Hassan Arsenow hatte Sina die Zuständigkeit für das Erscheinungsbild des Teams übertragen, als sei sie die Maskenbildnerin eines Filmstudios. Sie nahm den Auftrag ernst, wie sie jede Arbeit ernst nahm — aber nicht ohne ein heimliches zynisches Kichern. Wie ein Planet zu seiner Sonne gehörte sie jetzt zu dem Scheich. Ihrem Wesen entsprechend war sie mental und emotional aus Hassans Einflussbereich ausgeschert. Das hatte in jener Nacht in Budapest begonnen — obwohl die Anfänge viel weiter zurückliegen mussten — und war unter der heißen kretischen Sonne zur Vollendung gereift.
An ihre gemeinsame Zeit auf der Ägäisinsel klammerte Sina sich, als sei das ihre eigene private Legende, die sie nur mit ihm teilte. Sie waren. wer?. Theseus und Ariadne gewesen. Der Scheich hatte ihr die Sage vom schrecklichen Leben und blutigen Tod des Minotaurus erzählt. Gemeinsam hatten sie ein reales Labyrinth betreten, gemeinsam hatten sie triumphiert. Im Fieber dieser kostbaren neuen Erinnerungen wurde ihr nie bewusst, dass sie sich damit in eine westliche Sage hineinversetzte, dass sie sich durch ihre Bindung an Stepan Spalko vom Islam entfernt hatte, von dem Glauben, der sie wie eine zweite Mutter genährt und umhegt hatte, der in den dunklen Tagen der russischen Besatzung ihr Beistand und einziger Trost gewesen war. Auf die Idee, ihr altes Leben hinter sich lassen zu müssen, um ein neues beginnen zu können, war sie nie gekommen. Und selbst wenn sie darauf gekommen wäre, hätte sie sich mit ihrem angeborenen Zynismus wahrscheinlich nicht anders entschieden.
Sinas Wissen und Geschick sorgten dafür, dass die Männer des Teams, die auf dem im Dämmerlicht liegenden Flughafen Keflavik ankamen, glatt rasiert waren, westliche Haarschnitte hatten und dunkle Geschäftsanzüge mit europäischem Schnitt trugen, in denen sie so farblos wirkten, dass sie buchstäblich anonym waren. Die Frauen mussten auf den traditionellen hidschab, der Gesicht und Körper bedeckt, verzichten. Ihre nackten Gesichter waren wie bei Westeuropäerinnen dezent geschminkt, und sie waren nach der neuesten Pariser Mode gekleidet. Die Passkontrolle passierten sie ohne Schwierigkeiten mit den gefälschten französischen Reisepässen, mit denen Spalko sie ausgestattet hatte.
Auf Arsenows Befehl achteten sie jetzt darauf, nur noch Isländisch zu sprechen, selbst wenn keine Fremden zugegen waren. Bei einem Autoverleih auf dem Flughafen mietete Arsenow eine Limousine und drei Vans für das aus sechs Männern und vier Frauen bestehende Team. Während Arsenow und Sina mit der Limousine nach Reykjavik fuhren, überführten die restlichen Teammitglieder die Vans in das südlich von Reykjavik gelegene Hafenstädtchen Hafnarfjördur, den ältesten Handelshafen Islands, wo Spalko ein großes Holzhaus auf einer Felsklippe über dem Hafen gemietet hatte. Das malerische Städtchen mit seinen bunten Holzhäusern war zum Land hin von erstarrten Lavaströmen abgeriegelt und voller Nebel, sodass man das Gefühl hatte, hier sei die Zeit stehen geblieben. Zwischen den bunt gestri-chenen Fischerbooten, die zusammengedrängt im Hafen lagen, konnte man sich leicht vorstellen, hier lägen mit Schilden behängte Langboote von Wikingern, die sich auf ihren nächsten blutigen Raubzug vorbereiteten.
Arsenow und Sina fuhren durch Reykjavik, machten sich mit Straßen vertraut, die sie bisher nur vom Stadtplan kannten, und verschafften sich einen Eindruck von der Fahrweise der Einheimischen. Die Großstadt lag malerisch auf einer Halbinsel, sodass von fast jedem Punkt aus entweder verschneite Berggipfel oder der grimmige blauschwarze Nordatlantik zu sehen war. Die Insel selbst war durch eine Verschiebung tektonischer Platten entstanden, als die Landmassen Amerikas und Eurasiens auseinander gedriftet waren. Weil die Insel relativ jung war, war die Erdkruste hier dünner als auf den umliegenden Kontinenten, was die bemerkenswerte Häufigkeit von geothermischer Aktivität erklärte, die zur Heizung isländischer Häuser diente. Die gesamte Hauptstadt hing an der Heißwasserleitung von Reykjavik Energy.
In der Innenstadt kamen sie an der modernen, eigenartig beunruhigenden Hallgrimskikja vorbei, die wie ein Raumschiff aus einem Science-Fiction-Roman aussah. Diese Kirche war das bei weitem höchste Bauwerk in einer Großstadt ohne Hochhäuser. Sie fanden das Gebäude des Gesundheitsdiensts und fuhren von dort aus zum Hotel Oskjuhlid weiter.
«Bist du sicher, dass sie diese Route benützen werden?«, fragte Sina.
«Absolut«, sagte Arsenow nickend.»Sie ist der kürzeste Weg, und sie werden möglichst schnell ins Hotel wollen.«
Entlang der Peripherie des Hotels wimmelte es von amerikanischen, russischen und arabischen Sicherheitsbeamten.
