zeit später angeklopft wurde, richtete Hearn sich aus der Hocke auf und ging zur Tür. Er öffnete sie und stand der Frau gegenüber, die gestern spätabends den Mann auf der Tragbahre ins Gebäude und mit nach oben begleitet hatte.

«Sie sind Ethan Hearn?«

Als er nickte, streckte sie ihm die Hand hin.»Annaka Vadas.«

Hearn schüttelte ihr die Hand, die fest und trocken war. Weil er sich an Chans Warnung erinnerte, setzte er ein unschuldig neugieriges Gesicht auf.»Kennen wir uns irgendwoher?«

«Ich bin eine Freundin Stepans. «Ihr Lächeln blendete ihn fast.»Kann ich einen Augenblick reinkommen — oder wollten Sie gerade gehen?«

«Ich habe eine Besprechung…«Er sah auf seine Armbanduhr.»Aber noch nicht so bald.«

«Ich halte Sie nicht lange auf. «Sie ging zu seinem neuen Sofa, nahm Platz und schlug die Beine übereinander. Als sie jetzt zu Hearn aufsah, war ihr Gesichtsausdruck hellwach und erwartungsvoll.

Er wandte sich ihr, auf seinem Drehstuhl sitzend, zu.»Was kann ich für Sie tun, Frau Vadas?«

«Ich fürchte, Sie sehen die Sache verkehrt«, sagte sie lebhaft.»Die Frage ist, was ich für Sie tun kann.«

Er schüttelte den Kopf.»Tut mir Leid, das verstehe ich nicht.«

Sie summte vor sich hin, während sie sich in seinem Büro umsah. Dann beugte sie sich mit auf den Knien aufgestützten Ellbogen nach vorn.»Oh, das verstehen Sie genau, Ethan. «Wieder dieses Lächeln.»Ich weiß nämlich etwas über Sie, das nicht mal Stepan weiß.«

Er setzte wieder sein unschuldig neugieriges Gesicht auf und breitete scheinbar hilflos die Hände aus.

«Sie geben sich zu viel Mühe«, sagte sie knapp.

«Trotzdem weiß ich, dass Sie außer für Stepan noch für jemand anders arbeiten.«

«Nein, ich…«

Aber sie legte einen Zeigefinger auf die Lippen.»Ich habe Sie gestern in der Tiefgarage gesehen. Sie hatten keinen Grund, dort zu sein, und selbst wenn Sie einen gehabt hätten, haben Sie sich viel zu sehr für das interessiert, was dort passierte.«

Er war so verblüfft, dass er gar nicht versuchte zu leugnen. Was hätte er damit auch erreicht? fragte er sich. Sie hatte ihn gesehen, obwohl er sehr vorsichtig gewesen war. Hearn starrte sie an. Sie war wirklich eine Schönheit, aber vor allem auch beeindruckend scharfsinnig.

Sie legte den Kopf leicht schief.»Für Interpol arbeiten Sie nicht — Sie haben nicht die albernen Angewohnheiten dieser Leute. CIA? Nein, das glaube ich nicht. Stepan würde es erfahren, falls die Amerikaner versuchen sollten, seine Organisation zu unterwandern. Für wen also, hmmm?«

Hearn wollte es nicht sagen; er brachte kein Wort heraus. Er fürchtete nur, dass sie es schon wusste — sie wusste alles.

«Starren Sie mich nicht so kreidebleich an, Ethan. «Annaka stand auf.»Mir ist das herzlich egal. Ich will nur eine Versicherungspolice für den Fall, dass die Dinge hier schief gehen. Diese Versicherungspolice sind Sie. Deshalb wollen wir Ihren Verrat vorläufig als unser kleines Geheimnis betrachten.«

Sie hatte den Raum durchquert und war hinausgegangen, bevor er sich eine Antwort einfallen lassen konnte. Er blieb noch einen Augenblick lang wie gelähmt sitzen.

Endlich stand er auf, öffnete die Tür und sah nach beiden Richtungen den Flur entlang, um sich zu vergewissern, dass sie wirklich gegangen war.

Dann schloss er die Tür, trat an das Schlafsofa und sagte:»Okay, Sie können rauskommen.«

Die Polster wurden hochgehoben, und er legte sie auf den Teppichboden. Als die Sperrholzplatten, die den Bettmechanismus verbargen, sich zu bewegen begannen, griff Hearn nach ihnen und hob sie heraus.

Statt Bettgestell und Matratze lag darunter Chan.

Hearn merkte, dass er schwitzte.»Sie haben mich vor ihr gewarnt, aber.«

«Still!«Chan stemmte sich aus dem beengten Raum hoch, der schmaler als ein Sarg war. Hearn wich ängstlich zurück, aber Chan hatte wichtigere Dinge im Kopf als körperliche Züchtigung.»Achten Sie nur darauf, dass Sie denselben Fehler nicht noch mal machen.«

Chan ging zur Tür und legte ein Ohr daran. Draußen waren nur die Hintergrundgeräusche der übrigen Büros dieses Stockwerks zu hören. Er war mit Hose, Schuhen, T-Shirt und Lederjacke ganz in Schwarz gekleidet. Hearn hatte den Eindruck, sein Oberkörper sei viel massiger als bei ihrer letzten Begegnung.

«Sie bauen das Sofa wieder zusammen«, wies Chan ihn an,»und arbeiten dann weiter, als sei nichts passiert. Sie müssen bald zu einer Besprechung? Vergessen Sie nicht, pünktlich hinzugehen. Alles muss ganz normal wirken.«

Hearn nickte, während er die Sperrholzplatten in die Vertiefung des Sofas zurücklegte und mit den Polstern bedeckte.»Wir sind hier im fünften Stock«, sagte er.»Die Zielperson ist im dritten Stock.«

«Zeigen Sie mir die Baupläne.«

Hearn setzte sich an sein Computerterminal und rief die Baupläne des Gebäudes auf.

«Zeigen Sie mir den dritten Stock«, sagte Chan, während er sich über Hearns Schulter beugte.

Als Hearn den Grundriss aufgerufen hatte, studierte Chan ihn sorgfältig.»Was ist das?«, fragte er und tippte auf den Bildschirm.

«Keine Ahnung. «Hearn benützte die Zoomfunktion.»Scheint ein Leerraum zu sein.«

«Oder«, sagte Chan,»ein weiterer Raum neben dem Schlafzimmer von Spalkos Privatsuite.«

«Aber hier ist keine Tür eingezeichnet«, stellte Hearn fest.

«Interessant. Ich frage mich, ob Spalko ein paar Änderungen vorgenommen hat, von denen seine Architekten nie erfahren haben.«

Chan wandte sich ab, sobald er sich den Grundriss eingeprägt hatte. Was aus Plänen zu entnehmen war, wusste er nun, aber er musste die Suite mit eigenen Augen sehen. An der Tür drehte er sich noch einmal zu Hearn um.»Nicht vergessen! Gehen Sie pünktlich zu Ihrer Besprechung.«

«Was haben Sie vor?«, fragte Hearn.»Dort kommen Sie unmöglich rein.«

Chan schüttelte den Kopf.»Je weniger Sie wissen, desto besser.«

Die Fahnen flatterten an diesem endlos langen isländischen Morgen voller strahlendem Sonnenschein und dem Mineralgeruch der heißen Quellen. In einer Ecke des Flughafens Keflavik, die Jamie Hull, Boris Iljitsch Karpow und Fahd al-Sa’ud für den sichersten Punkt auf dem Gelände hielten, war auf einem Podium ein großes Rednerpult aufgestellt und an Mikrofone und Lautsprecher angeschlossen worden. Keiner von ihnen, anscheinend nicht einmal Genosse Karpow, war glücklich darüber, dass ihre jeweiligen Präsidenten sich so exponierten, aber die Staatsoberhäupter bestanden darauf. Sie hielten es für unerlässlich, nicht nur ihre Solidarität, sondern auch ihre Furchtlosigkeit der Öffentlichkeit zu demonstrieren. Alle wussten recht gut, dass die mit ihrem Amt verbundene Gefahr, einem Attentat zum Opfer zu fallen, sich seit der Ankündigung des Terrorismusgipfels vervielfacht hatte. Sie alle wussten jedoch auch, dass diese Lebensgefahr zu ihrer Arbeit gehörte. Wer sich daran machte, die Welt zu verändern, musste damit rechnen, dass sich ihm Leute in den Weg stellten.

