Spalko und Sina erreichten Kreta vor Sonnenaufgang und landeten auf dem Flughafen Kazantzakis knapp außerhalb von Iraklion. Sie wurden von einem Chirurgen und drei Männern begleitet, die Sina während des Fluges unauffällig studiert hatte. Sie waren nicht besonders groß, was den Vorteil hatte, dass sie niemals aus der Menge hervorragen würden. Spalkos gesteigertes Sicherheitsbewusstsein diktierte, dass er sich — wenn er wie jetzt nicht als Stepan Spalko, Präsident von Humanistas, Ltd. sondern als der Scheich auftrat — möglichst unauffällig verhielt. Das galt nicht nur für ihn, sondern auch für alle seine Begleiter. In den sparsamen Bewegungen dieser Männer erkannte Sina ihre Kraft, denn sie hatten ihre Körper absolut unter Kontrolle, und wenn sie sich bewegten, taten sie es mit der Sicherheit und Geschmeidigkeit von Tänzern oder Jogameistern. In ihren dunklen Augen erkannte sie eine Zielstrebigkeit, die man erst nach jahrelanger harter Ausbildung erlangt. Auch wenn sie Sina respektvoll anlächelten, konnte sie die in ihnen lauernde Gefahr spüren, die wie eine zusammengerollte Schlange geduldig darauf wartete, freigesetzt zu werden.
Kreta, die größte Insel im Ägäischen Meer, ist eine Brücke zwischen Europa und Afrika: Ihre unter der heißen Mittelmeersonne liegende Südküste war seit vielen Jahrhunderten ganz nach Alexandria in Ägypten und Bengasi in Libyen orientiert. Aber eine Insel in so gesegneter Lage musste unweigerlich Eroberer anziehen. Als Schmelztiegel von Kulturen hatte sie folglich eine blutige Geschichte. Wie Wellen, die sich am Strand brachen, gingen Invasoren aus fremden Ländern in den Buchten und an den Stränden Kretas an Land und brachten ihre Kultur, Sprache, Architektur und Religion mit.
Iraklion war im Jahr 824 v. Chr. von den Sarazenen gegründet worden. Sie nannten es Chandax, eine Verballhornung des arabischen Worts kandak, das den um die Stadt herum angelegten Wassergraben bezeichnete. Die Sarazenen herrschten hundertvierzig Jahre lang, bevor sie von den Byzantinern vertrieben wurden. Aber die Piraten waren so erstaunlich erfolgreich gewesen, dass dreihundert Schiffe nötig waren, um ihre aufgehäufte Beute nach Byzanz zu schaffen.
Während der venezianischen Besetzung trug die Stadt den Namen Candia. Unter den Venezianern entwickelte sie sich zum bedeutendsten Kulturzentrum des östlichen Mittelmeers. Doch damit war Schluss, nachdem Kreta erstmals von den Türken besetzt wurde.
Diese multikulturelle Vergangenheit hatte überall deutlich sichtbare Spuren hinterlassen: in der mächtigen venezianischen Festung, die den schönen Hafen von Iraklion schützte; im Rathaus, das eine venezianische Loggia war, und dem» Koubes«, dem türkischen Brunnen in der Nähe der Basilika des Agios Titos, die von den Türken zur Moschee umgebaut worden war.
Aber in der modernen, belebten Großstadt selbst war keine Spur der minoischen Kultur zurückgeblieben — der ersten und aus archäologischer Sicht wichtigsten kretischen Zivilisation. Gewiss, außerhalb der eigentlichen Stadt waren Überreste des Palasts von Knossos zu besichtigen, aber nur Historiker wiesen darauf hin, dass die Sarazenen Chandax an genau der Stelle gegründet hatten, an der schon vor Jahrtausenden der wichtigste minoische Hafen gelegen hatte.
Im Grunde genommen blieb Kreta eine geheimnisumwitterte Insel, die man nicht betreten konnte, ohne an die Sagen erinnert zu werden, die sich um seine versunkene Kultur rankten. Viele Jahrhunderte vor dem Auftreten der Sarazenen, der Venezianer oder der Türken hatte die Insel, aus dem Dunstkreis der Vorgeschichte tretend, erstmals eine bedeutende Rolle erlangt. Minos, der erste kretische König, war ein Halbgott. Sein Vater Zeus hatte seine Mutter Europa in Gestalt eines Stiers entführt, und so wurde der Stier von Anfang an zu einem wichtigen Symbol der Insel.