«Sie haben das Hotel in eine Festung verwandelt«, stellte Sina fest.
«Genau wie die Fotos des Scheichs uns gezeigt haben«, bestätigte Arsenow mit schwachem Lächeln.»Wie viele Leute sie aufbieten, macht für uns keinen Unterschied.«
Sie parkten und gingen von Geschäft zu Geschäft, um ihre Einkäufe zu machen. Arsenow hatte sich in dem Stahlkokon ihres Leihwagens entschieden wohler gefühlt. Er war sich der Fremdheit peinlich bewusst, als sie sich durch die Menge bewegten. Wie anders diese schlanken, hellhäutigen, blauäugigen Menschen waren! Mit seinem schwarzen Haar und seinen dunklen Augen, seinem massigen Körper und dunklen Teint fühlte er sich wie ein Neandertaler unter Cro-Magnon-Menschen. Sina, das merkte er, hatte dieses Problem nicht. Sie ließ sich mit erschreckender Begeisterung auf neue Orte, neue Leute, neue Ideen ein. Er machte sich Sorgen um sie, war besorgt wegen ihres Einflusses auf die Kinder, die sie eines Tages haben würden.
Auch zwanzig Minuten nach dem Überfall hinter der Klinik Eurocenter Bio-I fragte Chan sich noch immer, ob er den Drang, Vergeltung an einem Feind zu üben, jemals stärker empfunden hatte. Obwohl er zahlenmäßig und an Feuerkraft unterlegen gewesen war, obwohl der rationale Teil seines Ichs, der normalerweise sein gesamtes Handeln bestimmte, sich vollkommen darüber im Klaren gewesen war, dass ein Gegenangriff auf die Männer, die Spalko entsandt hatte, um Jason Bourne und ihn entführen zu lassen, selbstmörderisch gewesen wäre, hatte ein anderer Teil seines Ichs sich sofort wehren wollen. Seltsamerweise war es Bournes Warnung gewesen, die in ihm den irrationalen Wunsch geweckt hatte, sich in den Kampf zu stürzen und Spalkos Männer in Stücke zu reißen. Dieser Drang tief aus seinem Inneren war so gewaltig, dass er seine gesamte rationale Willenskraft hatte aufbieten müssen, um den Rückzug anzutreten und sich vor den Männern zu verstecken, die ihn in Annaka Vadas’ Auftrag suchten. Er hätte diese beiden erledigen können, aber was hätte das genützt? Annaka hätte nur weitere Männer mit Maschinenpistolen auf ihn angesetzt.
Chan saß im Cafe Grendel, das gut einen Kilometer von der Klinik entfernt lag, in der es jetzt von Polizisten und vermutlich auch von Interpol-Agenten wimmelte. Er trank mit kleinen Schlucken seinen doppelten Espresso und dachte über das Urgefühl nach, das ihn noch immer gepackt hielt. Dabei erinnerte er sich an Jason Bournes besorgten Gesichtsausdruck, als er gesehen hatte, dass Chan in die Falle zu geraten drohte, in die er bereits getappt war. Man hätte glauben können, Chan vor dieser Gefahr zu bewahren, sei ihm wichtiger gewesen als die eigene Sicherheit. Aber das war doch nicht möglich…?
Gewöhnlich war es nicht Chans Art, sich vor kurzem abgelaufene Ereignisse nochmals vorzustellen, aber diesmal tat er’s doch. Als Bourne mit Annaka zum Ausgang unterwegs gewesen war, hatte er versucht, Bourne vor ihr zu warnen, war aber zu spät gekommen. Was hatte ihn dazu veranlasst? Jedenfalls war das nicht geplant gewesen. Seine Entscheidung war ganz spontan gefallen. Oder vielleicht doch nicht? Er merkte, dass er sich beunruhigend lebhaft an seine Empfindungen erinnerte, als er den
Dachziegelverband gesehen und gemerkt hatte, wie schwer er Bourne verletzt hatte. War das Reue gewesen? Unmöglich!
Es war zum Verrücktwerden. Die Erinnerung an die Sekunde, in der Bourne sich dazu entschlossen hatte, seinen sicheren Platz hinter dem tödlich gefährlichen Mc-Coll zu verlassen und sich so in Lebensgefahr zu bringen, um Annaka zu schützen, ließ ihn nicht mehr los. Bis zu diesem Augenblick hatte Chan fest geglaubt, der CollegeProfessor David Webb sei zugleich als Auftragsmörder Jason Bourne in seiner Branche tätig. Aber ihm fiel kein Berufskiller ein, der sich selbst in Gefahr gebracht hätte, um Annaka zu schützen.
Wer war Jason Bourne also?
Er schüttelte über sich selbst irritiert den Kopf. Diese Frage musste vorerst hintangestellt werden, so ärgerlich sie auch sein mochte. Immerhin verstand er jetzt, weshalb Spalko ihn in Paris angerufen hatte. Er war auf die Probe gestellt worden — und hatte nach Spalkos Begriffen versagt. Spalko hielt Chan jetzt für eine unmittelbare Bedrohung, genau wie er Bourne für gefährlich hielt. Und für Chan war er jetzt der Feind. Mit Feinden war Chan sein Leben lang stets gleich verfahren: Er hatte sie liquidiert. Die damit verbundene Gefahr kannte er und schätzte sie sogar als Herausforderung. Spalko glaubte, er sei ihm überlegen. Woher hätte er auch wissen sollen, dass diese Arroganz Chans Hass nur noch schürte?