Und so wehten und knatterten an diesem Morgen zu Beginn des Gipfeltreffens die Fahnen der Vereinigten Staaten, Russlands und der vier wichtigsten islamischen Staaten in dem scharfen Wind. Das Rednerpult war mit dem nach zähen Verhandlungen angenommenen Logo des Gipfels geschmückt, bewaffnete Sicherheitskräfte riegelten den Flughafen ab, auf den Hangardächern waren Scharfschützen in Stellung gegangen. Die aus allen Staaten der Welt zusammengeströmten Berichterstatter hatten sich schon zwei Stunden vor Beginn der Pressekonferenz einfinden müssen. Die Journalisten waren methodisch überprüft, ihre Ausweise streng kontrolliert und ihre Fingerabdrücke mit mehreren Fahndungsdateien verglichen worden. Die Fotografen waren davor gewarnt worden, ihre Filme vorzeitig einzulegen, weil ihre Kameras durchleuchtet und genau untersucht werden mussten. Alle Handys wurden beschlagnahmt, mit Etiketten ver-sehen und außerhalb des Sicherheitsbereichs gelagert, um nach der Pressekonferenz zurückgegeben zu werden. Kein Detail war übersehen worden.

Als der Präsident der Vereinigten Staaten seinen Auftritt hatte, begleitete ihn Jamie Hull gemeinsam mit einem Rudel Secret-Service-Agenten. Über einen Ohrhörer stand Hull in ständiger Verbindung mit jedem Mitglied seines Teams sowie den beiden anderen Sicherheitschefs. Gleich hinter dem US-Präsidenten kam der russische Präsident Alexander Jewtuschenko, der von Karpow und einer Gruppe grimmig dreinblickender FSB-Agenten eskortiert wurde. Dahinter folgten die Staatsoberhäupter der vier islamischen Staaten, jeder mit dem Leiter und mehreren Leuten des eigenen Sicherheitsdiensts.

Die Zuschauer und Journalisten drängen nach vorn, wurden jedoch von dem Podium gestoppt, das die Würdenträger jetzt erklommen hatten. Die Mikrofone wurden getestet, die TV-Kameras gingen auf Sendung. Als Erster trat der US-Präsident ans Rednerpult. Er war ein großer, gut aussehender Mann mit Adlernase und scharfen Augen, denen nicht leicht etwas entging.

«Liebe Bürger in aller Welt«, begann er mit kräftiger, ausdrucksvoller Stimme, die durch viele erfolgreiche Wahlkämpfe abgeschliffen, durch unzählige Pressekonferenzen geglättet und durch Reden vor kleinerem Kreis im Oval Office und in Camp David poliert worden war,»dies ist ein großer Tag für den Weltfrieden und den internationalen Kampf für Gerechtigkeit und Freiheit gegen die Kräfte von Gewalt und Terrorismus.

Heute stehen wir erneut an einem Scheideweg der Weltgeschichte. Wollen wir zulassen, dass die gesamte Menschheit ins Dunkel von Angst und ständigem Krieg gestürzt wird, oder schließen wir uns zusammen, um unsere Feinde, wo immer sie sich verbergen mögen, ins Herz zu treffen?

Die Mächte des Terrorismus sind gegen uns aufmarschiert. Und wir dürfen nicht verkennen, dass der Terrorismus eine moderne Hydra, ein vielköpfiges Ungeheuer ist. Obwohl wir keine Illusionen in Bezug auf den dornigen Weg liegen, der vor uns liegt, halten wir an unserem Wunsch fest, diesen Weg mit vereinten Kräften gemeinsam zu gehen. Nur vereint können wir das vielköpfige Ungeheuer besiegen. Nur vereint haben wir eine Chance, unsere Welt zu einem sicheren Ort für alle Bürger zu machen.«

Diese kurze Rede des US-Präsidenten wurde mit großem Beifall aufgenommen. Dann überließ er das Rednerpult dem russischen Präsidenten, der mehr oder weniger das Gleiche sagte — und ebenfalls großen Applaus erntete. Die vier arabischen Staatsoberhäupter sprachen nacheinander, und obwohl sie sich etwas zurückhaltender ausdrückten, betonten auch sie die dringende Notwendigkeit vereinter Anstrengungen, um den Terrorismus ein für alle Mal auszurotten.

Dann hatten die Journalisten kurz Gelegenheit, Fragen zu stellen, bevor die sechs Männer sich für die Fotografen aufbauten. Sie gaben ein eindrucksvolles Bild ab, das noch denkwürdiger wurde, als sie sich an den Händen fassten und die Arme hochreckten: eine noch nie da gewesene Demonstration der Solidarität der politischen Systeme und Kulturen. Die Stimmung war zuversichtlich, als die Zuschauer sich langsam verliefen. Und selbst die abgebrühtesten Journalisten waren sich darüber einig, der Gipfel habe glänzend begonnen.

«Wissen Sie eigentlich, dass ich beim dritten Paar Latexhandschuhe bin?«

Stepan Spalko saß an dem zerschrammten, blutbespritzten Tisch auf dem Stuhl, auf dem am Vortag An-naka gesessen hatte. Vor sich hatte er ein Sandwich mit Schinken, Salat und Tomate, wie er es in den langen Genesungszeiten zwischen seinen Operationen in den Vereinigten Staaten lieben gelernt hatte. Das Sandwich lag auf einem Teller aus feinem Porzellan, und in der rechten Hand hielt Spalko ein Stielglas aus feinstem Kristall mit einem erlesenen Bordeaux.

«Unwichtig. Es ist schon spät. «Er tippte aufs Quarzglas des Chronometers an seinem Handgelenk.»Ich fürchte, Mr. Bourne, dass mein wundervolles Amüsement zu Ende geht. Ich will Ihnen nicht verhehlen, dass Sie mir eine fantastische Nacht beschert haben. «Er lachte bellend.»Was mehr ist, als ich für Sie getan habe, möchte ich meinen.«

Das Sandwich war genau seinen Anweisungen entsprechend in zwei gleichseitige Dreiecke zerschnitten. Spalko griff nach einem, biss davon ab und kaute langsam und genüsslich.»Wissen Sie, Mr. Bourne, ein Sandwich mit Schinken, Tomate und Salat taugt nur etwas, wenn der gekochte Schinken frisch und nicht zu dünn geschnitten ist.«

Er schluckte, legte das angebissene Stück weg, setzte das Kristallglas an die Lippen und nahm einen Schluck Bordeaux. Dann schob er den Stuhl zurück, stand auf und ging zu Jason Bourne hinüber, der angeschnallt auf dem Zahnarztstuhl saß. Der Kopf hing ihm auf die Brust, und in einem halben Meter Umkreis um ihn waren überall Blutspritzer zu sehen.

