David Webb, Linguistikprofessor an der Georgetown University, verschwand fast hinter dem Stapel korrigierter Semesterarbeiten, den er vor dem Bauch trug. Er hastete die moderigen rückwärtigen Korridore der gigantischen Healy Hall entlang. Er musste zu Theodore Barton, dem Dekan seiner Fakultät, und er war spät dran — deshalb benützte er diese Abkürzung, die er schon vor langer Zeit entdeckt hatte, durch enge, schlecht beleuchtete Flure, die nur wenige Stundenten kannten oder benützen mochten.
Ein milder Gezeitenwechsel prägte sein von universitären Verpflichtungen strukturiertes Leben. Webbs Jahr wurde von den Semestern an der Georgetown University geprägt. Der tiefe Winter, mit dem sie begannen, ging widerstrebend in einen zögerlichen Frühling über und endete in der schwülen Hitze der letzten Wochen des zweiten Semesters. Aber ein Teil seines Ichs kämpfte gegen professorale Gelassenheit an: der Teil, der sich an sein früheres Leben in einem US-Geheimdienst erinnerte und um dessentwillen er die Freundschaft mit Alexander Conklin, seinem ehemaligen Führungsoffizier, sorgsam pflegte.
Er wollte eben um eine Ecke biegen, als er laute, schroffe Stimmen und spöttisches Lachen hörte und bedrohlich wirkende Schatten über die Wand huschen sah.
«Pass auf, wir lass’n deine Zunge hint’n aus dem Kopf rauskomm’, Muttaficka!«
Webb ließ den Papierstapel fallen, den er trug, und spurtete um die Ecke. Jetzt sah er drei junge Schwarze in knöchellangen Mänteln, die einen drohenden Halbkreis um einen Asiaten bildeten, den sie gegen die Flurwand gedrängt hatten. Sie hatten eine Art, mit leicht gebeugten Knien, lockerem Rumpf und schwingenden Armen dazustehen, die ihre ganzen Körper wie stumpfe, hässliche Aspekte von Waffen erscheinen ließ, die geladen, gespannt und schussbereit waren. Jäh erschrocken sah er, dass ihr Opfer Rongsey Siv war, einer seiner liebsten Studenten.
«Muttaficka«, knurrte einer, drahtig, mit dem unruhigen, aufsässigen Gesichtsausdruck eines Süchtigen auf Entzug,»wir woll’n uns hier Kohle besorgen, damit wir Bling-Bling eintausch’n könn.«
«Bling-Bling kannste nie genug ham«, sagte ein anderer mit einem auf der Wange eintätowierten Adler. Er drehte einen massiven Goldring, einen der vielen Ringe an den Fingern seiner Rechten, hin und her.»Oder weißte nich, was Bling-Bling is, Schlitzauge?«
«Yeah, Schlitzauge«, sagte der Kerl auf Entzug glotzäugig.»Du siehst nich aus, als wennde Scheiße wüsstest.«
«Er will uns daran hindern«, sagte der Tätowierte, indem sich näher zu Rongsey heranbeugte.»Yeah, Schlitzauge, was haste vor, willste uns mit Kung-Fucking-Fu umleg’n?«
Sie lachten rau und imitierten die Tritte von Kickboxern gegen Rongsey, der sich noch ängstlicher an die Wand drängte, als sie näher heranrückten.
Der dritte Schwarze, dick mit Muskeln bepackt, stämmig, zog aus den weiten Falten seines langen Mantels einen Baseballschläger hervor.»Yeah, genau. Hände hoch, Schlitzauge! Wir brech’n dir jetzt die Knöchel. «Er klatschte den Schläger in seine Handfläche.»Willstu alle auf einmal oder einen nach dem anderen?«
«Nah«, rief der Kerl auf Entzug,»aussuch’n darf der sich nix. «Er holte ebenfalls einen Baseballschläger unter seinem Mantel hervor und trat drohend auf Rongsey zu.
Als der drahtige Junge mit dem Schläger ausholte, stürzte Webb sich auf sie. Seine Annäherung geschah so lautlos, und die drei waren so darauf konzentriert, wie sie ihr Opfer misshandeln würden, dass sie ihn nicht wahrnahmen, bis er über sie herfiel.
Bevor der Schläger des Süchtigen auf Entzug auf Rongseys Kopf herabkrachen konnte, bekam Webb ihn mit der linken Hand zu fassen. Rechts neben ihm fluchte der Tätowierte gewaltig, schwang die Fäuste, deren Knöchel von scharfkantigen Ringen strotzten, und zielte damit auf Webbs Rippen.
In diesem Augenblick übernahm die Bourne-Identität, aus einem geheimen, verborgenen Winkel in Webbs Kopf kommend, energisch das Kommando. Webb lenkte den Fausthieb des Tätowierten mit dem Bizeps ab, trat vor und rammte einen Ellbogen gegen das Brustbein des Angreifers. Der Tätowierte ging nach seiner Brust krallend zu Boden.
Der dritte Gangster, größer als die beiden anderen, ließ fluchend seinen Baseballschläger fallen und zog ein Schnappmesser. Er stürzte sich auf Webb, der den Angriff unterlief und mit einem kurzen, harten Schlag die Unterseite des Handgelenks des Angreifers traf. Das Schnappmesser fiel auf den Korridorboden, rutschte scheppernd davon. Webb hakte seinen linken Fuß hinter den Knöchel des anderen und riss ihn hoch. Der große
Gangster krachte auf den Rücken, wälzte sich herum, rappelte sich auf und ergriff die Flucht.
Bourne riss dem jungen Schwarzen auf Entzug den Baseballschläger aus den Händen.»Scheißkerl!«, murmelte der Drahtige. Seine Pupillen waren geweitet, wegen irgendwelcher Drogen, die er genommen hatte, unscharf eingestellt. Er zog eine Pistole — ein billiges, altes Ding — und zielte damit auf Webb.