Minos und seine beiden Brüder kämpften um die Herrschaft über Kreta, aber Minos betete zu Poseidon und versprach dem Meeresgott ewigen Gehorsam, wenn er ihm helfe, seine Brüder zu besiegen. Poseidon erhörte sein Gebet, und aus dem aufgewühlten Meer erhob sich ein schneeweißer Stier. Minos hätte ihn als Zeichen seiner Dienstbarkeit gegenüber Poseidon opfern sollen, aber der habgierige König behielt den Stier für sich selbst. Daraufhin sorgte der zornige Meeresgott dafür, dass die Gemahlin des Minos sich in den Stier verliebte. Sie ließ sich von Dädalus, dem Lieblingsarchitekten des Königs, heimlich eine hohle hölzerne Kuh bauen, in der sie sich versteckte, damit der Stier sich mit ihr paaren konnte. So wurde der Minotaurus gezeugt — ein riesiger Mann mit Haupt und Schwanz eines Stiers —, dessen Wildheit solche Schäden anrichtete, dass Minos von Dädalus ein gewaltiges Labyrinth erbauen ließ, das so kompliziert war, dass der gefangene Minotaurus niemals daraus entkommen konnte.
An diese Sage dachte Stepan Spalko mehrmals, als er mit seinem Team die steilen Straßen der Stadt hinauffuhr, denn er hatte eine Affinität zu griechischen Mythen mit ihrer Betonung von Vergewaltigung, Inzest, Sodomie, Blutvergießen und Hybris. Da er in vielen Sagen Aspekte seines eigenen Ichs wieder erkannte, fiel es ihm nicht schwer, sich für einen Halbgott zu halten.
Wie viele Inselstädte im Mittelmeer lag Iraklion an einer Bergflanke, sodass seine Steinhäuser sich an steilen Straßen erhoben, auf denen zum Glück Busse und Taxis verkehrten. Die ganze Insel wird von einer Gebirgskette, den Weißen Bergen, durchzogen.
Die Adresse, die Spalko bei der Vernehmung Laszlo Molnars erfahren hatte, bezeichnete ein Haus ungefähr auf halber Höhe über dem Hafen. Es gehörte einem Architekten namens Istos Daedalika, der sich als ebenso geheimnisvoll erwies wie sein Namensvetter aus der antiken Sage. Spalkos Team hatte ermittelt, dass eine mit Laszlo Molnar in Verbindung stehende Firma das Haus gemietet hatte. Als sie es erreichten, war der Morgenhimmel eben im Begriff, wie eine Nussschale aufzuplatzen und die blutrote Mittelmeersonne zum Vorschein kommen zu lassen.
Nach kurzer Erkundung legten sie alle winzige Ohrhörer an, über die sie drahtlos verbunden waren. Dann überprüften sie ihre Waffen: Hightech-Armbrüste aus Verbundmaterial, deren garantierte Lautlosigkeit ihren Absichten entgegenkam. Nach einem Uhrenvergleich schickte Spalko zwei seiner Männer zum Hintereingang des Hauses, während Sina und er sich den Haupteingang vornahmen. Der dritte Mann des Teams sollte Wache halten und sie warnen, falls sich auf der Straße etwas Verdächtiges ereignen oder gar die Polizei auftauchen sollte.
Die Straße war menschenleer und verlassen, denn um diese Zeit war noch niemand unterwegs. Im Haus brannte kein Licht, aber Spalko hatte auch keines erwartet. Er sah auf seine Uhr und zählte ins Mikrofon, während der Sekundenzeiger der vollen Minute zustrebte.
Im Haus waren die Söldner schon auf den Beinen. Heute war Umzugstag, an dem sie das Haus wie schon andere vor ihnen verlassen würden. Sie brachten Dr. Schiffer alle drei Tage an einen anderen Ort auf der Insel; das taten sie rasch und effizient, sobald das nächste Ziel in letzter Minute bestimmt worden war. Solche Sicherheitsmaßnahmen erforderten, dass einige von ihnen zurückblieben, um alle Spuren ihrer Anwesenheit zu beseitigen.