Spalko hob Bournes Kopf mit zwei Fingern seiner behandschuhten Linken hoch. Die von endlosen Qualen glanzlosen Augen waren von dunklen Ringen umgeben, und das bleiche Gesicht wirkte blutleer.»Bevor ich gehe, muss ich Ihnen von der Ironie des Ganzen erzählen. Die Stunde meines Triumphs steht bevor. Was Sie wissen, spielt keine Rolle mehr. Ob Sie reden oder nicht, ist nicht mehr wichtig. Entscheidend ist nur, dass ich Sie hier habe: gefesselt und ohnmächtig. «Er lachte.»Welch schrecklichen Preis Sie für Ihr Schweigen bezahlt haben. Und wofür, Mr. Bourne? Für nichts!«

Chan sah den Wachmann auf dem Korridor vor dem Aufzug stehen und zog sich lautlos zur Tür zum Treppenhaus zurück. Durch das in die Tür eingelassene Drahtglasfenster konnte er zwei bewaffnete Wachleute sehen, die im Treppenhaus standen und rauchten. Ungefähr alle fünfzehn Sekunden warf der eine oder andere Mann einen Blick durch das Fenster, um den Korridor im fünften Stock zu kontrollieren. Die Treppe war zu gut gesichert.

Er kehrte um, ging ganz normal und entspannt den Korridor entlang, zog unterwegs die Luftpistole, die er von Oszkar gekauft hatte, und hielt sie an den rechten Oberschenkel gedrückt. Sowie der Wachmann ihn sah, riss Chan die Luftpistole hoch und schoss ihm einen kleinen Bolzen in den Hals. Die Chemikalie in der Spitze lähmte den Mann, und er brach auf der Stelle zusammen.

Chan schleifte den Bewusstlosen gerade in die Herrentoilette, als die Tür sich öffnete und ein zweiter Wachmann erschien, dessen Maschinenpistole auf Chans Brust zielte.

«Halt, keine Bewegung«, sagte er.»Lassen Sie die Waffe fallen und zeigen Sie mir Ihre leeren Hände.«

Chan tat wie befohlen. Als er die Hände ausstreckte, damit der Wachmann sie inspizieren konnte, löste er die starke Feder in einer innen an seinem Handgelenk verdeckt festgeklebten Scheide aus. Der Uniformierte klatschte sich mit einer Hand an den Hals. Der kleine Pfeil verursachte einen Schmerz wie ein Insektenstich. Aber der Mann merkte plötzlich, dass er nichts mehr sehen konnte. Das war sein letzter Gedanke, bevor auch er bewusstlos zusammenbrach.

Chan schleifte die beiden Männer in die Toilette, dann drückte er den Rufknopf des Aufzugs. Sekunden später glitt die Doppeltür auf, als der Lift in seinem Stockwerk hielt. Er war mit einem Satz in der Kabine, drückte auf den Knopf mit der Zahl drei. Der Aufzug begann in die Tiefe zu sinken, aber als er am vierten Stock vorbei war, hielt er mit einem Ruck und blieb zwischen den Etagen hängen. Chan drückte auf sämtliche Knöpfe, aber das nützte nichts. Der Aufzug steckte fest, was zweifellos beabsichtigt war. Er wusste, dass ihm nur sehr wenig Zeit blieb, um sich aus der Falle zu befreien, die Spalko ihm gestellt hatte.

Er kletterte auf das in der Kabine umlaufende Geländer und streckte sich nach der in die Decke eingelassenen Wartungsöffnung. Als er die Luke schon aufstoßen wollte, ließ er die Hand sinken und sah genauer hin. Was war dieses metallische Glitzern? Er holte die kleine Stablampe aus der Werkzeugtasche, die Oszkar ihm mitgegeben hatte, und richtete den Lichtstrahl auf die Schraube in der hintersten Ecke. Sie war mit einer dünnen Kupferlitze umwickelt. Eine Sprengfalle! Chan wusste jetzt, dass er eine auf der Kabine angebrachte Sprengladung zünden würde, sobald er versuchte, die Luke aufzustoßen.

In diesem Augenblick warf ein Ruck ihn vom Geländer, und die Kabine begann, in allen Fugen ächzend, den Aufzugschacht hinunterzustürzen.

Spalkos Telefon klingelte, und er trat aus der Folterkammer. Sonnenlicht fiel durch die Fenster seines Schlafzimmers, und er spürte die Wärme auf dem Gesicht, als er es durchquerte.

«Ja?«

Eine Stimme sprach in sein Ohr. Die Worte beschleunigten seinen Puls. Er war hier! Chan war hier! Seine Hand ballte sich zur Faust. Jetzt hatte er sie beide. Seine Arbeit hier war fast getan. Er beorderte seine Männer in den zweiten Stock, dann rief er die Sicherheitszentrale an und ordnete eine Feuerlöschübung an, zu der gehörte, dass das Gebäude in kürzester Zeit von allen gewöhnlichen Humanistas-Mitarbeitern geräumt wurde. Binnen zwanzig Sekunden schrillte der Feueralarm los, und überall im Gebäude verließen Männer und Frauen ihre Büros und begaben sich rasch, aber nicht in Panik zu den Treppenhäusern, von denen aus sie ins Freie geführt wurden. Spalko hatte inzwischen seinen Fahrer und seinen Piloten angerufen, wobei er Letzteren anwies, seinen Privatjet, der im Humanistas-Hangar auf dem Flughafen Ferihegy auf ihn wartete, startbereit zu machen. Wie er schon früher angeordnet hatte, war die Maschine schon inspiziert und betankt; auch ein Flugplan war bereits fertig.

Jetzt musste er noch ein Telefongespräch führen, bevor er zu Jason Bourne zurückkehrte.

«Chan ist im Gebäude«, sagte er, als Annaka sich mel-dete.»Er sitzt im Aufzug fest, und ich habe Männer eingesetzt, die ihn abfangen, falls ihm die Flucht gelingt, aber du kennst ihn besser als alle anderen. «Er grunzte, als er ihre Antwort hörte.»Was du sagst, ist keine Überraschung. Erledige die Sache, wie du’s für richtig hältst.«

Chan schlug mit dem Handballen auf den Nothaltknopf, aber der Aufzug reagierte nicht, sondern stürzte weiter in die Tiefe. Mit einem Werkzeug aus Oszkars Lederetui stemmte er die Metallabdeckung über den Etagenknöpfen ab. Dahinter befand sich ein Gewirr von Drähten, aber er sah auf einen Blick, dass die zweipolige Leitung zum Nothaltknopf herausgezogen war. Als er die Enden gewandt wieder in die Buchsen steckte, kam die Kabine sofort mit dem Kreischen von funkensprühendem Metall zum Stehen, als die Notbremse griff. Während sie zwischen dem zweiten und dritten Stock festhing, arbeitete Chan mit atemloser Intensität weiter an der Verdrahtung.

Im dritten Stock erreichten Spalkos Männer die äußere Aufzugtür, die sie mit einem Feuerwehrschlüssel entriegelten. Dann stemmten sie die Tür auf, sodass der Aufzugschacht zugänglich war. Unmittelbar über sich konnten sie den Boden der stecken gebliebenen Kabine sehen. Sie hatten ihre Befehle; sie wussten, was sie zu tun hatten. Sie hoben ihre Maschinenpistolen, eröffneten das Feuer und durchsiebten das untere Drittel der Aufzugkabine. Diese konzentrierte Feuerkraft konnte niemand überleben.