Bourne warf mit tödlicher Zielsicherheit den Schläger, traf den Drahtigen zwischen den Augen. Er torkelte mit einem Aufschrei zurück, und die Pistole flog aus seiner Hand.
Durch den Kampflärm alarmiert, rannten nun zwei Wachmänner des Sicherheitsdiensts der Universität um die Ecke. Sie trabten an Webb vorbei und nahmen die Verfolgung der Gangster auf, die ohne einen Blick zurück flüchteten, wobei die beiden anderen den Jungen auf Entzug zwischen sich stützten. Mit den Wachmännern dicht auf den Fersen stürmten sie durch einen Hinterausgang des Gebäudes in den sonnenhellen Nachmittag hinaus.
Trotz des Auftauchens der Wachmänner spürte Webb, dass Bournes Begierde, die Schläger zu verfolgen, heiß durch seinen Körper wogte. Wie rasch er aus seinem psychischen Schlaf erwacht war, wie mühelos er die Kontrolle über seinen Körper übernommen hatte! Weil er’s gewollt hatte? Webb atmete tief durch, gewann halbwegs die Beherrschung zurück und wandte sich Rongsey Siv zu.
«Professor Webb!«Rongsey versuchte, sich zu räuspern.»Ich weiß nicht, wie…«Er erschien plötzlich hilflos und überwältigt. Hinter seiner Brille wirkten seine großen schwarzen Augen noch größer. Seine Miene war wie immer undurchdringlich, aber in diesen Augen konnte Webb alle Angst der Welt erkennen.
«Alles wieder in Ordnung. «Webb legte Rongsey einen Arm um die Schultern. Wie immer machte seine Zuneigung zu dem kambodschanischen Flüchtling sich trotz seiner professoralen Zurückhaltung bemerkbar. Dagegen war er machtlos. Rongsey hatte viel durchgemacht — er hatte fast seine gesamte Familie im Krieg verloren. Rongsey und Webb hatten im selben südostasiatischen Dschungel gelebt, und trotz aller Bemühungen konnte Webb sich nicht völlig von der Erinnerung an diese schwülheiße Welt lösen. Einem wiederkehrenden Fieber gleich verließ sie einen nie ganz. Webb spürte einen Schauer der Erinnerung wie einen Wachtraum.
«Loak soksapbaee chea tay?« Wie geht es Ihnen? fragte er auf Khmer.
«Mit geht’s gut, Professor«, antwortete Rongsey in seiner Muttersprache.»Aber ich weiß nicht… ich meine, wie haben Sie…?«
«Wollen wir nicht ins Freie gehen?«, schlug Webb vor. Den Termin bei Barton hatte er längst versäumt, aber das war ihm herzlich egal. Er hob das Schnappmesser und die Pistole auf. Als er die Pistole überprüfte, entlud und abdrückte, brach der Schlagbolzen ab. Die nutzlose Waffe warf er in einen Abfallkorb, aber das Schnappmesser steckte er ein.
Hinter der Korridorecke half Rongsey ihm, die verstreuten Semesterarbeiten einzusammeln. Dann gingen sie schweigend durch die Flure, die umso belebter wurden, je näher sie der Vorderseite des Gebäudes kamen. Webb erkannte die besondere Qualität dieses Schweigens, das schwerfällig träge Gewicht der nach einem Akt der Gewalt zur Normalität zurückkehrenden Zeit. Dies war etwas aus dem Krieg, ein Dschungelerlebnis; seltsam und beunruhigend, dass einem so etwas auf dem belebten Campus einer Universität mitten in einer Großstadt passieren konnte.
Sie verließen den Korridor und schlossen sich den Scharen von Studenten an, die durch den Hauptausgang der Healy Hall strömten. Im Boden vor den Türen leuchtete das in den Fußboden eingelassene heilige Wappen der Georgetown University. Die meisten Studenten gingen darum herum, denn ein alter Aberglaube besagte, wer auf das Wappen trete, werde sein Studium niemals abschließen. Rongsey gehörte zu denen, die einen weiten Bogen darum machten, aber Webb marschierte ohne die geringsten Bedenken geradewegs darüber.
Draußen standen sie in der milden Frühlingssonne, hatten Bäume und den alten viereckigen Innenhof vor sich und atmeten Luft mit einem Hauch Blütenduft. Hinter ihnen erhob sich die massive Healy Hall mit imposanter Klinkerfassade im georgianischen Stil, Dachgauben aus dem 19. Jahrhundert und einem mittig angeordneten, sechzig Meter hohen Glockenturm.
Der Kambodschaner wandte sich an Webb.»Professor, ich danke Ihnen. Wären Sie nicht gekommen.«
«Rongsey«, sagte Webb freundlich,»möchten Sie darüber reden?«
Die Augen des Studenten waren dunkel, unergründlich.»Was gibt’s da zu sagen?«
«Ich denke, das würde von Ihnen abhängen.«
Rongsey zuckte mit den Schultern.»Mir geht’s wieder gut, Professor Webb. Wirklich. Ich bin nicht zum ersten Mal beschimpft worden.«
Webb betrachtete Rongsey noch einige Sekunden lang und wurde dabei von plötzlicher Rührung erfasst, die seine Augen brennen ließ. Er wollte den Jungen in die Arme schließen, ihn an sich drücken und ihm versprechen, ihm werde nie wieder etwas Schlimmes passieren. Aber er wusste, dass Rongseys buddhistische Erziehung ihm nicht gestatten würde, die Geste zu akzeptieren. Wer konnte beurteilen, was hinter der undurchdringlichen Fassade dieses Gesichts vorging? Webb hatte viele andere wie Rongsey gesehen, die durch die Grausamkeiten von Krieg und kulturellem Hass gezwungen gewesen waren, Augenzeugen von Tod, dem Zusammenbruch einer Zivilisation und weiteren Tragödien zu sein, die die meisten Amerikaner nicht begreifen konnten. Er empfand eine starke Nähe zu Rongsey, von schrecklicher Traurigkeit getönte emotionale Bande, eine Bestätigung der Wunde in seinem Inneren, die nie ganz heilen würde.