In diesem Augenblick waren die Söldner im ganzen Haus verteilt. Einer von ihnen goss in der Küche türkischen Kaffee auf, ein weiterer Mann war im Bad, und ein Dritter hatte den Satellitenfernseher eingeschaltet. Er verfolgte die Nachrichten ohne sonderliches Interesse, dann trat er ans Wohnzimmerfenster, zog den Vorhang einen Spalt weit auf und spähte auf die Straße hinaus. Alles wirkte normal. Er räkelte sich wie eine Katze, dehnte und streckte seinen Körper. Dann legte er sein Schulterholster an und brach zu seinem morgendlichen Kon-trollgang auf.
Er schloss die Haustür auf, trat hinaus und bekam prompt Spalkos Armbrustbolzen ins Herz. Er taumelte mit ausgebreiteten Armen rückwärts, verdrehte die Augen nach oben und war tot, bevor er auf den Rücken krachte.
Spalko und Sina betraten die Diele in dem Augenblick, in dem seine Männer die Hintertür aufbrachen. Der Söldner in der Küche ließ seine Kaffeetasse fallen, zog seine Waffe und verwundete einen von Spalkos Männern leicht, bevor auch er durchbohrt wurde.
Spalko nickte Sina zu, dann nahm er je drei Stufen der in den ersten Stock hinaufführenden Treppe auf einmal.
Sina reagierte auf die durch die Badezimmertür kommenden Schüsse, indem sie einen von Spalkos Männern durch den Hintereingang ins Freie beorderte. Den zweiten Mann ließ sie die Tür aufbrechen. Das tat er rasch und wirkungsvoll. Als sie ins Bad stürmten, wurden sie nicht mit Schüssen empfangen. Stattdessen sahen sie das offene Fenster, durch das der Söldner geflüchtet war. Mit dieser Möglichkeit hatte Sina gerechnet und deshalb einen Mann draußen postiert.
Im nächsten Augenblick hörten sie das typische Schwirren eines Armbrustbolzens, dem ein ersticktes Grunzen folgte.
Oben lief Spalko in geduckter Haltung von einem Raum zum anderen. Das erste Schlafzimmer war leer, also huschte er ins nächste weiter. Als er am Bett vorbeikam, nahm er links von sich in dem Wandspiegel über der Kommode eine Bewegung wahr. Unter dem Bett bewegte sich etwas. Spalko ließ sich sofort auf die Knie nieder und verschoss einen Bolzen, der den Rüschenbehang des Bettgestells durchschlug. Das Bett wurde hochgehoben, als der Getroffene keuchend und stöhnend um sich schlug.
Auf den Knien liegend legte Spalko den nächsten Bolzen ein und begann zu zielen, als er plötzlich umgeworfen wurde. Etwas Hartes streifte seinen Schädel, eine Kugel surrte als Querschläger davon, und er fühlte ein Gewicht auf sich lasten. Er ließ sofort die Armbrust fallen, zog sein Jagdmesser und rammte es dem auf ihm lastenden Angreifer in den Leib. Als es bis zum Heft darin vergraben war, drehte er die Klinge, wobei er vor Anstrengung mit den Zähnen knirschte, und wurde mit einem heißen Blutstrom belohnt.
Mit einem Grunzen warf er den Söldner von sich ab, riss sein Messer heraus und wischte die Klinge an dem Rüschenbehang ab. Dann schoss er den zweiten Bolzen senkrecht durchs Bett. Teile der Matratzenfüllung flogen in die Luft, und die Bewegung unter dem Bett hörte abrupt auf.
Nachdem er die übrigen Räume im Obergeschoss durchsucht hatte, kam er ins Wohnzimmer zurück, wo nach dem Schuss der Gestank von Kordit hing. Einer seiner Männer kam durch die offene Hintertür herein und schleppte dabei den letzten überlebenden Söldner mit, den er schwer verwundet hatte. Der ganze Überfall hatte keine drei Minuten gedauert, was Spalko nur recht war; je weniger Aufmerksamkeit sie auf das Haus lenkten, desto besser.
Nirgends eine Spur von Dr. Felix Schiffer. Und trotzdem wusste Spalko, dass Laszlo Molnar ihn nicht belogen hatte. Diese Männer gehörten zu dem Söldnerkontingent, das Molnar angeworben hatte, als Conklin und er Dr. Schiffers Verschwinden organisiert hatten.
«Verluste?«, fragte er seine Männer.