Chan leerte die kleine Tasse, klappte sein Handy auf und tippte eine Nummer ein.
«Ich wollte Sie gerade anrufen, aber ich wollte noch warten, bis ich aus dem Gebäude bin«, sagte Ethan Hearn.»Hier ist irgendwas los.«
Chan sah auf seine Armbanduhr. Noch nicht siebzehn Uhr.»Was genau?«
«Vor ungefähr zwanzig Minuten habe ich einen Notarztwagen kommen sehen und war rechtzeitig in der Tiefgarage, um beobachten zu können, wie zwei Männer und eine Frau einen Mann auf einer Tragbahre zum Aufzug geschafft haben.«
«Die Frau muss Annaka Vadas gewesen sein«, sagte Chan.
«Eine tolle Frau!«
«Hören Sie mir gut zu, Ethan«, sagte Chan eindringlich.»Sollten Sie ihr je begegnen, seien Sie verdammt vorsichtig. Diese Frau ist gefährlich.«
«Schade«, sagte Hearn bedauernd.
«Sind Sie gesehen worden?«Chan wollte ihn von An-naka Vadas abbringen.
«Nein«, bestätigte Hearn.»Ich habe gut aufgepasst.«
«Gut. «Chan überlegte kurz.»Können Sie feststellen, wohin sie diesen Mann gebracht haben? An welchen genauen Ort?«
«Das weiß ich bereits. Ich habe die Liftanzeige beobachtet, als sie mit ihm nach oben gefahren sind. Er ist irgendwo im dritten Stock. Das ist Spalkos Privatbereich; er ist nur mit einer Magnetkarte zugänglich.«
«Können Sie mir die beschaffen?«, fragte Chan.
«Unmöglich. Er trägt sie ständig bei sich.«
«Dann muss ich einen anderen Weg finden«, sagte Chan.
«Ich dachte, Magnetkarten wären fälschungssicher.«
Chan lachte humorlos.»Das glauben nur Dummköpfe. Es gibt immer eine Möglichkeit, in verschlossene Räume zu gelangen, Ethan — genau wies immer einen Weg hinaus gibt.«
Er stand auf, legte Geld auf den Tisch und verließ das Cafe. Im Augenblick wollte er nicht allzu lange an einem Ort bleiben.»Weil wir gerade beim Thema sind: Ich brauche eine Möglichkeit, in die Zentrale von Huma-nistas zu gelangen.«
«Es gibt jede Menge.«
«Ich habe Grund zu der Annahme, dass Spalko mich erwartet. «Chan überquerte die Straße und achtete dabei auf etwaige Beschatter.
«Das ist etwas ganz anderes«, stimmte Hearn zu. Nun folgte eine Pause, in der er über das Problem nachdachte, bevor er sagte:»Augenblick, bleiben Sie dran. Ich muss in meinem PDA nachsehen. Vielleicht habe ich etwas für Sie.«
Chan wartete ungeduldig.
«Okay, bin wieder da. «Der junge Mann lachte kurz.»Ich habe tatsächlich etwas, das Ihnen bestimmt gefallen wird.«
Arsenow und Sina erreichten das Haus eineinhalb Stunden nach den anderen. Die Männer des Teams hatten inzwischen Jeans und Arbeitshemden angezogen und den ersten ihrer drei Vans in die Garage gefahren und fachmännisch abgeklebt. Während die Frauen die von Arse-now und Sina eingekauften Lebensmittel übernahmen, bedienten die Männer sich aus der für sie bereitstehenden Kiste mit Handfeuerwaffen und halfen dann, das Umspritzen des Fahrzeugs vorzubereiten.
Arsenow befestigte die von Spalko zur Verfügung gestellten Fotos als Muster an der Garagenwand, und sie machten sich daran, den Van wie einen Wagen aus dem staatlichen Fuhrpark zu lackieren. Während die Farbe trocknete, fuhren sie den zweiten Van in die Garage. Mit vorbereiteten Schablonen brachten sie auf beiden Wagenseiten den Firmennamen Hafnarfjördur Obst & Gemüse an.
Dann gingen sie ins Haus zurück, in dem es bereits appetitlich nach dem Essen duftete, das die Frauen gekocht hatten. Bevor sie sich an den Tisch setzten, verrichteten sie ihr Abendgebet. Sina, die vor Aufregung wie unter Strom stand, war kaum richtig anwesend und leierte die Gebetsformeln mechanisch herunter, während sie an den Scheich und ihre Rolle bei dem morgigen Triumph dachte.
Die Unterhaltung beim Abendessen war angeregt, weil alle durch den Fluss von Spannung und Vorfreude animiert waren. Arsenow, der solche Lockerheit sonst missbilligte, gestattete ihnen dieses Ventil für ihre Nervosität
— aber nur für beschränkte Zeit. Während die Frauen das Geschirr abtrugen und den Abwasch machten, führte er die Männer in die Garage zurück, wo sie an dem» staatlichen «Fahrzeug die offiziellen Aufkleber und Markierungen anbrachten. Dann stellten sie den Wagen draußen ab, holten den dritten Van herein und spritzten ihn in den Farben von Reykjavik Energy um.