Alle diese Gefühle standen zwischen ihnen: vielleicht im Stillen erkannt, aber niemals ausgesprochen. Mit leichtem, fast traurigem Lächeln dankte Rongsey ihm nochmals förmlich, und sie verabschiedeten sich voneinander.
Webb stand allein zwischen den vorbeihastenden Studenten und Dozenten — und wusste doch, dass er nicht wirklich allein war. Trotz aller Bemühungen hatte die aggressive Persönlichkeit Jason Bournes wieder einmal die Oberhand gewonnen. Er atmete langsam und tief, konzentrierte sich angestrengt und wandte die mentalen Techniken an, die sein Freund, der Psychiater Mo Panov ihn gelehrt hatte, um die Bourne-Identität zu verdrängen. Als Erstes konzentrierte er sich auf seine Umgebung, auf das Blau und Gold des Frühlingsnachmittags, auf den grauen Stein und die roten Klinker der Gebäude rings um den Innenhof, auf die Bewegungen der Studenten, die lächelnden Gesichter der Mädchen, das Lachen der Jungen, die ernsten Stimmen der Professoren. Er absorbierte jedes einzelne dieser Elemente vollständig und erdete sich in Raum und Zeit. Dann, erst dann richtete er seine Gedanken nach innen.
Vor vielen Jahren war er als Diplomat in Phnom Penh stationiert gewesen. Damals war er verheiratet gewesen — nicht mit seiner jetzigen Frau Marie, sondern mit einer Thailänderin namens Dao. Sie hatten zwei Kinder, Joshua und Alyssa, und wohnten in einem Haus am Fluss. Amerika führte Krieg gegen Nordvietnam, aber der Krieg war nach Kambodscha übergeschwappt. Eines Nachmittags, als er im Dienst gewesen war und seine Frau mit den Kindern im Fluss gebadet hatte, waren sie von einem Tiefflieger beschossen und getötet worden.
Webb war vor Kummer fast wahnsinnig geworden. Schließlich war er aus seinem Haus in Phnom Penh geflüchtet und als Mann ohne Vergangenheit und ohne Zukunft in Saigon angekommen. Es war Alex Conklin gewesen, der den todunglücklichen, halb verrückten David Webb dort von der Straße geholt und einen erstklassigen Geheimdienstagenten aus ihm geformt hatte. In Saigon hatte Webb töten gelernt, hatte den eigenen Selbsthass nach außen projiziert und seinen Zorn gegen andere gerichtet. Nachdem ein Mitglied von Conklins Gruppe — ein bösartiger Gangster namens Jason Bourne als Spion enttarnt worden war, hatte Webb ihn liquidiert. Webb hatte die Identität Bournes hassen gelernt, aber in Wirklichkeit war sie oft genug seine Rettung ge-wesen. Jason Bourne hatte ihm häufiger das Leben gerettet, als Webb sich erinnern konnte. Eine amüsante Vorstellung, wenn sie nicht buchstäblich wahr gewesen wäre.
Jahre später, als sie beide nach Washington zurückgekehrt waren, hatte Conklin ihm einen langfristigen Auftrag erteilt. Als Geheimagent war er faktisch ein» Schläfer «gewesen und hatte den Namen Jason Bourne — eines lange toten, von allen vergessenen Mannes — angenommen. Drei Jahre lang war Webb Bourne gewesen: Er hatte sich in einen berüchtigten international agierenden Attentäter verwandelt, um einen extrem gewieften Terroristen zu fassen.
Aber in Marseille war sein Einsatz gründlich schief gegangen. Er war angeschossen und als vermeintlich Toter ins nachtdunkle Mittelmeer geworfen worden. Doch er war von der Besatzung eines Fischerboots aus dem Wasser gezogen und in dem Hafen, in dem sie ihn an Land gesetzt hatte, von einem Säufer von Arzt gesundgepflegt worden. Das einzige Problem war, dass er durch den Schock seines Beinahe-Todes das Gedächtnis verloren hatte. Langsam zurückgekehrt waren Bournes Erinnerungen. Erst viel später hatte er mit Hilfe seiner zukünftigen Frau Marie erkannt, dass er in Wirklichkeit David Webb war. Inzwischen war die Jason-Bourne-Persönlichkeit jedoch zu tief in ihm verwurzelt, zu mächtig und zu gerissen, um zu sterben.
Letztlich war er eine gespaltene Persönlichkeit geworden: David Webb, der Linguistikprofessor, mit einer neuen Frau und abermals zwei Kindern, und Jason Bourne, der von Alex Conklin zu einem erstklassigen Spion ausgebildete Geheimagent. In Krisensituationen hatte Conklin manchmal auf Bournes Talente zurückgegriffen, und Webb hatte widerstrebend seine Pflicht getan. Aber in Wirklichkeit hatte Webb seine Bourne-Persönlichkeit kaum unter Kontrolle. Was vorhin mit Rongsey und den drei Schlägertypen passiert war, war Beweis genug. Trotz Webbs endloser Therapie bei Panov hatte Bourne eine Art, sich in den Vordergrund zu drängen, gegen die Webb machtlos war.