«Marco ist verwundet. Nichts Schlimmes, ein glatter Oberarmdurchschuss links«, meldete einer von ihnen.»Zwei Gegner tot, einer schwer verwundet.«
Spalko nickte.»Und zwei Tote im ersten Stock.«
Der Mann deutete mit dem in seine Armbrust eingelegten Bolzen auf den letzten noch lebenden Söldner und fügte hinzu:»Der macht’s nicht mehr lange, wenn er keinen Arzt bekommt.«
Spalko sah zu Sina hinüber und nickte ihr leicht zu. Sie trat neben den Verletzten, kniete nieder, drehte ihn auf den Rücken. Er stöhnte laut, während seine Wunde wieder stärker zu bluten begann.
«Wie heißt du?«, fragte sie auf Ungarisch.
Er sah zu ihr auf. Schmerzen und das Bewusstsein, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, verdunkelten seinen Blick.
Sina holte ein Streichholzbriefchen aus der Tasche.»Wie heißt du?«, wiederholte sie auf Griechisch.
Als sie keine Antwort bekam, wies sie Spalkos Männer an:»Haltet ihn fest.«
Zwei von ihnen beeilten sich, ihre Anweisung auszuführen. Der Söldner wehrte sich kurz, dann lag er still. Er starrte gleichmütig zu ihr auf; schließlich war er ein Berufssoldat.
Sie riss ein Streichholz an. Scharfer Schwefelgeruch begleitete das Aufflammen des Zündholzkopfs. Mit Daumen und Zeigefinger einer Hand spreizte sie ein Augenlid; mit der anderen Hand brachte sie die Flamme dicht an den exponierten Augapfel heran.
Das andere Auge des Söldners blinzelte manisch, und seine Atmung wurde röchelnd. Die von dem feuchten Augapfel reflektierte Flamme kam stetig näher. Der Mann empfand Angst, das sah sie, aber darunter verbarg sich ein Gefühl der Ungläubigkeit. Er glaubte einfach nicht, dass sie ihre Drohung wahr machen würde. Bedauerlich, aber für sie nicht weiter wichtig.
Der Söldner kreischte, und sein Körper bäumte sich auf, obwohl die Männer sich alle Mühe gaben, ihn festzuhalten. Er wand sich weiter heulend, als das erlöschende Streichholz rauchend auf seine Brust fiel. Sein unversehrtes Auge rollte verzweifelt in seiner Höhle, als versuche es, eine sichere Zuflucht zu finden.
Als Sina seelenruhig das nächste Zündholz anriss, musste der Söldner sich plötzlich übergeben. Sina ließ sich dadurch nicht beirren. Er musste jetzt begreifen, dass es nur eine Antwort gab, die bewirken würde, dass sie aufhörte. Er war nicht dumm; er wusste längst, wie sie lautete. Und kein Geld dieser Welt war solche Folterqualen wert. In dem tränenden unversehrten Auge las sie seine Kapitulation. Trotzdem würde sie nicht lockerlassen, bevor er ihr gesagt hatte, wohin sie Schiffer gebracht hatten.
Stepan Spalko, der hinter ihr stand und die Szene von Anfang bis Ende beobachtet hatte, war wider Willen beeindruckt. Er hatte keine klare Vorstellung davon gehabt, wie Sina vorgehen würde, wenn er ihr das Verhör übertrug. In gewisser Beziehung war das ein Test; aber es war auch mehr — es bot ihm die Möglichkeit, sie auf jene intime Weise kennen zu lernen, die er so schätzte.
Als Mann, der Tag für Tag Worte benützte, um Menschen und Ereignisse zu manipulieren, betrachtete Spal-ko sie mit angeborenem Misstrauen. Menschen logen, so einfach war das. Manche logen, weil ihnen gefiel, welche Wirkungen sie damit erzielen konnten; andere logen unbewusst, um sich vor Nachforschungen zu schützen; wieder andere belogen sich selbst. Nur darin, wie sie handelten, vor allem in extremen Situationen oder unter Zwang, zeigte sich ihr wahres Wesen. Dann gab es kein
Lügen mehr; man konnte den vorliegenden Beweisen unbesorgt vertrauen.