Danach waren alle erschöpft und gingen zu Bett, weil sie morgen sehr früh würden aufstehen müssen. Trotzdem ging Arsenow ihre Aufgaben im Rahmen des Unternehmens nochmals mit ihnen durch, wobei er darauf bestand, dass nur Isländisch gesprochen wurde. Er wollte sehen, wie mentale Erschöpfung sich auf sie auswirkte. Nicht, dass er an ihnen gezweifelt hätte. Seine neun Landsleute hatten ihm ihren Wert längst bewiesen. Sie waren körperlich kräftig, mental belastbar und kannten — was vielleicht am wichtigsten war — weder Reue noch Erbarmen. Aber keiner von ihnen hatte jemals an einem Unternehmen dieser Größe und dieser globalen Auswirkungen teilgenommen; ohne das NX 20 hätten sie niemals die Mittel dafür gehabt. Und so war es besonders befriedigend, ihnen zuzusehen, wie sie die nötigen Energiereserven mobilisierten, um ihre jeweiligen Aufgaben fehlerlos herunterzubeten.
Er gratulierte ihnen und sagte dann mit großer Liebe und Zuneigung im Herzen, als spräche er zu seinen eigenen Kindern: »La illaha ill Allah.«
«La illaha ill Allah«, antworteten sie im Chor mit solch brennender Liebe im Blick, dass Arsenow fast zu Tränen gerührt war. Erst in diesem Augenblick, als sie einander aufmerksam betrachteten, wurde ihnen das Ungeheuerliche ihrer selbst gestellten Aufgabe richtig bewusst. Was Arsenow betraf, so sah er sie alle — seine Familie — in diesem fremden, abweisenden Land unmittelbar vor dem ruhmreichsten Augenblick versammelt, den ihr Volk jemals erleben würde. Noch nie hatte sein Gefühl, die Zukunft gehöre ihnen, so hell gestrahlt, noch nie hatte er seine Hingabe an ihre gerechte Sache so tief empfunden. Er war jedem von ihnen für seine Anwesenheit dankbar.
Als Sina mit hinaufgehen wollte, legte er ihr eine Hand auf den Arm, aber während die anderen sie im Vorbeigehen ansahen, schüttelte sie den Kopf.»Ich muss ihnen beim Blondieren helfen«, sagte sie, und er ließ sie gehen.
«Allah schenke dir friedliche Nachtruhe«, sagte sie leise, bevor sie die Treppe hinaufhuschte.
Später lag Arsenow im Bett und fand wie gewöhnlich keinen Schlaf. Auf der anderen Seite des Zimmers, im zweiten schmalen Bett, schnarchte Achmed mit der Intensität einer Motorsäge. Eine leichte Brise bewegte den Vorhang vor dem offenen Fenster. Als Jugendlicher hatte Arsenow sich an Kälte gewöhnen müssen, und jetzt mochte er sie. Er starrte zur Zimmerdecke hinauf und dachte wie immer zur Nachtzeit an Chalid Murat, an seinen Verrat an seinem Freund und Mentor. Obwohl diese Liquidierung notwendig gewesen war, belastete seine persönliche Treulosigkeit ihn weiterhin. Und dazu kam seine Beinverletzung: Auch wenn sie noch so gut heilte, erinnerten die Schmerzen ihn ständig daran, was er getan hatte. Letztlich hatte er Chalid Murat im Stich gelassen, und nichts, was er jetzt tat, konnte etwas an dieser Tatsache ändern.
Er stand auf, ging auf den Flur hinaus und tappte lautlos die Treppe hinunter. Nach alter Gewohnheit hatte er vollständig bekleidet im Bett gelegen. Er trat in die frische Nachtluft hinaus, zog eine Zigarette aus der Hemdtasche und zündete sie an. Tief über dem Horizont segelte ein aufgedunsener Mond über den mit Sternen besprenkelten Himmel. Hier gab es keine Bäume; er hörte keine Insekten.
Als er sich ein Stück weit vom Haus entfernte, begannen seine wirren Gedanken sich zu klären und zu beruhigen. Vielleicht würde er nach dieser Zigarette vor dem für halb vier Uhr angesetzten Treff mit Spalkos Boot sogar noch ein paar Stunden Schlaf finden.
Arsenow war mit seiner Zigarette fast fertig und wollte schon kehrtmachen, als er das Flüstern leiser Stimmen hörte. Er zog überrascht seine Pistole und sah sich um.
Die von der nächtlichen Brise an sein Ohr getragenen Stimmen kamen hinter zwei riesigen Felsblöcken hervor, die wie die Hörner eines Ungeheuers auf der Klippe aufragten.
Er ließ die Zigarette fallen, trat die Glut aus und schlich auf die Felsformation zu. Obwohl er sich vorsichtig bewegte, war er durchaus bereit, sein Magazin in die Herzen derer zu leeren, die sie anscheinend bespitzelten.
Aber als er um den leicht gewölbten Felsen blickte, sah er keine Ungläubigen, sondern Sina. Sie sprach leise auf eine andere, weit größere Gestalt ein, die Arsenow von seinem Standort aus nicht gleich erkannte. Er bewegte sich wieder und trat etwas näher. Was gesprochen wurde, konnte er nicht verstehen, aber noch bevor er Sinas Hand auf dem Arm des anderen sah, erkannte er die Stimme, die sie benützte, wenn sie ihn verführen wollte.