Chan, der das Gespräch zwischen David Webb und dem kambodschanischen Studenten von jenseits des Innenhofs aus beobachtet hatte, verschwand in dem Gebäude schräg gegenüber der Healy Hall und stieg die Treppe in den zweiten Stock hinauf. Da er wie die meisten Studenten gekleidet war und viel jünger als seine siebenundzwanzig Jahre aussah, würdigte ihn niemand eines zweiten Blicks. Zu seiner Khakihose trug er eine Jeansjacke und über einer Schulter einen sehr geräumigen Rucksack. Seine Laufschuhe quietschten nicht, als er an den Türen von Seminarräumen vorbei den Flur entlangging. Vor seinem inneren Auge stand ein klares Bild des Blicks über den Innenhof. Er berechnete wieder Winkel, wobei er berücksichtigte, dass die alten Bäume sein Ziel verdecken könnten.
Er machte vor der sechsten Tür Halt, hörte drinnen einen Professor dozieren. Seine Ausführungen über Ethik nötigten Chan ein ironisches Lächeln ab. Seiner Erfahrung nach — die groß und vielseitig war — war Ethik so tot und sinnlos wie Latein. Er ging zum nächsten Raum weiter, der frei war, wie er bereits erkundet hatte, und trat ein.
Nun bewegte er sich rascher, schloss die Tür hinter sich, sperrte ab, durchquerte den Raum, öffnete eines der auf den Innenhof hinausführenden Fenster und machte sich an die Arbeit. Aus seinem Rucksack holte er ein 7,62-mm-Scharfschützengewehr SWD Dragunow mit ausklappbarer Schulterstütze. Er setzte das Zielfernrohr auf und stützte die Waffe auf die Fensterbank. Durchs Zielfernrohr fand er David Webb, der jetzt allein vor der Healy Hall stand. Unmittelbar links neben ihm ragten Bäume auf. Von Zeit zu Zeit verdeckte ihn ein vorbeigehender Student. Chan holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. Er zielte auf Webbs Kopf.
Webb schüttelte den Kopf, als könne er so die Wirkung seiner Erinnerungen an die Vergangenheit loswerden, und konzentrierte sich nochmals auf seine unmittelbare Umgebung. Die jungen Blätter raschelten in der auffrischenden Brise, ihre Spitzen waren von Sonnenlicht vergoldet. In der Nähe lachte eine Studentin, die ihre Bücher an sich gedrückt trug, über die Pointe eines Witzes. Aus einem offenen Fenster wehte undeutlich Popmusik herab. Webb, der weiter an all die Dinge dachte, die er zu Rongsey hatte sagen wollen, war kurz davor, die Stufen zur Healy Hall hinaufzugehen, als ein leises Fffftt! an sein Ohr drang. Er reagierte instinktiv, trat in den gesprenkelten Schatten unter den Bäumen.
Du wirst beschossen! rief Bournes nur allzu vertraute Stimme, die er wieder in seinem Kopf hörte. Los, beweg dich! Und Webbs Körper reagierte hastig, während ein weiteres Geschoss aus einer Waffe mit Schalldämpfer die Baumrinde neben seiner Wange zersplittern ließ.
Ein erstklassiger Schütze. Als Reaktion eines Organismus, der sich angegriffen sah, rasten Webb jetzt Bournes Gedanken durch den Kopf.
Vor Webbs Augen stand die gewöhnliche Welt, aber die parallel dazu existierende außergewöhnliche Welt, Jason Bournes Welt — geheim, verschlossen, privilegiert, tödlich —, flammte in seiner Vorstellung auf wie Napalm. Binnen eines einzigen Herzschlags war er aus David Webbs Alltag gerissen und von allem und allen getrennt worden, die Webb nahe standen. Auch seine zufällige Begegnung mit Rongsey schien jetzt zu einem anderen Leben zu gehören. Hinter dem Baum stehend, wo der Scharfschütze ihn nicht sehen konnte, griff er um den Stamm und ertastete mit der Spitze des Zeigefingers das Einschussloch. Er hob den Kopf. Es war Jason Bourne, der die Schussbahn zu einem der Fenster im zweiten Stock eines Gebäudes auf der anderen Seite des Innenhofs zurückverfolgte.
Überall um ihn herum liefen, schlenderten, redeten, diskutierten und debattierten Studenten der Georgetown University. Sie hatten natürlich nichts gesehen, und falls jemand zufällig etwas gehört hatte, erkannte er das Geräusch eines fliegenden Geschosses nicht und vergaß das sonderbare Zischen gleich wieder. Webb verließ seine Deckung hinter dem Baum und mischte sich rasch unter eine Gruppe von Studenten. Er bewegte sich eilig, passte sein Tempo aber möglichst ihrem an. Sie waren sein bester Schutz, weil sie die Visierlinie des Scharfschützen verdeckten.
Er hatte das Gefühl, nur halb bei Bewusstsein zu sein: ein Schlafwandler, der trotzdem alles mit gesteigerter Wahrnehmungsfähigkeit sah und fühlte. Eine Komponente dieser Wahrnehmung war Verachtung für die Zivilisten — auch für David Webb —, die die gewöhnliche Welt bevölkerten.
Nach dem zweiten Schuss hatte Chan sich verwirrt zurückgezogen. Verwirrung war ein Zustand, mit dem er nicht vertraut war. Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren, um zu analysieren, was passiert war. Statt wie von Chan erwartet in Panik zu geraten und wie ein ängstliches Schaf in die Healy Hall zurückzulaufen, hatte Webb gelassen Deckung hinter Bäumen gesucht. Schon das war unwahrscheinlich gewesen — und passte ganz und gar nicht zu dem in Spalkos Dossier kurz beschriebenen Mann —, aber dann hatte Webb mit Hilfe des Einschusslochs im Baumstamm die Flugbahn des zweiten Geschosses rekonstruiert. Indem er Studenten als Deckung benützte, war er jetzt zu diesem Gebäude unterwegs. Statt zu flüchten, ging er zum Angriff über. Das war unglaublich. Durch diese unerwartete Wendung leicht entnervt, zerlegte Chan rasch das Gewehr und verstaute es wieder im Rucksack. Webb hatte die Stufen vor dem Gebäude erreicht. Er würde in wenigen Minuten hier sein.