Chan hatte sich mit gespreizten Armen und Beinen in der Aussparung des Fahrstuhlschachts verkeilt und beo-bachtete, wie das untere Drittel der Kabine wegfiel. Gegen Querschläger schützten ihn die Kabinentür und der Schacht selbst. Durch seinen Eingriff in die Verdrahtung war es ihm gelungen, die Tür gerade so weit zu öffnen, dass er sich hinauszwängen konnte. Er hatte sich in der Wandaussparung hochgestemmt und befand sich ungefähr auf Höhe der Kabinendecke, als der Geschosshagel einsetzte.

Das Echo der durch den Aufzugschacht hämmernden Schüsse war kaum verhallt, als er ein Summen hörte, als schwärme ein ganzer Bienenschwarm aus seinem Stock. Er hob den Kopf und sah zwei Kletterseile, die sich aus einem oberen Stockwerk durch den Schacht herabschlängelten. Im nächsten Augenblick kamen zwei schwer bewaffnete Männer in Kampfanzügen Hand über Hand die Seile

Einer der beiden sah ihn und schwang seine Maschinenpistole in seine Richtung. Chan gab einen Schuss aus der Luftpistole ab, und die Waffe glitt aus den tauben Fingern des Angreifers. Als der andere auf ihn zielte, schnellte Chan sich durch die Luft und klammerte sich an den Bewusstlosen, der nun in seinem Abseilgurt am Seil hing. Der zweite Mann, mit seinem Schutzhelm gesichtslos und anonym, schoss auf Chan, der den Bewusstlosen zwischen sie brachte und als Schutzschild benützte. Mit einem gut gezielten Fußtritt trat er dem Schützen die Maschinenpistole aus den Händen.

Sie landeten miteinander auf dem Kabinendach. Der kleine farblose Würfel aus tödlichem C4 war mit Kleb-streifen mitten auf der Dachluke befestigt, wo jemand ihn hastig als Sprengfalle verdrahtet hatte. Chan sah mit einem Blick, dass alle Schrauben gelockert waren; stieß einer von ihnen versehentlich gegen die Luke und verschob sie auch nur geringfügig, musste die ganze Kabine in die Luft fliegen.

Chan schoss erneut mit der Luftpistole, aber der Angreifer, der gesehen hatte, wie sein Partner außer Gefecht gesetzt worden war, warf sich zur Seite, wälzte sich herum und trat ihm die Waffe aus der Hand. Gleichzeitig griff er sich die Maschinenpistole seines Partners. Chan stampfte ihm auf die Hand und drehte den Stiefelabsatz von einer Seite zur anderen, damit der Mann die Waffe losließ. Gleichzeitig hämmerten wieder Feuerstöße durch den Schacht, als Spalkos Männer im dritten Stock erneut das Feuer eröffneten.

Der Mann im Kampfanzug nutzte die Tatsache, dass Chan abgelenkt war, um sein Bein wegzuschlagen und ihm die Maschinenpistole zu entreißen. Bevor er schießen konnte, sprang Chan in den Schacht und rutschte die Kabine entlang bis zu der Stelle hinunter, wo die Notbremse ausgefahren war. Dort drückte er sich in die Wandaussparung und machte sich daran, den Mechanismus zu lösen. Der Angreifer auf dem Kabinendach, der Chan verschwinden gesehen hatte, lag jetzt auf dem Bauch und zielte mit der Maschinenpistole auf ihn. Als er sein Ziel erfasst hatte, gelang es Chan, die Notbremse zu lösen. Die Kabine stürzte mitsamt dem entsetzt aufschreienden Mann im Aufzugschacht in die Tiefe.

Chan war mit einem Satz bei dem nächsten Seil und kletterte es wieselflink hinauf. Er war im vierten Stock angelangt und schon dabei, das Magnetschloss unter Wechselstrom zu setzen, als die Kabine unterhalb der Tiefgaragenebene auf dem Boden des Schachts aufschlug. Dabei verschob sich die Abdeckung der Wartungsöff-nung, und der Sprengstoff detonierte. Die Druckwelle schoss den Schacht in dem Augenblick hinauf, als das Magnetschloss stromlos wurde, und Chan wurde durch die Tür geschleudert.

Der Eingangsbereich im dritten Stock war ganz in milchkaffeebraunem Marmor gehalten. Wandleuchter mit Milchglaskelchen tauchten den Raum in ein weiches indirektes Licht. Als Chan sich aufrappelte, sah er keine fünf Meter von sich entfernt Annaka den Flur entlang flüchten. Sie war offensichtlich überrascht — und bestimmt nicht erfreut, vermutete er. Offenbar hatten weder Spalko noch sie erwartet, dass er es schaffen würde, in den vierten Stock zu gelangen. Er lachte lautlos in sich hinein, als er die Verfolgung aufnahm. Kein Wunder, dass sie verblüfft waren; er hatte wirklich Erstaunliches geleistet.

Vor ihm verschwand Annaka durch eine Tür. Chan hörte ein Schloss einschnappen, als sie die Tür hinter sich zuknallte. Er wusste, dass er Bourne und Spalko finden musste, aber Annaka war eine Wildcard geworden, die er nicht ignorieren durfte. Er hatte einen Satz Dietriche bereit, noch bevor er die abgesperrte Tür erreichte. Er führte einen Dietrich ein und lotete die Feinheiten des Schlosses aus. Chan brauchte keine fünf Sekunden, um die Tür zu öffnen — kaum Zeit genug für Annaka, um den Raum zu durchqueren. Sie warf ihm einen angstvollen Blick über die Schulter hinweg zu, bevor sie die zweite Tür hinter sich zuknallte.

Nachträglich gesehen hätte ihr Gesichtsausdruck ihn warnen müssen. Annaka ließ niemals Angst erkennen. Er achtete jedoch mehr auf den eigenartigen Raum, der klein und quadratisch, so nichts sagend wie fensterlos war. Er wirkte unfertig, war frisch in reinem Weiß gestrichen — auch die breiten hölzernen Türrahmen — und völlig unmöbliert. Aber Chans Besorgnis kam zu spät, denn das leise Zischen hatte schon angefangen. Als er den Kopf hob, sah er hoch an den Wänden die Schlitze, aus denen Gas austrat. Er hielt die Luft an, hastete zu der zweiten Tür, durch die Annaka verschwunden war. Sein Dietrich hätte das Schloss öffnen müssen, aber die Tür ließ sich trotzdem nicht aufziehen. Sie muss von außen verriegelt worden sein, dachte er, als er zu der Tür zurückrannte, durch die er hereingekommen war. Er drehte den Türknopf, musste aber feststellen, dass sie ebenfalls von außen verriegelt worden war.

Der hermetisch abgeschlossene Raum begann sich mit Gas zu füllen. Er saß in der Falle.

Neben dem Porzellanteller mit Sandwichkrümeln und dem Stielglas mit einem kleinen Rest Bordeaux hatte Stepan Spalko die Gegenstände aufgereiht, die er Bourne abgenommen hatte: die Keramikpistole, Conklins Handy, den Packen Geldscheine und das Schnappmesser.

Bourne, misshandelt und blutig, war nun schon seit Stunden tief in Delta-Meditation versunken — erst um die Schmerzen ertragen zu können, die seinen Körper bei jeder Anwendung von Spalkos Instrumenten heiß durchfluteten, dann um seine inneren Energiereserven zu schützen und zu bewahren, zuletzt um die Wirkung der Folter abzuschwächen und wieder zu Kräften zu kommen.