Er drückte die linke Faust an seine Schläfe, als ließe sich das plötzliche Pochen in seinem Kopf so unterdrücken. Am liebsten hätte er laut gekreischt, als er sah, wie die Finger ihrer Hand Spinnenbeine bildeten, wie ihre Nägel über den Arm des Mannes glitten, den sie… wen versuchte sie eigentlich zu verführen? Seine Eifersucht drängte ihn dazu, aktiv zu werden. Obwohl er riskierte, dabei gesehen zu werden, trat er — wobei er teilweise ins Mondlicht geriet — weiter vor, bis er das Gesicht Magomets erkennen konnte.
Blinde Wut erfasste ihn, und er zitterte am ganzen Leib. Er dachte an seinen Mentor. Was hätte Chalid Murat an deiner Stelle getan? fragte er sich. Er hätte das Paar zweifellos gestellt, sich von beiden einzeln erklären lassen, was sie taten, und ihnen danach sein Urteil verkündet.
Arsenow richtete sich zu seiner ganzen Größe auf, trat auf das Paar zu und hielt dabei den rechten Arm vor sich ausgestreckt. Magomet, der ihm mehr oder weniger zugewandt war, sah ihn kommen und wich abrupt zurück, sodass Sinas Hand nicht mehr auf seinem Arm lag. Sein Mund war weit geöffnet, aber vor Schock und Entsetzen brachte er keinen Laut heraus.
«Magomet, was hast du?«, fragte Sina. Erst dann drehte sie sich um und sah Arsenow auf sie zukommen.
«Hassan, nein!«, rief sie, als Arsenow abdrückte.
Die Kugel trat durch Magomets offenen Mund ein und riss ihm den Hinterkopf weg. Er wurde in einem Schwall von Blut und Gehirnmasse zurückgeworfen.
Arsenow richtete seine Pistole auf Sina. Ja, dachte er, Chalid Murat hätte die Situation bestimmt anders bewältigt, aber Chalid Murat ist tot, und ich, Hassan Arsenow, der seine Ermordung geplant hat, lebe noch und habe das Kommando, daher wird es diesmal anders gemacht. Wir leben in einer neuen Welt.
«Jetzt du«, sagte er.
Sina starrte in seine schwarzen Augen und wusste genau, dass sie ihn anflehen, vor ihm auf die Knie sinken und um Gnade betteln sollte. Jede Erklärung, die sie ihm vielleicht hätte geben können, war ihm egal. Sie wusste, dass er vernünftigen Argumenten nicht mehr zugänglich war; in diesem Augenblick war er nicht imstande, die Wahrheit von einer geschickten Lüge zu unterscheiden. Sie wusste auch, dass es gefährlich gewesen wäre, ihm hier und jetzt zu geben, wonach er gierte. Das war eine Falle, eine gefährlich in die Tiefe führende schiefe Bahn, von der es kein Entkommen mehr gab, sobald man sie einmal betreten hatte. Es gab nur eine Möglichkeit, ihn an der Ausführung seines Vorhabens zu hindern.
Ihre Augen blitzten.»Schluss jetzt!«, befahl sie.»Aber sofort!«Sie streckte eine Hand aus, umfasste den Pistolenlauf und bog ihn so nach oben, dass die Waffe nicht mehr auf ihren Kopf zielte. Sie riskierte einen Blick auf den toten Magomet. Das war ein Fehler, den sie nicht noch einmal machen würde.
«Was fällt dir ein?«, fragte sie scharf.»Hast du so kurz vor dem Ziel den Verstand verloren?«
Es war clever von Sina, Arsenow an den Grund ihres Aufenthalts in Reykjavik zu erinnern. Seine Liebe zu ihr hatte ihn vorübergehend das größere Ziel aus den Augen verlieren lassen. Er hatte nur auf ihren Tonfall und ihre Hand auf Magomets Arm reagiert.
Mit eckigen Bewegungen steckte er die Pistole weg.
«Was machen wir jetzt?«, fragte sie.»Wer übernimmt Magomets Aufgaben?«
«Das ist alles deine Schuld«, sagte er angewidert.»Lass dir also was einfallen.«
«Hassan. «Sie wusste, dass sie ihn in diesem Augenblick nicht berühren oder auch nur einen Schritt näher auf ihn zutreten durfte.»Du bist unser Führer. Darüber entscheidest einzig und allein du.«
Er sah sich um, als erwache er gerade aus einer Trance.»Unsere Nachbarn werden den Schussknall hoffentlich für eine Fehlzündung halten. «Er starrte sie an.»Warum warst du mit ihm hier draußen?«
«Um zu versuchen, ihn von dem Weg abzubringen, den er gewählt hatte«, sagte Sina vorsichtig.»Er ist seltsam verändert, seit ich ihm im Flugzeug den Bart abgenommen habe. Er hat Annäherungsversuche gemacht.«
Arsenows Augen blitzten erneut.»Und wie hast du darauf reagiert?«
«Wie wohl, Hassan?«Ihre Stimme klang so scharf und empört wie seine.»Soll das etwa heißen, dass du mir nicht traust?«
«Ich habe deine Hand auf seinem Arm gesehen, habe deine Finger…«Er konnte nicht weiter sprechen.
«Hassan, sieh mich an. «Sie streckte eine Hand aus.»Bitte sieh mich an.«
Als er sich ihr langsam und widerstrebend zuwandte, empfand sie freudige Erregung. Sie hatte ihn in der Hand; trotz ihres Fehlers von vorhin hatte sie ihn weiterhin fest in der Hand.