Bourne löste sich aus dem Fußgängerstrom und rannte in das Gebäude. Drinnen stürmte er die Treppe in den zweiten Stock hinauf. Oben wandte er sich nach links. Die siebte Tür rechts: ein Seminarraum. Auf dem Korridor war das Stimmengewirr von Studenten aus aller Welt zu hören — Afrikaner, Asiaten, Südamerikaner, Europäer. Alle Gesichter, selbst nur flüchtig wahrgenommene, wurden von Jason Bournes fotografischem Gedächtnis registriert.
Das halblaute Gemurmel der Studenten und ihr gelegentliches Lachen täuschten über die in seiner unmittelbaren Umgebung lauernde Gefahr hinweg. Als er sich der Tür des Seminarraums näherte, ließ er die Klinge des erbeuteten Messers herausschnappen und nahm es so in die Faust, dass sie zwischen dem zweiten und dritten Finger seiner Rechten hervorsah. Mit einer flüssigen Bewegung stieß er die Tür auf, rollte sich über eine Schulter ab und landete mit einem Satz hinter dem massiven Eichenpult, das etwa zweieinhalb Meter von der Tür entfernt stand. Seine Hand mit dem Messer war stoßbereit erhoben — er war auf alles vorbereitet.
Er richtete sich vorsichtig auf. Ein leerer Seminarraum, nur von Kreidestaub und marmorierten Sonnenflecken erfüllt, grinste ihn an. Er stand einen Augenblick da und sah sich um: mit geweiteten Nasenlöchern, als könne er die Witterung des Scharfschützen aufnehmen, sein Bild aus dem Nichts vor sich erscheinen lassen. Er trat an die Fenster. Eines, das vierte Fenster von links, stand offen. Er blieb dort stehen, starrte zu der Stelle unter dem Baum hinüber, an der er vor kurzem im Gespräch mit Rongsey gestanden hatte. Hier hatte der Scharfschütze gestanden. Bourne glaubte zu sehen, wie er das Gewehr auf der Fensterbank aufgelegt — ein Auge ein paar Zentimeter hinter dem lichtstarken Zielfernrohr — und diagonal über den Innenhof gezielt hatte. Das Spiel von Licht und Schatten, die vorbeihastenden Studenten, plötzlich ausbrechendes Lachen oder Widerworte. Sein Finger am Abzug, langsam den Druckpunkt fassend. Fffftt! Fffftt! Ein Schuss, zwei.
Bourne studierte die Fensterbank. Nach einem Blick in die Runde trat er an die Blechrinne unter der Wandtafel und kratzte Kreidestaub zusammen. Damit kehrte er ans Fenster zurück und blies den Staub vorsichtig von der Handfläche auf den polierten Schiefer der Fensterbank. Dort zeigte sich kein einziger Fingerabdruck. Der
Stein war abgewischt worden. Er kniete sich hin und suchte Wand und Fußboden unter dem Fenster ab. Wieder nichts — kein verräterischer Zigarettenstummel, keine ausgefallenen Haare, keine leeren Patronenhülsen. Der pedantische Attentäter war so professionell verschwunden, wie er aufgetaucht war. Bournes Herz jagte, sein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Wer wollte ihn ermorden lassen? Bestimmt niemand aus seinem gegenwärtigen Leben. Das schlimmste Vorkommnis war die Auseinandersetzung, die er letzte Woche mit Bob Drake, dem als lästigen Langweiler bekannten Dekan der Ethischen Fakultät, gehabt hatte. Nein, diese Bedrohung kam aus Jason Bournes Welt. Natürlich gab es aus seiner Vergangenheit viele Kandidaten, aber wie viele würden die Verbindung zwischen Jason Bourne und David Webb herstellen können? Das war die eigentliche Frage, die ihm Sorgen machte. Obwohl ein Teil seines Ichs heimfahren wollte, um diese Sache mit Marie zu besprechen, wusste er, dass der einzige Mensch, der genügend über Bournes Schattenexistenz wusste, um ihm helfen zu können, Alex Conklin war — der Mann, der Bourne wie ein Zauberer aus dem Nichts erschaffen hatte.
Er trat an das Wandtelefon, nahm den Hörer ab und tippte seinen persönlichen Zugangscode ein. Als er eine Amtsleitung bekam, wählte er Alex Conklins Privatnummer. Conklin, der bei der CIA nur noch einen Teilzeitjob hatte, würde zu Hause sein. Bourne hörte ein Besetztzeichen.
Was tun? Er konnte hier darauf warten, dass Alex zu telefonieren aufhörte — was eine halbe Stunde und länger dauern konnte, wie er aus Erfahrung wusste —, oder zu ihm hinausfahren. Das offene Fenster schien ihn zu ver-spotten. Es wusste mehr darüber, was hier passiert war, als er selbst.
Er verließ den Raum, ging wieder die Treppe hinunter. Ohne sich dessen bewusst zu sein, suchte er die Gesichter der Entgegenkommenden ab, verglich sie mit allen, die ihm zuvor begegnet waren.
Bourne hastete über den Campus, erreichte bald den Parkplatz für Dozenten. Er wollte schon in sein Auto steigen, als ihm Bedenken kamen. Eine rasche, aber gründliche Untersuchung der Außenseite und des Motorraums zeigte ihm, dass niemand sich an seinem Wagen zu schaffen gemacht hatte. Er setzte sich aufatmend ans Steuer, ließ den Motor an und fuhr vom Campus.