Gedanken an Marie, Alison und Jamie flackerten in seinem bewusst geleerten Verstand wie unstete Flämm-chen auf, aber weitaus lebhafter war seine Erinnerung an die Jahre im sonnen durchglühten Phnom Penh. Sein

Verstand, der sich bis zu stiller Gelassenheit beruhigt hatte, erweckte Dao, Alyssa und Joshua zu neuem Leben. Er warf Joshua einen Baseball zu, damit der Junge den Fanghandschuh ausprobieren konnte, den er ihm aus den Staaten mitgebracht hatte, als Joshua sich ihm zuwandte und fragte:»Warum hast du versucht, uns zu reproduzieren? Warum hast du nicht versucht, uns zu retten?«Bourne war einige Augenblicke lang verwirrt, bis er Chans Gesicht sah, das wie ein Vollmond an einem sternlosen Himmel über ihm zu hängen schien. Chan öffnete den Mund und sagte: »Du hast versucht, Joshua und Alyssa zu reproduzieren. Du hast ihnen sogar Vornamen mit denselben Anfangsbuchstaben gegeben.«

Während Bourne ihn mit blutunterlaufenen Augen beobachtete, steckte Spalko das Geld ein und griff nach der Pistole.»Ich habe Sie dazu benützt, mir die Spürhunde der großen Geheimdienste vom Leib zu halten. In dieser Beziehung haben Sie mir gut gedient. «Er richtete die Waffe auf Bourne, zielte auf einen Punkt über seinem Nasensattel.»Aber jetzt habe ich leider keine Verwendung mehr für Sie. «Sein Zeigefinger nahm Druckpunkt am Abzug.

In diesem Augenblick kam Annaka hereingestürmt.»Stepan, Chan hat’s geschafft — er ist hier drin!«

Spalko ließ unwillkürlich Überraschung erkennen.»Ich habe die Detonation gehört. Das hat er überlebt?«

«Irgendwie ist’s ihm gelungen, den Aufzug abstürzen zu lassen. Die Kabine ist im Kellergeschoss explodiert.«

«Ein Glück, dass die letzte Waffenlieferung längst rausgegangen ist. «Er sah endlich zu ihr hinüber.»Wo ist Chan jetzt?«

«In der weißen Kammer eingesperrt. Es wird Zeit, dass wir verschwinden.«

Spalko nickte. Sie hatte Chans Fähigkeiten völlig richtig eingeschätzt. Er hatte klug gehandelt, als er die Liaison der beiden gefördert hatte. Dank ihrer angeborenen Falschheit hatte sie Chan besser ausforschen können, als es ihm selbst jemals hätte gelingen können. Trotzdem starrte er jetzt wieder Bourne an, mit dem er — dessen war er sich sicher — noch nicht fertig war.

«Stepan. «Annaka legte ihm eine Hand auf den Arm.»Das Flugzeug wartet. Wir brauchen Zeit, um das Gebäude ungesehen verlassen zu können. Die Sprinkleranlage ist aktiviert und hat den Aufzugschacht unter Wasser gesetzt, sodass kein Großbrand zu befürchten ist. Aber im Foyer brennt es noch, und die Feuerwehr muss jeden Augenblick eintreffen, wenn sie nicht schon da ist.«

Sie hatte an alles gedacht. Spalko warf ihr einen bewundernden Blick zu. Dann holte er ohne Vorwarnung mit der Hand aus, in der er die Keramikpistole hielt, und knallte Bourne den Griff an die Schläfe.

«Die nehme ich als Erinnerung an unsere erste und letzte Begegnung mit.«

Dann verließ er mit Annaka den Raum.

Mit einem kleinen Brecheisen, das zu den Werkzeugen gehörte, die er sich von Oszkar hatte geben lassen, arbeitete Chan, auf dem Bauch liegend, verbissen daran, den unteren Teil der Verkleidung des Türrahmens loszuhebeln. Seine Augen brannten und tränten von dem Gas, und seine Lunge schien vor Sauerstoffmangel in Flammen zu stehen. Ihm blieben nur noch wenige Sekunden, bevor er ohnmächtig wurde und das autonome Nerven-system seine Atmung wieder in Gang setzte, wodurch das Gas in seinen Körper gelangte.

Aber nun hatte er einen Teil der Verkleidung losgehebelt und spürte sofort einen kühlen Luftstrom, der von außen in den kleinen Raum floss, in dem er gefangen war. Er steckte die Nase in den Lüftungsschlitz, den er geschaffen hatte, und atmete mehrmals tief durch. Dann holte er tief Luft und brachte rasch die kleine Sprengladung mit C4 an, die Oszkar ihm mitgegeben hatte. Vor allem dieser Gegenstand auf seiner Liste hatte Oszkar verraten, wie gefährlich Chans Unternehmen war, und den Kontaktmann veranlasst, ihm auch einen über Funk betätigten Zünder aufzudrängen.

Chan steckte die Nase in den Lüftungsschlitz, holte noch einmal tief Luft und stopfte den Plastiksprengstoff so tief wie irgend möglich in den Spalt. Dann hielt er die Luft an, hastete an die gegenüberliegende Wand zurück und drückte den roten Knopf der Fernzündung.

Die ausgelöste Detonation sprengte ein Loch in die Wand und ließ sie teilweise einstürzen. Ohne abzuwarten, bis die Wolke aus Holz- und Steinstaub sich gesetzt hatte, sprang Chan mit einem Riesensatz in Spalkos Schlafzimmer.

Sonnenlicht fiel schräg durch die großen Fensterscheiben, und tief unter ihm glitzerte die Donau. Chan riss die Fenster auf, damit etwa eindringendes Gas entweichen konnte. Er hörte sofort Sirenengeheul, und als er nach unten blickte, konnte er die Feuerwehrautos und Streifenwagen, all die hektische Aktivität vor dem Haupteingang des Gebäudes sehen. Er trat vom Fenster zurück, sah sich um und orientierte sich mit einem raschen Blick in die Runde nach dem Grundriss, den Hearn ihm auf seinem Bildschirm gezeigt hatte.

Er wandte sich dem als leer eingezeichneten Bereich zu, stand vor glänzend lackierten Paneelen. Indem er ein Ohr ans Holz legte, klopfte er eines nach dem anderen ab. So erwies sich das dritte Paneel von links als Geheimtür. Ein leichter Druck gegen den linken Rand genügte, um sie nach innen aufschwingen zu lassen.

Chan betrat einen Raum aus schwarz gestrichenem Beton und weißen Fliesen, in dem es nach Schweiß und Blut stank. Dort fand er den blutenden, misshandelten Jason Bourne. Er starrte Bourne an, der an einen Zahnarztstuhl gefesselt und von einem Kreis aus Blutspritzern umgeben war. Bourne war bis zur Taille nackt. Arme und Schultern, Brust und Rücken waren mit Blasen, Prellungen und geschwollenen Wunden übersät. Die beiden äußeren Lagen des Verbands über seinen Rippen waren weggerissen, aber die unterste war noch intakt.

Bourne drehte den Kopf zur Seite und starrte Chan mit dem Blick eines verwundeten Kampfstiers an: blutend, aber ungebrochen.