Jetzt wusste er eine Wahrheit über Sina, die er bis dahin nicht gekannt hatte. Er bezweifelte, dass Hassan Ar-senow sie kannte; dass er sie überhaupt geglaubt hätte, wenn man sie ihm erzählt hätte. In ihrem Innersten war Sina stahlhart, ja sie war sogar härter als Arsenow selbst. Als er jetzt beobachtete, wie sie aus dem unglücklichen Söldner die benötigten Informationen herausholte, wusste er, dass sie auch ohne Arsenow leben konnte — aber Arsenow nicht ohne sie.
Bourne wachte zum Klang von Übungsarpeggien und aromatischem Kaffeeduft auf. Einige Sekunden lang verharrte er noch zwischen Schlaf und Bewusstsein. Er merkte, dass er mit einer Steppdecke über sich und einem Daunenkissen unter dem Kopf auf Annaka Vadas’ Sofa lag. Im nächsten Augenblick kam er hellwach in Annakas sonnendurchflutetem Wohnzimmer an. Er drehte sich um und sah sie mit einem riesigen Kaffeebecher neben sich an ihrem Konzertflügel sitzen.
«Wie spät ist’s?«
Sie spielte weiter ihre Arpeggien, ohne den Kopf zu heben.»Nachmittag.«
«Jesus!«
«Ja, es war Zeit, ich übe, Zeit, dass du aufstehst. «Sie begann ein Thema zu spielen, das er nicht identifizieren konnte.»Beim Aufstehen dachte ich eigentlich, du wärst in dein Hotel verschwunden, aber dann bin ich hier reingekommen und habe dich schlafen gesehen wie ein Baby. Also bin ich in die Küche gegangen und habe Kaffee gekocht. Möchtest du Kaffee?«
«Gern.«
«Du weißt, wo er steht.«
Sie hob jetzt den Kopf, sah absichtlich nicht weg und beobachtete, wie er die Daunendecke zurückschlug und Hemd und Cordhose anzog. Er tappte ins Bad, und als er dort fertig war, ging er in die Küche. Als er sich Kaffee eingoss, sagte sie:»Du hast dich gut gehalten, auch wenn dein Körper so vernarbt ist.«
Er suchte die Sahne. Annaka trank ihren Kaffee anscheinend schwarz.»Die Narben verleihen mir Charakter.«
«Auch die quer über deiner Kehle?«
Bourne durchsuchte weiter den Kühlschrank und gab keine Antwort, sondern griff unwillkürlich nach seiner Wunde und spürte dabei wieder Mylene Dutroncs mitfühlende Fürsorge.
«Die ist neu«, sagte sie.»Woher hast du die?«
«Von einem Zusammentreffen mit einem sehr großen, sehr zornigen Wesen.«
Sie bewegte sich, als sei ihr plötzlich unbehaglich.»Wer hat versucht, dir die Kehle durchzuschneiden?«
Er hatte die Sahne gefunden. Er kippte einen Schuss in seinen Kaffee, fügte zwei Löffel Zucker hinzu, rührte um, nahm den ersten Schluck. Als er ins Wohnzimmer zurückkam, sagte er:»Das kann im Zorn passieren, hast du das nicht gewusst?«
«Woher sollte ich? Ich bin kein Teil deiner gewalttätigen Welt.«
Er musterte sie gleichmütig.»Du wolltest mich erschießen, hast du das vergessen?«
«Ich vergesse nie etwas«, sagte sie knapp.
Irgendetwas, das er gesagt hatte, hatte sie aufgebracht, aber Bourne wusste nicht, was. Ein Teil ihres Ichs war sehr dünnhäutig. Vielleicht war das eine Folge des Schocks nach dem plötzlichen und gewaltsamen Tod ihres Vaters.
Vorsichtshalber wechselte er das Thema.»Du hast nichts Essbares im Kühlschrank.«
«Ich esse meistens außer Haus. Ein paar Straßen weiter gibt’s ein gutes Cafe.«
«Könnten wir dort hingehen?«, schlug er vor.»Ich bin ausgehungert.«
«Sobald ich fertig bin. Nach unserer langen Nacht habe ich einiges nachzuholen.«
Die Klavierbank scharrte über den Parkettboden, als Annaka sich zurechtsetzte. Dann erklangen die ersten Takte von Chopins Nocturne Opus 9, No. 1 in b-moll, kreiselten wie fallende Blätter an einem goldenen Herbstnachmittag. Bourne war überrascht, wie sehr er die Musik genoss.