Alex Conklin lebte auf seinem Landsitz in Manassas, Virginia. Sobald Webb die Außenbezirke von Georgetown erreichte, leuchtete der Himmel in einem intensiveren Blau; zugleich setzte eine fast unheimliche Stille ein, als halte die vorbeiziehende Landschaft den Atem an.
Ähnlich wie für seine Bourne-Persönlichkeit empfand Webb zugleich Liebe und Hass für Conklin. Er war Vater, Beichtvater, Mitverschwörer und Ausbeuter. Alex Conklin verwahrte die Schlüssel zu Bournes Vergangenheit. Er musste jetzt unbedingt mit Conklin sprechen, denn Alex war der Einzige, der wissen würde, wie jemand, der Jason Bourne umlegen wollte, David Webb auf dem Campus der Georgetown University gefunden hatte.
Er hatte die Großstadt hinter sich gelassen, und als er in Virginia übers Land fuhr, schlug das Wetter um. Dichte Wolkenbänke verdeckten die Sonne, und auffrischender Wind bewegte das Grün der Hügel Virginias.
Er trat das Gaspedal weiter durch, und der große Wagen schoss mit aufbrummendem Motor vorwärts.
Als er den überhöhten Kurven des Highways folgte, fiel ihm plötzlich ein, dass er Mo Panov seit über einem Monat nicht mehr gesehen hatte. Mo, ein ihm von Conklin empfohlener Psychologe der Agency, bemühte sich, Webbs Persönlichkeitsspaltung zu überwinden, die Bourne-Identität endgültig zu unterdrücken und Webb zu helfen, seine verlorenen Erinnerungen wiederzufinden. Dank Mos Techniken hatte Webb erlebt, wie Bruchstücke von verloren geglaubten Erinnerungen wieder in seinem Bewusstsein auftauchten. Aber diese Arbeit war mühsam und anstrengend, deshalb war es nicht ungewöhnlich für ihn, die Sitzungen jeweils zum Semesterende, wenn sein Leben unerträglich hektisch wurde, für einige Zeit zu unterbrechen.
Er bog vom Highway ab und folgte einer kleineren Makadamstraße nach Nordwesten. Weshalb hatte er gerade jetzt an Panov denken müssen? Bourne hatte gelernt, auf seine Sinne und seine Intuition zu vertrauen. Dass Mo aus heiterem Himmel aufgetaucht war, war eine Art Signal. Welche Bedeutung hatte Panov im Augenblick für ihn? Er verkörperte Erinnerung, ja, aber was noch? Bourne dachte zurück. Bei ihrem letzten Treffen hatten Panov und er über Stille gesprochen. Mo hatte ihm erklärt, Stille sei ein nützliches Werkzeug für Erinnerungsarbeit. Der Verstand, der tätig bleiben wollte, verabscheute Stille. Konnte man im Bewusstsein eine ausreichend wirksame Stille herstellen, war es möglich, dass verloren geglaubte Erinnerungen auftauchten, um die Leere zu füllen. Okay, sagte Bourne sich, aber wieso denkst du gerade jetzt an Stille?
Den Zusammenhang erkannte er erst, als er auf
Conklins lange, elegant geschwungene Zufahrt abgebogen war. Der Attentäter hatte einen Schalldämpfer benützt, der vor allem verhindern sollte, dass der Schütze entdeckt wurde. Aber ein Schalldämpfer hatte auch Nachteile. Bei einer Waffe mit großer Reichweite, wie der Scharfschütze sie benützt hatte, verringerte er die Treffsicherheit erheblich. Er hätte auf Bournes Oberkörper zielen sollen — dort war die Trefferwahrscheinlichkeit wegen der Körpermasse größer —, aber stattdessen hatte er auf den Kopf gezielt. Das war unlogisch, wenn man voraussetzte, dass er Bourne hatte erschießen wollen. Hatte er jedoch nur versucht, ihn zu erschrecken, ihn zu warnen… dann war das etwas anderes. Der unbekannte Scharfschütze besaß also ein Ego, aber er war kein Angeber; er hatte keinen Beweis seiner Tüchtigkeit zurückgelassen. Und trotzdem hatte er einen bestimmten Zweck verfolgt — so viel war klar.
Bourne fuhr an der hoch aufragenden missgestalteten Ruine der alten Scheune, den übrigen kleineren Nebengebäuden — Wirtschaftsgebäude, Lagerschuppen und dergleichen — vorbei. Dann kam das Herrenhaus in Sicht. Es stand zwischen hohen Tannen, Gruppen von Birken und Blauzedern: alte Bäume, die seit fast sechzig Jahren hier wuchsen und ein Jahrzehnt älter als das Steinhaus waren. Das Anwesen hatte einem inzwischen verstorbenen General der Army gehört, der tief in geheime und ziemlich unappetitliche Aktivitäten verwickelt gewesen war. Daher war das Herrenhaus — tatsächlich das ganze Grundstück — mit zahlreichen Geheimgängen samt ihren Ein- und Ausgängen untertunnelt. Bourne konnte sich vorstellen, dass es Conklin Spaß machte, in so einem Haus voller Geheimnisse zu leben.
Als er dann vorfuhr, sah er, dass vor dem Haus neben Conklins 7er BMW auch Mo Panovs Jaguar parkte. Auf dem Weg über den bläulichen Sandsteinschotter fühlte er sein Herz plötzlich leichter werden. Seine beiden besten Freunde — beide auf ihre eigene Art die Hüter seiner Vergangenheit — waren hier. Gemeinsam würden sie dieses Geheimnis genauso lösen wie alle anderen zuvor. Er stieg die Stufen zur vorderen Veranda hinauf und drückte auf den Klingelknopf. Drinnen rührte sich nichts. Als er ein Ohr an die polierte Teakholztür legte, konnte er im Haus Stimmen hören. Er drückte die Klinke herab und stellte fest, dass die Haustür nicht abgesperrt war.