«Ich habe die zweite Detonation gehört«, sagte Bourne mit schwacher Stimme.»Ich dachte, dich hätte’s erwischt.«

«Enttäuscht?«Chan fletschte die Zähne.»Wo steckt er? Wo ist Spalko?«

«Du kommst leider zu spät«, sagte Bourne.»Er ist fort

— und Annaka Vadas mit ihm.«

«Sie hat schon immer für ihn gearbeitet«, sagte Chan.»Ich habe versucht, dich in der Klinik zu warnen, aber du wolltest nicht hören.«

Bourne seufzte, schloss bei diesem scharfen Tadel die Augen.»Ich hatte keine Zeit.«

«Du hast wohl nie Zeit, richtig zuzuhören.«

Chan näherte sich Bourne. Sein Hals war wie zugeschnürt. Er wusste, dass er die Verfolgung Spalkos hätte aufnehmen müssen, aber irgendetwas hielt ihn hier fest. Er starrte die Wunden an, die Spalko Bourne zugefügt hatte.

Bourne sagte:»Bringst du mich jetzt um?«Das war weniger eine Frage als die Feststellung einer Tatsache.

Chan wusste, dass er nie eine bessere Gelegenheit bekommen würde. Das schwarze Ding in seinem Inneren, das er genährt hatte, das sein einziger Gefährte geworden war, das täglich durch seinen Hass gewachsen war und ihn täglich mit seinem Gift überschwemmt hatte, weigerte sich, zu sterben. Das Ungeheuer wollte Bourne ermorden und schaffte es jetzt beinahe, von ihm Besitz zu ergreifen. Beinahe. Chan spürte den Impuls, der aus dem Unterleib in seinen Arm emporkroch, aber sein Herz nicht berührte, sodass es ihm nicht gelang, den Arm zu

Er machte abrupt auf dem Absatz kehrt und ging in Spalkos luxuriöses Schlafzimmer zurück. Wenige Minuten später kam er mit einem Glas Wasser und einer Hand voll Dingen zurück, die er im Bad zusammengerafft hatte. Er setzte Bourne das Glas an den Mund, kippte es langsam, bis er es ausgetrunken hatte. Wie aus eigenem Willen lösten seine Hände die Ledergurte und befreiten Bournes Handgelenke und Fußknöchel.

Bournes Augen verfolgten jede seiner Bewegungen, als er sich jetzt daran machte, die Wunden zu säubern und zu desinfizieren. Bourne hob die Hände nicht von den

Armlehnen des Stuhls. In gewisser Weise fühlte er sich jetzt gelähmter als zuvor, als er noch gefesselt gewesen war. Er starrte Chan prüfend an, musterte jede Rundung, jede Linie, jeden Zug seines Gesichts. Erkannte er Daos Mund, seine eigene Nase? Oder war alles nur Einbildung? War dieser Mann tatsächlich sein Sohn? Er musste Gewissheit haben. Er musste begreifen, was geschehen war. Aber er spürte noch immer unterschwellige Zweifel, einen Anflug von Angst. Die Möglichkeit, den eigenen Sohn vor sich zu haben, den er so viele Jahre lang für tot gehalten hatte, war zu viel für ihn. Andererseits war auch das Schweigen, in das sie verfallen waren, unerträglich. Also griff er auf das eine neutrale Thema zurück, von dem er wusste, dass es sie beide brennend interessierte.

«Du wolltest wissen, was Spalko vorhat«, sagte er, während er langsam und gleichmäßig atmete, weil jeder Tupfer mit Desinfektionsmittel Schmerzstiche durch seinen Körper jagte.»Er hat eine von Dr. Felix Schiffer erfundene Waffe gestohlen — einen tragbaren Diffusor. Irgendwie hat er einen Dr. Peter Sido — einen in der Klinik arbeitenden Epidemiologen — dazu gebracht, ihm die Ladung dafür zu liefern.«

Chan ließ ein blutgetränktes Gazepolster fallen und griff nach einem sauberen.»Nämlich?«

«Milzbrand, irgendein Designervirus, keine Ahnung. Ich weiß nur, dass das Zeug absolut tödlich ist.«

Chan säuberte weiter Bournes Wunden. Der Fußboden war jetzt mit blutigen Gazepolstern übersät.»Warum erzählst du mir das jetzt?«, fragte er unverhohlen misstrauisch.

«Weil ich weiß, was Spalko mit dieser Waffe vorhat.«

Chan sah von seiner Arbeit auf.

Bourne fiel es körperlich schwer, ihm in die Augen zu sehen. Aber er holte tief Luft und sprach verbissen weiter.»Spalko steht unter enormem Zeitdruck. Er musste unbedingt fort.«

«Wegen des Terrorismusgipfels in Reykjavik.«

Bourne nickte.»Meiner Ansicht nach muss der Gipfel das Ziel des Anschlags sein.«

Chan richtete sich auf und spülte sich die Hände mit dem Schlauch ab. Er beobachtete, wie das rosa Wasser durch den riesigen Abfluss ablief.»Das heißt, falls ich dir glaube.«

«Ich verfolge sie jedenfalls weiter«, sagte Bourne.»Als ich das Puzzle zusammengesetzt habe, ist mir endlich klar geworden, dass Conklin sich Schiffer geschnappt und von Vadas und Molnar in Sicherheit hat bringen lassen, weil er von Spalkos Absicht erfahren hatte. Die Kodebezeichnung des Diffusors — NX 20 — habe ich auf einem Schreibblock in Conklins Haus entdeckt.«

«Deshalb ist Conklin also ermordet worden. «Chan nickte.»Warum ist er mit diesen Informationen nicht zur Agency gegangen? Die CIA hätte Dr. Schiffer doch bestimmt besser schützen können.«

«Das kann mehrere Gründe gehabt haben«, antwortete Bourne.»Vielleicht hat er gedacht, niemand würde ihm glauben, weil Spalko einen glänzenden Ruf als Menschenfreund genießt. Er hatte jedoch nicht genug Zeit, und seine Erkenntnisse waren nicht konkret genug, um die CIA-Bürokratie zu raschem Handeln zu bewegen. Außerdem war das einfach seine Art. Alex hat es gehasst, Geheimnisse mit anderen zu teilen.«

Bourne stemmte sich langsam und unter Qualen hoch, stützte sich mit einer Hand auf die Rückenlehne des

Stuhls. Er hatte weiche Knie, weil er so lange in halb liegender Haltung verbracht hatte.»Spalko hat Schiffer beseitigt, und ich vermute, dass er Dr. Sido hat — tot oder lebendig. Ich muss ihn daran hindern, alle Teilnehmer des Gipfeltreffens zu ermorden.«

Chan griff nach Conklins Handy, hielt es ihm hin.»Hier. Ruf die Agency an.«

«Sie würden mir doch nicht glauben! Die Agency hält mich für den Kerl, der Conklin und Panov in dem Haus in Manassas ermordet hat…«

«Dann rufe ich an. Selbst die CIA-Bürokratie kann einen anonymen Anruf wegen eines geplanten Anschlags auf den Präsidenten der Vereinigten Staaten nicht ignorieren.«

Bourne schüttelte den Kopf.»Für die CIA-Sicherheits-maßnahmen in Reykjavik ist ein gewisser Jamie Hull zuständig. Er würde bestimmt eine Möglichkeit finden, diese Warnung unter den Teppich zu kehren. «Seine Augen blitzten wieder. Die frühere Glanzlosigkeit war fast verschwunden.»Folglich bleibt nur eine andere Möglichkeit, aber ich glaube nicht, dass ich’s allein schaffen kann.«

«So, wie du aussiehst«, sagte Chan,»schaffst du überhaupt nichts mehr.«

Bourne zwang sich dazu, ihm in die Augen zu sehen.»Um so mehr Grund für dich, gemeinsame Sache mit mir zu machen.«

«Du spinnst wohl?«

Bourne ignorierte seine wachsende Feindseligkeit.»Du willst doch Spalko erledigen, genau wie ich. Wo ist der Haken?«

«Ich sehe nur Haken. «Chan grinste höhnisch.»Sieh dich doch an! Du bist erledigt.«

Bourne hatte sich von dem Stuhl gelöst, ging im Raum auf und ab, streckte seine Muskeln und wurde mit jedem Schritt, den er machte, kräftiger und selbstsicherer. Chan beobachtete ihn dabei und war ehrlich verblüfft.