Kurze Zeit später stand er auf, setzte sich an den kleinen Schreibsekretär und klappte ihren Laptop auf.
«Lass das bitte«, sagte Annaka, ohne den Blick von ihren Noten zu nehmen.»Es stört mich.«
Bourne blieb sitzen, versuchte sich zu entspannen, während herrliche Musik die Wohnung erfüllte.
Kaum waren die letzten Noten des Nocturnes verklungen, als Annaka aufstand und in die Küche ging. Er hörte Wasser in den Ausguss laufen, während sie darauf wartete, dass es kalt wurde. Es schien sehr lange zu laufen. Dann kam sie mit einem Glas Wasser in der Hand zurück, das sie mit einem einzigen langen Zug leerte. Bourne, der sie von seinem Platz am Sekretär aus beobachtete, sah die Kurve ihres blassen Halses, das Gekräu-sel einiger Haarsträhnen in feurigem Kupferrot an ihrem Haaransatz.
«Du hast dich letzte Nacht sehr gut gehalten«, sagte Bourne.
«Danke, dass du mir von dem Sims runter geholfen hast. «Sie sah weg, als halte sie sein Kompliment für völlig unverdient.»Solche Angst habe ich noch nie im Leben gehabt.«
Sie waren in dem altmodischen Cafe, das voller Kristallkronleuchter, Samtsitzkissen und durchsichtiger Wandleuchten auf Kirschbaumpaneelen war. Sie saßen sich an einem Fenstertisch gegenüber; vor sich hatten sie die Terrasse, deren Tische und Stühle jedoch unbesetzt waren, weil der Tag zu kühl war.
«Was mir jetzt Sorgen macht, ist die Tatsache, dass Molnars Wohnung überwacht wurde«, sagte Bourne.»Anders lässt sich das Auftauchen der Polizei in genau diesem Augenblick nicht erklären.«
«Weshalb sollte jemand die Wohnung überwachen?«
«Um zu sehen, ob wir dort aufkreuzen. Seit meiner Ankunft in Budapest sind meine Nachforschungen behindert worden.«
Annaka sah nervös aus dem Fenster.»Und jetzt? Bei der Vorstellung, dass jemand mein Apartment beobachtet — dass er uns beobachtet —, kriege ich eine Gänsehaut.«
«Von deiner Wohnung aus ist uns niemand hierher gefolgt. Das habe ich kontrolliert. «Er machte eine Pause, während ihr Essen serviert wurde. Als der Kellner gegangen war, fuhr er fort:»Erinnerst du dich an die Vorsichtsmaßnahmen der vergangenen Nacht, nachdem uns die Flucht vor der Polizei geglückt war? Wir sind getrennt mit dem Taxi gefahren, haben es einmal gewechselt, sind kreuz und quer durch die Stadt gefahren.«
Sie nickte.»Ich war viel zu fertig, um gegen deine verrückten Anweisungen zu protestieren.«
«Niemand weiß, wohin wir gefahren oder dass wir jetzt zusammen sind.«
«Nun, das ist mir eine Beruhigung. «Nachdem sie unwillkürlich die Luft angehalten hatte, atmete sie jetzt tief durch.
Ein einziger Gedanke beherrschte Chan, als er Bourne und die Frau aus ihrem Haus kommen sah. Obgleich Spalko großspurig verkündet hatte, er sei vor Bournes Nachforschungen sicher, kam Bourne immer näher an ihn heran. Irgendwie war er auf Laszlo Molnar gestoßen, für den auch Spalko sich interessierte. Außerdem hatte er entdeckt, wo Molnar wohnte, und war vermutlich in seinem Apartment gewesen, als die Polizei angerückt war. Weshalb war Molnar für Spalko wichtig? Das musste Chan noch herausbekommen.
Er beobachtete von hinten, wie Bourne und die Frau davongingen. Dann stieg er aus seinem Leihwagen und ging zum Eingang der Nr. 106–108 Fo utca hinüber. Er sperrte die Haustür mit einem Dietrich auf, betrat die Eingangshalle und fuhr mit dem Aufzug in den dritten Stock hinauf. Dort oben fand er die aufs Dach führende schmale Treppe. Die Tür zum Dach war mit einer Alarmanlage gesichert, was keine Überraschung war, aber für Chan war es eine Kleinigkeit, die Anlage zu überlisten. Er trat aus der Tür auf das Flachdach und ging sofort nach vorn auf die Straßenseite.