In seinem Kopf schrillten Alarmglocken los, er verharrte einen Augenblick lang hinter der halb geöffneten Tür und horchte auf die Geräusche im Haus. Es war ihm gleich, dass er sich hier auf dem Land befand, wo Verbrechen fast nicht vorkamen — alte Gewohnheiten waren nicht leicht abzulegen. Conklins übersteigertes Sicherheitsbewusstsein würde diktieren, dass diese Tür auch dann abgesperrt blieb, wenn er zu Hause war. Als er mit dem offenen Schnappmesser in der Hand über die Schwelle trat, war er sich nur allzu bewusst, dass dort drinnen ein Angreifer — jemand aus dem Team, das ihn liquidieren sollte —, lauern konnte.
Hinter dem Eingangsbereich mit dem Kronleuchter lag eine breite, polierte Holztreppe, die zu einer Galerie hinaufführte, die um die Eingangshalle verlief. Rechts lag das Wohnzimmer, das fast ein Salon war. Links öffnete sich der behagliche Medienraum mit seiner Bar und tiefen, maskulinen Ledersofas. Unmittelbar dahinter lag der kleinere, intimere Raum, den Alex sich als Arbeitszimmer eingerichtet hatte.
Bourne folgte dem Klang der Stimme in den Medienraum. Auf einem Großbild-Fernseher stand ein telegener CNN-Kommentator vor dem Hotel Oskjuhlid. Das unterlegte Kartenbild zeigte, dass er live aus der isländischen Hauptstadt Reykjavik berichtete.». aber der unsichere Ausgang des bevorstehenden Terrorismusgipfels ist hier jedermann bewusst.«
Das Zimmer war leer, aber auf dem Couchtisch standen zwei Old-Fashioned-Gläser. Bourne griff nach einem, roch daran. Speyside-Single-Malt-Whisky, in Sherryfässern gelagert. Der komplexe Duft von Conklins bevorzugtem Scotch verwirrte ihn, brachte eine Erinnerung, eine Vision aus Paris mit sich. Es war Herbst, über die Champs-Elysees trieb rostbraunes Kastanienlaub, und er sah aus dem Fenster eines Büros. Er kämpfte gegen diese Vision, die so stark war, dass sie ihn wirklich mit sich nach Paris zu ziehen schien, und er erinnerte sich grimmig daran, dass er in Manassas, Virginia, in Alex Conklins Haus war — in dem irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Er kämpfte, bemühte sich, seine Wachsamkeit, seine Konzentration zu bewahren, aber die durch den Duft des Single-Malt-Whiskys geweckte Erinnerung war überwältigend, und er verzehrte sich danach, mehr zu wissen, seine klaffenden Gedächtnislücken auszufüllen. Und so fand er sich in einem Büro in Paris wieder. Wessen Büro? Nicht Conklins — Alex hatte nie ein Büro in Paris gehabt. Dieser Duft, jemand war mit ihm hier. Er drehte sich um, sah für Bruchteile einer Sekunde ein Gesicht, an das er sich vage erinnerte.
Er riss sich wieder los. Obwohl es zum Verrücktwerden war, ein Leben zu haben, an das man sich nur bruchstückhaft erinnern konnte, durfte er sich nach allem, was passiert war, und weil hier irgendetwas nicht stimmte, nicht ablenken lassen. Was hatte Mo über derartige Auslöser gesagt? Sie konnten Dinge sein, die er sah, hörte, roch oder sogar nur berührte, und sobald eine Erinnerung ausgelöst war, konnte er sie vertiefen, indem er den Stimulus, der sie hervorgerufen hatte, einfach wiederholte. Aber nicht jetzt. Er musste Alex und Mo finden.
Er senkte den Blick, sah einen kleinen Notizblock auf dem Couchtisch liegen und griff danach. Der Block schien leer zu sein; das oberste Blatt war abgerissen. Als er es schräg ins Licht hielt, konnte er jedoch schwache Abdrücke erkennen. Irgendjemand — vermutlich Conklin hatte NX20 hingeschrieben. Er steckte den Notizblock ein.
«Nun hat der Countdown also begonnen. In fünf Tagen wird die Welt wissen, ob eine neue Zeit, eine neue Weltordnung entstehen wird, ob die gesetzestreuen Völker der Welt in Frieden und Eintracht werden leben können…«Der Kommentator schwafelte weiter, dann folgte das übliche Gedudel als Überleitung zu einem Werbeblock.
Bourne schaltete das Gerät mit der Fernbedienung aus, sodass Stille über den Raum herabsank. Es war denkbar, dass Conklin und Mo einen Spaziergang machten, weil das Panovs Lieblingsmethode war, um während eines Gesprächs Dampf abzulassen, und er bestimmt dem Alten ein wenig Bewegung verschaffen wollte. Aber dagegen sprach die Anomalie der nicht abgesperrten Haustür.
Bourne ging zurück, wie er gekommen war, durchquerte die Eingangshalle und nahm je zwei Treppenstufen auf einmal. Beide Gästezimmer und die dazugehörigen Bäder waren leer, anscheinend längere Zeit nicht mehr benützt. Etwas weiter den Flur entlang betrat er Conklins Schlafzimmer: ein spartanisch eingerichteter Raum, wie er zu einem alten Soldaten passte. Das Bett war schmal und hart, kaum mehr als eine Pritsche. Es war nicht gemacht; offenbar hatte Alex letzte Nacht darin geschlafen. Aber wie es einem Bewahrer von Geheimnissen geziemte, war hier sehr wenig von seiner Vergangenheit ausgestellt. Bourne griff nach einem Silberrahmen mit dem Foto einer Frau. Sie hatte langes, lockiges Haar, helle Augen und ein leicht spöttisches Lächeln. Im Hintergrund erkannte er die prächtigen Steinlöwen des Brunnens auf der Place Saint-Sulpice. Paris. Bourne stellte das Foto wieder hin, warf einen Blick ins Bad. Auch dort nichts von Interesse.