Bourne wandte sich ihm zu und sagte:»Ich verspreche dir, dass du nicht alle schweren Sachen allein heben musst.«

Chan wies sein Angebot nicht rundweg zurück. Statt-dessen machte er widerstrebend ein Zugeständnis, ohne recht zu wissen, warum er das tat.»Zuerst müssen wir heil hier herauskommen.«

«Ja, ich weiß«, sagte Bourne.»Du hast’s geschafft, Feuer zu legen, und jetzt wimmelt’s hier von Feuerwehrleuten und bestimmt auch von Polizisten.«

«Ohne das Feuerwerk wäre ich tot.«

Bourne merkte, dass ihr spöttisches Geplänkel die Spannungen keineswegs abbaute. Es verstärkte sie im Gegenteil noch. Sie verstanden sich nicht darauf, miteinander zu reden. Er fragte sich, ob sie das jemals können würden.»Danke, dass du mir das Leben gerettet hast«, sagte er.

Chan konnte seinen Blick nicht erwidern.»Bild dir bloß nichts ein. Ich bin hergekommen, um Spalko zu erledigen.«

«Immerhin etwas«, sagte Bourne,»für das ich Stepan Spalko dankbar sein muss.«

Chan schüttelte den Kopf.»Das kann nicht funktionieren. Ich vertraue dir nicht, und du vertraust mir nicht.«

«Ich wäre bereit, es zu versuchen«, antwortete Bourne.»Diese Sache ist viel wichtiger als alles, was zwischen uns steht.«

«Sag mir nicht, was ich denken soll«, sagte Chan knapp.»Dafür brauche ich dich nicht; das habe ich nie nötig gehabt. «Er schaffte es, den Kopf zu heben und Bourne anzusehen.»Also gut, die Sache läuft folgendermaßen: Ich arbeite unter einer Bedingung mit dir zusammen. Du musst eine Möglichkeit finden, wie wir hier rauskommen.«

«Abgemacht. «Bournes Lächeln verblüffte Chan.»Im Gegensatz zu dir habe ich viele Stunden Zeit gehabt, darüber nachzudenken, wie man aus diesem Raum entkommen könnte. Ich habe angenommen, selbst wenn es mir irgendwie gelänge, mich aus dem Stuhl zu befreien, würde ich mit herkömmlichen Methoden nicht weit kommen. In meinem Zustand wäre ich bestimmt nicht mit Spalkos Wachleuten fertig geworden. Deshalb habe ich mir eine andere Lösung einfallen lassen.«

Chan war sichtlich ungehalten. Er ärgerte sich darüber, dass dieser Mann mehr wusste als er.»Und die wäre?«

Bourne nickte zu dem Abflussgitter hinüber.

«Das Abflussrohr?«, fragte Chan ungläubig.

«Wieso nicht?«Bourne kniete vor dem Gitter nieder.»Der Durchmesser reicht für einen Menschen aus. «Er machte eine Handbewegung, bevor er sein Schnappmesser aufspringen ließ und die Klinge in den schmalen Spalt zwischen Gitter und Eisenrahmen schob.»Nun hilf mir schon!«

Als Chan auf der anderen Seite des Gitters niederkniete, benützte Bourne die Messerklinge, um es leicht anzuheben. Chan stemmte es auf seiner Seite hoch. Bourne legte das Messer weg, griff ebenfalls zu und half ihm, das Gitter abzunehmen.

Chan merkte, dass die Anstrengung für Bourne schmerzhaft war. Im selben Augenblick stieg ein fast unheimliches Gefühl in ihm auf, das seltsam und vertraut zugleich war, eine Art Stolz, den er nur mit einiger Verzögerung und unter beträchtlichen Qualen akzeptieren konnte. Dies war ein Gefühl, das er als kleiner Junge oft empfunden hatte, bevor er unter Schock stehend, einsam und verlassen durch den Dschungel bei Phnom Penh geirrt war. Seit damals hatte er sich so erfolgreich abgeschüttet, dass solche Empfindungen nie ein Problem für ihn gewesen waren. Jedenfalls bisher nicht.

Sie rollten das Abdeckgitter beiseite, und Bourne hob den blutverkrusteten Verband auf, den Spalko ihm abgerissen hatte, und wickelte sein Handy darin ein. Dann steckte er es mit dem zugeklappten Schnappmesser ein.»Wer geht als Erster?«, fragte er.

Chan zuckte mit den Schultern, ohne sich irgendwie anmerken zu lassen, dass er beeindruckt war. Er konnte sich denken, wo dieses Abflussrohr endete, und vermutete, dass Bourne es ebenfalls wusste.»Es war deine Idee.«

Bourne ließ sich in das runde Loch hinunter.»Du wartest zehn Sekunden, dann kommst du nach«, sagte er noch, bevor er verschwand.

Annaka war in Hochstimmung. Als sie in Spalkos gepanzerter Limousine zum Flughafen rasten, wusste sie, dass nichts und niemand sie jetzt noch aufhalten konnte. Ihr Versuch, sich in letzter Minute bei Ethan Hearn rückzuversichern, war also doch überflüssig gewesen, aber sie bereute diesen Annäherungsversuch nicht. Es war immer besser, übervorsichtig zu sein, und als sie beschlossen hatte, sich Hearns Unterstützung zu sichern, war Spalkos Schicksal noch in der Schwebe gewesen. Als sie jetzt zu ihm hinübersah, wusste sie, dass sie nie an ihm hätte zweifeln dürfen. Er besaß den Mut, die Fähigkeiten und die weltweiten Verbindungen, um alles verwirklichen zu können — sogar diesen kühnen Handstreich, der ihm ungeheure Macht sichern würde. Sie musste sich eingestehen, dass sie skeptisch gewesen war, als er ihr erstmals erzählt hatte, was er plante, und sie war skeptisch geblieben, bis ihnen vorhin mühelos die Flucht durch einen alten Luftschutztunnel gelungen war, den Spalko entdeckt hatte, als er das Gebäude gekauft hatte. Bei der Renovierung hatte er jegliche Spur des Fluchttunnels aus den Bauplänen getilgt, sodass er bis zum heutigen Tag, an dem er ihn ihr gezeigt hatte, sein persönliches Geheimnis geblieben war.

Am Tunnelausgang hatten Limousine und Fahrer im rötlichen Abendlicht auf sie gewartet, und jetzt waren sie in schnellem Tempo auf der Stadtautobahn zum Flughafen Ferihegy unterwegs. Annaka rückte etwas näher an Stepan heran, und als er ihr sein charismatisches Gesicht zuwandte, nahm sie kurz seine Hand in ihre. Die blutige Fleischerschürze und die Latexhandschuhe hatte er irgendwo im Tunnel abgestreift. Er trug Jeans, ein frisches weißes Hemd und italienische Slipper. Niemand hätte ihm angesehen, dass er eine durchwachte Nacht hinter sich hatte.