Mit einem unhörbaren Seufzer der Erleichterung fuhr sie fort:»Die Situation hat gewisses Feingefühl erfordert. Das verstehst du bestimmt. Hätte ich ihn ohne weiteres abgewiesen, wäre ich kalt zu ihm gewesen, hätte ich ihn verärgert. Ich war in Sorge, seine Verärgerung würde seinen Wert für uns mindern. «Ihr Blick ließ ihn nicht mehr los.»Hassan, ich habe daran gedacht, wozu wie hier sind. Nur daran denke ich gegenwärtig, und das solltest du auch.«
Er stand lange Augenblicke unbeweglich und nahm ihre Worte in sich auf. Das Brausen und Zischen der Wogen, die sich tief unter ihnen an den Felsen brachen, klang unnatürlich laut. Dann nickte Arsenow plötzlich, und der Vorfall war erledigt. Das war seine Art.
«Wir müssen nur noch Magomet entsorgen«, stellte er fest.
«Den wickeln wir in eine Wolldecke und nehmen ihn zu dem Treff mit. Die Besatzung des Fischerboots kann ihn auf hoher See über Bord werfen.«
Arsenow lachte.»Sina, du bist die tüchtigste Frau, die ich kenne.«
Als Bourne aufwachte, fand er sich auf einer Art Zahnarztstuhl wieder. Er sah sich in dem Raum mit den schwarzen Betonwänden um, sah den großen Abfluss in der Mitte des weiß gefliesten Bodens, den aufgerollt an der Wand hängenden Wasserschlauch und das neben dem Stuhl stehende Wägelchen mit mehreren Etagen, auf denen blitzende Instrumente aus Edelstahl aufgereiht waren, die offenbar alle dazu dienten, Menschen schreckliche Schmerzen zuzufügen. Er versuchte, Handgelenke und Fußknöchel zu bewegen, aber die breiten Ledergurte waren, das sah er jetzt, mit denselben Schnallen gesichert wie Zwangsjacken.
«Spar dir die Mühe«, sagte Annaka, die hinter dem Stuhl hervortrat. Bourne starrte sie sekundenlang an, als habe er Mühe, sie deutlich zu erkennen. Zu einer Hose aus weißem Nappaleder trug sie eine ärmellose schwarze Seidenbluse mit tiefem Ausschnitt — eine Aufmachung, in der sie sich nie gezeigt hätte, als sie noch die Rolle der unschuldigen Konzertpianistin und liebenden Tochter gespielt hatte. Er verwünschte sich, weil er sich von ihrer anfänglichen Antipathie gegen ihn hatte täuschen lassen. Darauf hätte er nicht reinfallen dürfen. Sie war zu hilfsbereit gewesen und hatte sich allzu gut in Molnars Gebäude ausgekannt. Aber daran ließ sich nachträglich nichts mehr ändern, deshalb schluckte er seine Enttäuschung hinunter und konzentrierte sich auf seine verzweifelte Lage.
«Was für eine wundervolle Schauspielerin du doch bist!«, sagte er.
Ein langsames Lächeln machte ihre Lippen breiter, und als sie sich leicht teilten, konnte er ihre weißen, ebenmäßigen Zähne sehen.»Nicht nur dir, sondern auch Chan gegenüber. «Sie zog den einzigen Stuhl in dem Raum heran und setzte sich dicht neben Bourne.»Weißt du, ich kenne ihn gut, deinen Sohn. O ja, ich weiß, Jason. Ich weiß mehr, als du denkst, viel mehr als du selbst. «Sie lachte leise: ein melodischer, glockenreiner Laut, aus dem reines Entzücken sprach, während sie Bournes Gesichtsausdruck in sich aufnahm.»Chan hat lange nicht gewusst, ob du lebst oder tot bist. Er hat mehrmals versucht, dich aufzuspüren — immer vergeblich, weil deine CIA dich hervorragend versteckt hatte —, bis Stepan ihm geholfen hat. Aber schon bevor er wusste, dass du tatsächlich noch lebst, hat er alle seine Mußestunden damit verbracht, sich raffinierte Methoden auszumalen, wie er sich an dir rächen würde. «Sie nickte.»Ja, sein Hass auf dich hat ihn völlig beherrscht, Jason. «Sie stützte ihre Ellbogen auf die Knie und beugte sich zu ihm hinüber.»Wie fühlst du dich, wenn du das hörst?«
«Oh, ich bewundere deine schauspielerischen Fähigkeiten. «Trotz der starken Gefühle, die sie bei ihm provoziert hatte, war er entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen.
Annaka zog einen Schmollmund.»Ich bin eine Frau mit vielen Talenten.«
«Und anscheinend mit vielen Loyalitäten. «Er schüttelte den Kopf.»Bedeutet dir die Tatsache, dass wir uns gegenseitig das Leben gerettet haben, wirklich nichts?«
Sie setzte sich wieder auf, wirkte plötzlich energisch, fast geschäftsmäßig.»Zumindest darin können du und ich übereinstimmen. Oft sind Leben und Tod die einzigen Dinge, auf die’s ankommt.«
«Dann befreie mich«, sagte er.