Unten im Erdgeschoss schlug die Uhr in Conklins Arbeitszimmer mit zwei Schlägen die volle Stunde. Es war eine antike Schiffsuhr mit volltönend melodischem Schlag. Aber für Bourne hatte ihr Ton unerklärlicherweise eine bedrohliche Note angenommen. Ihm erschien es, als brandeten die Glockenschläge wie eine schwarze Woge durchs Haus, und sein Herz begann zu jagen.
Er ging wieder die Treppe hinunter und an der Küche vorbei, in die er kurz den Kopf steckte. Auf dem Herd stand ein Teekessel, aber die Ablageflächen aus Edelstahl waren fleckenlos sauber. Im Kühlschrank spuckte der Eisbereiter Würfel aus. Und dann sah Bourne etwas: Conklins Spazierstock aus polierter Esche mit dem ziselierten Silberknauf. Alex hatte ein kaputtes Bein — die Folge einer besonders gewalttätigen Begegnung in Übersee: Er wäre niemals ohne seinen Stock aus dem Haus gegangen.
Das Arbeitszimmer lag links voraus: ein behaglicher holzgetäfelter Raum in einer Ecke des Hauses mit Blick über den Rasen, dem Bäume Schatten spendeten, auf eine Natursteinterrasse, in deren Mitte ein riesiger Pool eingelassen war, und auf den Rand des Mischwalds aus Tannen und Laubbäumen, der den größten Teil des Anwesens bedeckte. Von wachsender innerer Unruhe getrieben, hastete Bourne zum Arbeitszimmer weiter. und erstarrte, als er es betrat.
Er war sich der Dichotomie seines Wesens noch nie so bewusst gewesen, denn ein Teil seines Ichs hatte sich abgekoppelt, war ein neutraler Beobachter geworden. Diese rein analytische Abteilung seines Verstands stellte fest, dass Alex Conklin und Mo Panov auf dem farbenprächtigen Orientteppich lagen. Blut aus ihren Kopfverletzungen hatte den Teppich getränkt und sich an einigen Stellen in Lachen auf dem Parkett angesammelt. Frisches Blut, das noch feucht glänzte. Conklin starrte mit glasigem Blick zur Decke hinauf. Sein Gesicht war gerötet und wütend, als sei all der tief in seinem Inneren verborgen gehaltene Groll gewaltsam hervorgebrochen. Mos Kopf war zur Seite gedreht, als habe er sich umzudrehen versucht, als er niedergestreckt wurde. Auf seinem Gesicht stand unverkennbar Angst. Er hatte im letzten Augenblick den Tod kommen gesehen.
Alex! Mo! Jesus! Der emotionale Damm brach plötzlich, und Bourne, dem vor Schock und Entsetzen schwindelte, lag auf den Knien. Seine gesamte Welt war bis ins Innerste erschüttert. Alex und Mo tot — selbst mit dieser grausigen Szene vor Augen war das kaum zu fassen. Nie wieder mit ihnen reden zu können, nie mehr auf ihre Erfahrung zurückgreifen zu können. Vor seinem inneren Auge erschien eine Bilderflut: Erinnerungen an Alex und
Mo, an Zeiten, die sie miteinander verbracht hatten, spannende Zeiten voller Gefahr und jähem Tod, und danach die behagliche Ungezwungenheit, die nur durch gemeinsam bestandene Gefahr entsteht. Zwei gewaltsam beendete Leben, die nichts als Zorn und Angst hinterließen. Mit erschreckender Endgültigkeit fiel die Tür zu seiner Vergangenheit ins Schloss. Bourne und Webb trauerten beide. Bourne rappelte sich mühsam auf, wischte Webbs hysterische Gefühlsduselei beiseite, zwang sich dazu, nicht zu weinen. Trauer war ein Luxus, den er sich nicht gestatten konnte. Er musste nachdenken.
Bourne fing an, sich den Tatort einzuprägen, fixierte die Einzelheiten in seinem Gedächtnis, versuchte festzustellen, was geschehen war. Er trat näher, achtete aber darauf, nicht in das Blut zu treten oder sonst etwas zu verändern. Alex und Mo waren erschossen worden — offenbar mit dem Revolver, der zwischen ihnen auf dem Teppich lag. Beide waren mit je einem Schuss erledigt worden. Dies war ein professionelles Attentat, kein Mord, den ein ertappter Einbrecher verübt hatte. Bourne wurde auf das Glitzern eines Handys in Conklins Hand aufmerksam. Alex hatte anscheinend mit jemandem gesprochen, als er erschossen wurde. Zu dem Zeitpunkt, als Bourne ihn vom Hörsaal aus zu erreichen versucht hatte. Durchaus möglich. Das noch feucht glänzende Blut, die Blässe der Toten, das Fehlen der Totenstarre in den Fingern. alles wies darauf hin, dass die Morde innerhalb der letzten Stunde verübt worden waren.
Ein leises Geräusch in der Ferne begann seine Überlegungen zu stören. Sirenen! Bourne hastete aus dem Arbeitszimmer zu den Fenstern auf der Vorderseite des Hauses. Eine Flotte von Streifenwagen der Virginia State
Police kam mit eingeschalteten Blinkleuchten die Zufahrt heraufgerast. Bourne saß fest in einem Haus mit den Leichen zweier Ermordeter und ohne glaubwürdiges Alibi. Er war übertölpelt worden. In diesem Augenblick spürte er die Falle zuschnappen.