Er lächelte.»Ich glaube, jetzt wäre ein Glas Champagner angebracht, findest du nicht auch?«

Sie lachte.»Du denkst wirklich an alles, Stepan.«

Er zeigte auf die Sektkelche in den Aussparungen der Türverkleidung neben ihr. Sie waren aus Glas, nicht aus unzerbrechlichem Kunststoff. Während sie sich zur Seite beugte, um die Gläser herauszunehmen, holte er eine Flasche Champagner aus dem Kühlfach. Draußen spiegelte sich die rote Scheibe der untergehenden Sonne in den Fenstern der Hochhäuser auf beiden Seiten der Autobahn.

Spalko riss die Folie ab, ließ den Korken knallen, füllte erst einen, dann den anderen Kelch mit dem schäumenden Champagner. Er stellte die Flasche weg, und sie stießen wortlos miteinander an. Sie tranken einen Schluck, und Annaka sah ihm dabei in die Augen. Sie waren wie Bruder und Schwester, standen sich sogar noch näher, weil auf ihnen nicht die häufig auftretende Geschwisterrivalität lastete. Von allen Männern, die sie kannte, genügte Stepan am ehesten ihren Ansprüchen. Nicht dass sie sich jemals nach einem Gefährten gesehnt hätte. Als Mädchen hätte sie gern einen Vater gehabt, aber das hatte nicht sein sollen. Stattdessen hatte sie sich für Stepan entschieden: stark, kompetent, unbesiegbar. Er verkörperte alles, was eine Tochter sich von ihrem Vater wünschen konnte.

Die Hochhäuser wurden weniger, als sie durch die äußeren Stadtbezirke fuhren. Das Abendlicht wurde schwächer, als die Sonne unterging. Hoch am Himmel standen rosa angestrahlte Wölkchen, und am Boden war es fast windstill — ideale Voraussetzungen für einen glatten Start des Privatjets.

«Wie wär’s mit ein paar Takten Musik zum Champagner«, schlug Spalko vor. Seine erhobene Hand lag auf dem über ihren Köpfen in den Dachhimmel eingebauten CD-Wechsler.»Was möchtest du hören? Bach? Beethoven? Nein, natürlich Chopin.«

Er wählte die entsprechende CD aus, und sein Zeigefinger drückte den Abspielknopf. Aber statt einer für ihren Lieblingskomponisten charakteristischen lyrischen Melodie hörte Annaka ihre eigene Stimme:

«Für Interpol arbeiten Sie nicht — Sie haben nicht ihre

Angewohnheiten. CIA? Nein, das glaube ich nicht. Stepan würde’s wissen, wenn die Amerikaner versuchen würden, seine Organisation zu unterwandern. Für wen also, hmmm?«

Annaka, die ihr Sektglas gerade wieder an die Lippen heben wollte, erstarrte.

«Starren Sie mich nicht so kreidebleich an, Ethan.«

Zu ihrem Entsetzen sah sie, dass Stepan sie über den Rand seines Kelchs hinweg angrinste.

«Mir ist das herzlich egal. Ich will nur eine Versiche-rungspolicefür den Fall, dass die Dinge hier schief gehen. Diese Versicherungspolice sind Sie.«

Spalkos Finger drückte die Stopptaste. Damit trat Stille ein, in der das einzige Geräusch das gedämpfte Brummen des starken Motors der Limousine war.

«Du fragst dich vermutlich, wie ich dir auf die Schliche gekommen bin.«

Annaka merkte, dass sie vorübergehend die Fähigkeit, sich zu artikulieren, eingebüßt hatte. Ihr Verstand war an genau dem Punkt eingefroren, an dem Stepan sich sehr liebenswürdig erkundigt hatte, welche Musik sie hören wolle. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als in die Zeit vor diesem Augenblick zurückzukehren. Ihr vor Schock wie gelähmter Verstand konnte nur über den Bruch in ihrer Realität nachdenken, der nicht anders war, als habe die Erde sich vor ihr aufgetan. Es gab nur ihr perfektes Leben, bevor Spalko die Aufnahme abgespielt hatte, und die Katastrophe, nachdem er sie abgespielt hatte.

Lächelte Stepan noch immer dieses schreckliche Krokodilslächeln? Sie merkte, dass sie Schwierigkeiten hatte, deutlich zu sehen. Ohne es richtig zu merken, fuhr sie sich mit dem Handrücken über die Augen.

«Mein Gott, Annaka, sind das echte Tränen?«Spalko schüttelte bedauernd den Kopf.»Du hast mich enttäuscht, Annaka, obwohl ich mich ehrlich gesagt gefragt habe, wann du mich verraten würdest. In diesem Punkt hatte dein Mr. Bourne allerdings recht.«

«Stepan, ich…«Sie verstummte von selbst. Sie hatte die eigene Stimme nicht wiedererkannt und wollte auf keinen Fall betteln. Ihr Leben war schon elend genug.

Er hielt etwas zwischen Daumen und Zeigefinger hoch: eine kleine Scheibe, noch kleiner als eine Uhrenbatterie.»Mit einer Wanze dieser Art in seinem Büro habe ich Hearn überwacht. «Er lachte knapp.»Die Ironie liegt darin, dass ich ihn eigentlich nicht verdächtigt habe. Aber jeder neue Angestellte wird mindestens ein halbes Jahr lang überwacht. «Er ließ die Scheibe mit der Geschicklichkeit eines Magiers verschwinden.»Pech für dich, Annaka. Glück für mich.«

Er leerte sein Glas und stellte es ab. Sie hatte sich noch immer nicht bewegt. Sie saß mit durchgedrücktem Rücken und angewinkeltem Ellbogen da. Ihre Finger umfassten den Stiel des Kelchglases.

Er betrachtete sie zärtlich.»Weißt du, Annaka, wärst du jemand anders, wärst du schon tot. Aber wir haben eine gemeinsame Vergangenheit, wir haben eine gemeinsame Mutter, wenn man eine Definition strapazieren will. «Er legte den Kopf schief, sodass eine Gesichtshälfte das letzte Abendlicht reflektierte. Diese Seite seines Gesichts, deren Haut porenlos wie Kunststoff war, glänzte wie die Fensterscheiben der Hochhäuser, die jetzt weit hinter ihnen lagen. Bis zur Flughafenzufahrt war das Gebiet beiderseits der Stadtautobahn nur sehr dünn besiedelt.

«Ich liebe dich, Annaka. «Mit einem Arm umschlang er ihre Taille.»Ich liebe dich auf eine Weise, wie ich nie eine andere Frau lieben könnte. «Der Schussknall der kleinen Pistole, die er Bourne abgenommen hatte, klang erstaunlich gedämpft. Annaka wurde in seinen Arm zurückgeworfen, der sie liebevoll umfing, und ihr Kopf fuhr ruckartig hoch. Er konnte das Zittern spüren, das ihren Körper durchlief, und wusste, dass die Kugel ins Herz gegangen sein musste. Sein Blick ließ sie nicht mehr los.»Wirklich jammerschade, nicht wahr?«

Er fühlte, wie ihr warmes Blut über seine Hand lief und auf das Leder des Sitzes tropfte. Ihre Augen schienen zu lächeln, aber ansonsten war ihr Gesicht völlig ausdruckslos. Selbst im Augenblick des Todes, das sah er, zeigte sie keine Angst. Nun, das war doch etwas, nicht wahr?

«Alles in Ordnung, Herr Spalko?«, fragte sein Fahrer von vorn aus.

«Jetzt schon«, sagte Stepan Spalko.

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