«Klar, weil ich mich Hals über Kopf in dich verliebt habe, Jason. «Sie lachte.»So funktioniert die Sache im richtigen Leben leider nicht. Das Leben habe ich dir aus einem einzigen Grund gerettet: Stepan.«
Er runzelte die Stirn, während er konzentriert nachdachte.»Warum tust du das?«
«Warum nicht? Ich kenne Stepan schon seit vielen Jahren. Eine Zeit lang war er der einzige Freund, den meine Mutter hatte.«
Das überraschte Bourne.»Spalko war mit deiner Mutter befreundet?«
Annaka nickte. Da er nun gefesselt war und keine Gefahr für sie darstellte, wollte sie anscheinend mit ihm reden. Das machte Bourne zu Recht misstrauisch.
«Er hat sie kennen gelernt, nachdem mein Vater sie weggeschickt hatte«, fuhr Annaka fort.
«Wohin weggeschickt?«Bourne war wider Willen fasziniert. Sie verstand es wirklich, Spannung aufzubauen.
«In eine Nervenheilanstalt. «Annakas Blick wurde dunkel und ließ kurz eine Spur von echten Gefühlen aufblitzen.»Er hat sie einweisen lassen. Das war nicht schwierig; sie war körperlich leidend, nie imstande, sich gegen ihn zu wehren. Damals… ja, damals war so was noch möglich.«
«Weshalb hätte er das tun sollen? Ich glaube dir nicht«, sagte Bourne ausdruckslos.
«Mir ist’s egal, ob du mir glaubst oder nicht. «Sie musterte ihn sekundenlang mit dem beunruhigenden Blick eines Reptils. Dann sprach sie weiter, vielleicht weil ihr das ein Bedürfnis war.»Sie war ihm lästig geworden. Seine Geliebte hat es von ihm verlangt; in dieser Beziehung war er abscheulich schwach. «Der Ausbruch nackten Hasses hatte ihr Gesicht in eine hässliche Maske verwandelt, und Bourne begriff, dass sie endlich die Wahrheit über ihre Vergangenheit preisgegeben hatte.»Er hat niemals erfahren, dass
ich die Wahrheit entdeckt hatte, und ich habe mir nie etwas anmerken lassen. Niemals.« Sie warf den Kopf in den Nacken.»Jedenfalls ist Stepan als Besucher in die Heilanstalt gekommen. Damals hat er seinen Bruder besucht. den Bruder, der versucht hatte, ihn umzubringen.«
Bourne starrte sie sprachlos an. Er war sich bewusst, dass er keine Ahnung hatte, ob sie log oder die Wahrheit sagte. Zumindest in einer Beziehung hatte er sie richtig beurteilt- sie führte tatsächlich Krieg. Die Rollen, die sie so meisterhaft gespielt hatte, waren ihre Offensive in feindliches Gebiet. Er begegnete Annakas unversöhnlichem Blick und erkannte, dass die Art und Weise, wie sie alle, die in ihren Einflussbereich gelangten, mutwillig manipulierte, etwas Monströses hatte.
Annaka beugte sich zu ihm hinüber und nahm sein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger.»Du bist Stepan noch nie begegnet, stimmt’s? Er hat unzählige plastische Operationen am Hals und der rechten Gesichtshälfte hinter sich. Den Leuten erzählt er alle möglichen Geschichten, aber Tatsache ist, dass sein Bruder ihn mit Benzin übergossen und dann ein Feuerzeug an sein Gesicht gehalten hat.«
Er reagierte unwillkürlich.»Großer Gott! Warum?«
Sie zuckte mit den Schultern.»Sein Bruder ist ein gemeingefährlicher Irrer. Stepan hat’s gewusst — seine Eltern übrigens auch —, aber er wollte es nicht wahr haben, bis es zu spät war. Und auch danach hat er den Jungen verteidigt und darauf bestanden, das Ganze sei ein tragischer Unfall gewesen.«
«Das mag alles stimmen«, sagte Bourne.»Aber es hat dir trotzdem nicht das Recht gegeben, ein Komplott gegen den eigenen Vater zu schmieden.«
Sie lachte.»Wie kannst ausgerechnet du das sagen, obwohl dein Sohn und du versucht haben, euch gegenseitig umzubringen? Solche Wildheit in zwei Männern, mein Gott!«
«Er will mich umlegen. Ich verteidige mich nur.«
«Aber er hasst dich, Jason, mit einer Leidenschaft, wie ich sie selten erlebt habe. Er hasst dich genauso, wie ich meinen Vater gehasst habe. Und weißt du, warum? Weil du ihn verlassen hast, wie mein Vater meine Mutter verlassen hat.«
«Du redest, als sei er tatsächlich mein Sohn«, knurrte Bourne.
«Ah, richtig, du hast dir eingeredet, er sei’s nicht. Das ist praktisch, nicht wahr? Auf diese Weise brauchst du nicht daran zu denken, wie du ihn dem Tod im Dschungel überlassen hast.«
«Nein, das habe ich nicht!«Bourne wusste, dass es falsch war, sich von ihr in diese emotional geladene Diskussion verwickeln zu lassen, aber er konnte nicht anders.»Mir hat man gesagt, er sei tot. Ich hatte keine Ahnung, dass er überlebt haben könnte. Das habe ich erst entdeckt, als ich in die staatliche Datenbank eingedrungen bin.«
«Hast du alles getan, um dir Gewissheit zu verschaffen? Nein, du hast deine Familie begraben, ohne auch nur einen Blick in die Särge zu werfen! Hättest du’s getan, hättest du gesehen, dass der Sarg deines Sohnes leer war. Nein, du Feigling, du hast stattdessen fluchtartig das Land verlassen.«
Bourne zerrte erneut an seinen Fesseln.»Das ist gut — du dozierst hier über Familiendinge!«
«So, das reicht. «Stepan Spalko hatte den Raum mit dem perfekten Timing eines Zirkusdirektors betreten.