Mit den Händen auf der Steinbrüstung beugte er sich nach vorn und sah sofort unmittelbar unter sich die beiden Erkerfenster im dritten Stock. Er kletterte über die Brüstung und ließ sich auf den Sims unterhalb der Fenster gleiten. Das erste Fenster war von innen verriegelt, aber das zweite war nur angelehnt. Er stieß es auf, schwang sich über die Fensterbank in die Wohnung.
Natürlich hätte er sich hier gern umgesehen, aber weil er nicht wusste, wann die beiden zurückkommen würden, durfte er das nicht riskieren. Er war nicht zum Vergnügen, sondern gewissermaßen dienstlich hier. Als er sich nach einem geeigneten Ort umsah, fiel sein Blick auf die Milchglasschale der Deckenlampe in der Mitte des Wohnzimmers. Dieses Versteck war so gut wie jedes andere, entschied er rasch, und besser als die meisten.
Er zog die Klavierbank heran, stellte sie unter die Lampe und stieg hinauf. Die winzige Wanze in seiner Hand ließ er in die Milchglasschale gleiten. Dann stieg er wieder herunter, steckte sich einen elektronischen Ohrhörer ins Ohr und aktivierte die Wanze.
Er hörte kleine Geräusche, als er die Klavierbank wieder vor den Flügel schob, und die eigenen Schritte, als er übers Parkett zu dem Sofa ging, auf dem eine Daunendecke und ein Kopfkissen lagen. Er griff nach dem Kissen, schnüffelte an seiner Mitte. Er roch Bourne, aber dieser Geruch rief bisher schlummernde Erinnerungen wach. Als sie in seinem Gedächtnis aufzusteigen begannen, ließ er das Kissen hastig fallen, als sei es in Brand geraten. Dann verließ er das Apartment rasch auf dem Weg, auf dem er hereingekommen war, und ging die Treppe hinunter.
Diesmal durchquerte er den Eingangsbereich jedoch und verließ das Haus durch den Lieferanteneingang. Man konnte nie vorsichtig genug sein.
Annaka machte sich über ihr Frühstück her, das in diesem Cafe auch nachmittags serviert wurde. Das durchs Fenster einfallende Sonnenlicht beleuchtete ihre Pianistenfinger. Sie aß, wie sie spielte, handhabte Messer und Gabel wie Musikinstrumente.
«Wo hast du so Klavier spielen gelernt?«
«Hat’s dir gefallen?«
«Ja, sehr.«
«Warum?«
Er legte den Kopf schief.»Warum?«
Sie nickte.»Ja, warum hat dir mein Klavierspiel gefallen? Was hast du herausgehört?«
Bourne überlegte kurz.»Eine gewisse Traurigkeit, denke ich.«
Annaka legte Messer und Gabel weg, um die Hände frei zu haben, und begann einen Ausschnitt aus dem Nocturne zu singen.»Das liegt an den nicht aufgelösten Siebteln, weißt du. Mit ihnen hat Chopin die überlieferten Grenzen von Dissonanzen und Tonarten erweitert. «Sie sang halblaut weiter.»Das Ergebnis klingt aufgeschlossen. Und wegen dieser unaufgelösten dominanten Siebtel zugleich klagend.«
Sie machte eine Pause. Ihre schönen weißen Hände ruhten auf dem Tisch wie auf einer Tastatur, die langen Finger waren leicht gekrümmt, als seien sie weiterhin von der Energie des Komponisten belebt.
«Sonst noch etwas?«
Er dachte darüber nach, dann schüttelte er den Kopf.
Sie griff nach dem Besteck und aß weiter.»Klavier spielen habe ich von meiner Mutter gelernt. Das war ihr Beruf, Klavierlehrerin, und als sie das Gefühl hatte, ich sei reif dafür, hat sie mich an Chopin herangeführt. Er war ihr Lieblingskomponist, aber seine Musik ist unglaublich schwer zu spielen — nicht nur technisch, sondern auch, weil man die jeweilige Stimmung genau treffen muss.«
«Spielt deine Mutter noch?«
Annaka schüttelte den Kopf.»Ihre Gesundheit war wie die Chopins schwach. Tuberkulose. Sie ist gestorben, als ich achtzehn war.«
«Ein schlimmes Alter, um einen Elternteil zu verlieren.«
«Ihr Tod hat mein Leben verändert. Ich war natürlich untröstlich, aber zu meiner Verblüffung war ich unterschwellig auf sie zornig, wofür ich mich geschämt habe.«
«Zornig?«
Sie nickte.»Ich habe mich verlassen gefühlt, auf hoher See treibend, ohne Möglichkeit, wieder heimzufinden.«
Bourne begriff plötzlich, weshalb sie sich in die schwierige Lage eines Mannes mit Gedächtnisverlust hatte versetzen können.
Sie runzelte die Stirn.»Aber am meisten bedaure ich, wie schäbig ich sie behandelt habe. Als sie mich aufgefordert hat, Klavier spielen zu lernen, habe ich mich mit Händen und Füßen dagegen gesträubt.«
«Natürlich hast du das getan«, sagte er mild.»Das war ihre Idee. Außerdem war’s ihr Beruf. «Er empfand einen kleinen Schauder, als habe sie gerade eine von Chopins berühmten Dissonanzen gespielt.»Als ich mit meinem Sohn über Baseball gesprochen habe, hat er die Nase gerümpft — er wollte lieber Fußball spielen. «Als Bourne die Erinnerung an Joshua wachrief, richtete sein Blick sich nach innen.»Seine Freunde haben alle Fußball gespielt, aber das war nicht der einzige Grund. Seine Mutter war Thailänderin; auf ihren Wunsch ist er sehr früh im
Buddhismus unterwiesen worden. Sein >Amerikanertum< hat ihn nicht interessiert.«
Annaka schob ihren leer gegessenen Teller von sich weg.»Ich glaube im Gegenteil, dass sein >Amerikanertum< ihn vermutlich sehr beschäftigt hat«, sagte sie.»Wie könnte’s anders sein? Glaubst du nicht, dass er in der Schule tagtäglich daran erinnert worden ist?«
Vor seinem inneren Auge erschien plötzlich Joshua: verpflastert, mit einem blau-schwarzen Auge. Als er Dao danach gefragt hatte, hatte sie behauptet, der Junge habe sich zu Hause bei einem Sturz verletzt. Aber am nächsten Tag hatte sie Joshua in die Schule begleitet und war mehrere Stunden dort geblieben. Bourne hatte sie nie eingehend befragt; damals war er beruflich zu eingespannt gewesen, um sich überhaupt mit dieser Sache zu beschäftigen.
«Darauf bin ich nie gekommen«, sagte er jetzt.
Sie zuckte mit den Schultern und sagte ohne wahrnehmbare Ironie:»Weshalb auch? Du bist Amerikaner. Die Welt gehört dir.«
Woher kommt ihre unterschwellige Feindseligkeit? fragte er sich. Von der tiefen Angst vor dem hässlichen Amerikaner, die in letzter Zeit wieder geschürt worden ist?
Sie ließ sich Kaffee nachschenken.»Du kannst deine Probleme wenigstens mit deinem Sohn besprechen«, sagte sie.»Mit meiner Mutter…«Sie zuckte mit den Schultern.
«Mein Sohn ist tot«, sagte Bourne,»seine Schwester und seine Mutter auch. Die drei sind vor vielen Jahren in Phnom Penh umgekommen.«
«Oh. «Anscheinend hatte er ihren coolen, stählernen Panzer endlich durchstoßen.»Das tut mir sehr Leid.«
Bourne sah zur Seite, denn jede Erwähnung Joshuas quälte ihn wie Salz in einer offenen Wunde.»Du hast dich doch bestimmt mit deiner Mutter versöhnt, bevor sie gestorben ist.«
«Ich wollte, ich hätte’s getan. «Annaka starrte in ihren Kaffee; auf ihrem Gesicht stand ein konzentrierter Ausdruck.»Erst als sie mich an Chopin herangeführt hat, habe ich den ganzen Wert ihres Geschenks begriffen. Mit welcher Begeisterung ich die Nocturnes gespielt habe, auch als ich noch mit ihren technischen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte!«
«Das hast du ihr nicht erzählt?«
«Ich war ein Teenager; wir haben nicht viel miteinander gesprochen. «Ihre Augen waren kummervoll dunkel.»Heute wünsche ich mir, ich hätte es getan.«
«Du hattest deinen Vater.«
«Ja, natürlich«, sagte sie.»Ich hatte ihn.