«Ich habe mit Mr. Bourne nun wichtigere Angelegenheiten zu besprechen.«
Annaka stand gehorsam auf. Sie tätschelte Bourne die Wange.»Schau nicht so mürrisch drein, Jason. Du bist nicht der erste Mann, den ich zum Narren gehalten habe, und du wirst nicht der Letzte sein.«
«Nein«, sagte er.»Spalko wird der Letzte sein.«
«Annaka, lass uns jetzt allein«, sagte Spalko und rückte seine Fleischerschürze mit Händen zurecht, die in Latexhandschuhen steckten. Die Schürze war frisch gewaschen und gebügelt. Noch hatte sie keinen einzigen Blutfleck.
Als Annaka hinausging, konzentrierte Bourne seine Aufmerksamkeit auf diesen Mann, der nach Chans Aussage Alex und Mo hatte ermorden lassen.»Und Sie misstrauen ihr nicht, nicht einmal ein bisschen?«
«Ja, sie ist eine ausgezeichnete Lügnerin. «Er schmunzelte.»Und ich verstehe mich selbst ganz gut aufs Lügen. «Er trat an das Wägelchen und musterte mit Kennerblick die in den Fächern aufgereihten Instrumente.»Wahrscheinlich ist’s nur verständlich, dass Sie glauben, weil Annaka Sie verraten hat, müsste sie das auch bei mir tun. «Als Spalko sich etwas zur Seite drehte, spiegelte das Licht sich auf der unnatürlich glatten Haut von Hals und rechter Gesichtshälfte.»Oder versuchen Sie etwa einen Keil zwischen uns zu treiben? Das wäre die übliche Arbeitsweise eines hochkarätigen Agenten, wie Sie einer sind. «Er zuckte mit den Schultern, griff nach einem Instrument, zwirbelte es zwischen den Fingern.»Mr. Bourne, was mich interessiert, ist die Frage, wie viel Sie über Dr. Schiffer und seine kleine Erfindung in Erfahrung gebracht haben.«
«Wo ist Felix Schiffer?«
«Sie könnten ihm nicht helfen, Mr. Bourne, selbst wenn Sie das Unmögliche schaffen und sich befreien könnten. Er hat seine Schuldigkeit getan und kann jetzt von niemandem wiederbelebt werden.«
«Sie haben ihn umgebracht«, sagte Bourne,»genau wie Sie Alex Conklin und Mo Panov ermordet haben.«
Spalko zuckte mit den Schultern.»Conklin hat mir Schiffer weggeschnappt, als ich ihn am dringendsten brauchte. Ich habe ihn mir natürlich zurückgeholt. Ich bekomme immer, was ich will. Aber Conklin musste dafür büßen, dass er geglaubt hatte, er könnte meine Pläne ungestraft durchkreuzen.«
«Und Panov?«
«Der war zur falschen Zeit am falschen Ort«, sagte Spalko.»So einfach war das.«
Bourne dachte an all das Gute, das Mo Panov in seinem Leben für ihn getan hatte, und fühlte sich von der Nutzlosigkeit seines Lebens überwältigt.»Wie können Sie von der Ermordung zweier Männer reden, als bedeute sie nicht mehr als ein Fingerschnalzen?«
«Weil sie mich nicht mehr gekostet hat, Mr. Bourne. «Stepan Spalko lachte.»Und schon morgen wird der Tod dieser beiden vor dem verblassen, was der Welt bevorsteht.«
Bourne bemühte sich, das glitzernde Instrument nicht anzusehen. Stattdessen erschien vor seinem inneren Auge ein Bild von Laszlo Molnars bläulich weißer Leiche, die jemand in dessen Kühlschrank gezwängt hatte. An ihr hatte er selbst gesehen, welche Wunden ihm Spalko mit diesen Instrumenten zufügen konnte.
Angesichts der offensichtlichen Tatsache, dass Spalko für Molnars Folterung und Tod verantwortlich gewesen war, wusste er jetzt, dass alles, was Chan ihm über diesen Mann erzählt hatte, wahr gewesen war. Und wenn Chan die Wahrheit über Spalko erzählt hatte, war es dann nicht möglich, dass er schon immer die Wahrheit gesagt hatte, dass er wirklich Jason Bournes Sohn war? Die Tatsachen waren unwiderlegbar, die Wahrheit lag vor ihm, und Bourne fühlte ihr Gewicht wie einen Berg auf seinen Schultern lasten. Er konnte es nicht ertragen… sich was einzugestehen?
Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr, weil Spalko dabei war, seine Folterinstrumente zu gebrauchen.»Ich frage Sie noch ein Mal: Was wissen Sie über Dr. Schiffers Erfindung?«
Bourne sah an Spalko vorbei. Er starrte die nackte Betonwand an.
«Sie haben sich dafür entschieden, mir nicht zu antworten«, sagte Spalko.»Ich bewundere Ihren Mut. «Er lächelte charmant.»Und bemitleide die Sinnlosigkeit Ihrer Geste.«
Er trieb das spiralförmige Ende des Instruments in Bournes Fleisch.