Kapitel dreiundzwanzig

«Wegen Randy Driver muss irgendwas unternommen werden«, sagte Lindros.

Der CIA-Direktor unterschrieb noch einige Briefe und legte sie in den mit Ausgang bezeichneten Drahtkorb, bevor er aufsah.»Wie ich höre, haben Sie ihm gründlich die Meinung gesagt.«

«Das verstehe ich nicht. Ist das für Sie ein Grund zur Belustigung, Sir?«

«Das müssen Sie mir nachsehen, Martin«, sagte er mit einem Grinsen, das er absichtlich nicht unterdrückte.»Ich habe derzeit nicht viel zu lachen.«

Die helle Sonne, die den ganzen Nachmittag lang das vor dem Fenster stehende Denkmal mit den drei Soldaten aus dem Unabhängigkeitskrieg beschienen hatte, war untergegangen, so dass die jetzt umschatteten Gestalten müde wirkten. Die fragile Helligkeit eines weiteren Frühlingstags war allzu rasch der Nacht gewichen.

«Ich will, dass er angewiesen wird, mit mir zusammenzuarbeiten. Ich will Zugang zu.«

Das Gesicht des Direktors verfinsterte sich.»>Ich will, ich will< — was sind Sie, ein Dreijähriger?«

«Sie haben mich mit den Ermittlungen wegen der Morde an Conklin und Panov betraut. Ich tue nur, was Sie mir aufgetragen haben.«

«Ermittlungen?«Die Augen des Direktors blitzten zornig.»Es gibt keine Ermittlungen. Ich habe Ihnen klipp und klar gesagt, Martin, dass damit Schluss sein muss. Die schwärende Wunde schadet uns bei dem Hexenweib. Ich will, dass die Wunde ausgebrannt wird, damit wir sie vergessen können. Am allerwenigsten kann’s ich brauchen, dass Sie in ganz Washington rumrennen und sich überall wie ein Elefant im Porzellanladen aufführen. «Er winkte ab, als sein Stellvertreter protestieren wollte.»Hängen Sie Harris, hängen Sie ihn hoch und auffällig genug, um die Nationale Sicherheitsberaterin davon zu überzeugen, dass wir wissen, was wir tun.«

«Wenn Sie meinen, Sir, aber bei allem gebührenden Respekt wäre das so ziemlich der schlimmste Fehler, den wir jetzt machen könnten. «Als sein Boss ihn mit offenem Mund anstarrte, schob er ihm den Computerausdruck, den Harris ihm geschickt hatte, über den Schreibtisch.

«Was ist das?«, fragte der Direktor. Bevor er ein Dokument las, wollte er immer erst eine Zusammenfassung hören.

«Das ist ein Auszug aus den elektronischen Unterlagen eines Rings aus Russen, der Leuten illegale Schusswaffen geliefert hat. Die Pistole, mit der Conklin und Panov erschossen wurden, steht hier drauf. Sie ist unter Webbs Namen registriert worden, obwohl er sie nicht gekauft haben kann. Das beweist, dass Webb reingelegt worden ist, dass er seine beiden besten Freunde nicht ermordet hat.«

Der CIA-Direktor hatte angefangen, den Ausdruck zu lesen. Jetzt zog er die dichten, weißen Augenbrauen zusammen.»Martin, das hier beweist nichts.«

«Wieder bei allem gebührenden Respekt, Sir, verstehe ich nicht, wie Sie Tatsachen ignorieren können, die Sie vor sich liegen haben.«

Der Direktor seufzte und schob den Ausdruck von sich weg, als er sich in seinen Sessel zurücklehnte.»Wissen Sie, Martin, ich habe Sie gut ausgebildet. Aber jetzt merke ich, dass Sie noch viel lernen müssen. «Er zeigte auf das vor ihm liegende Blatt Papier.»Hieraus geht hervor, dass die Waffe, mit der Jason Bourne unsere beiden Leute erschossen hat, mit einer telegrafischen Überweisung aus Budapest bezahlt worden ist. Bourne hat jede Menge Bankkonten in Europa, vor allem in Genf und Zürich, deshalb sehe ich nicht ein, warum er keines in Budapest haben sollte. «Er grunzte verächtlich.»Das ist nur ein cleverer Trick, einer der vielen, die Alex ihm selbst beigebracht hat.«

Lindros war das Herz in die Hose gefallen.»Sie glauben also nicht.«

«Soll ich mit diesem so genannten Beweis zu dem Hexenweib gehen?«Der CIA-Direktor schüttelte den Kopf.»Sie würde ihn mir in den Rachen stopfen.«

Natürlich war dem Alten sofort eingefallen, dass Bourne sich von Budapest aus in die Datenbank der U.S. Army eingehackt hatte — immerhin hatte er deshalb persönlich Kevin McColl aktiviert. Zwecklos, Martin das mitzuteilen; er würde sich nur unnötig aufregen. Nein, sagte der Direktor hartnäckig, das Geld für die Mordwaffe ist aus Budapest gekommen, und dorthin ist Bourne geflohen. Ein weiterer erdrückender Schuldbeweis.

Lindros unterbrach seine Überlegungen.»Sie wollen Driver also nicht anweisen, mit mir.«

«Martin, es ist gleich halb acht, und mein Magen knurrt schon vernehmlich. «Der Direktor stand auf.

«Um Ihnen zu beweisen, dass ich Ihnen nichts übel nehme, lade ich Sie zum Abendessen ein.«

Der Occidental Grill war ein Insiderrestaurant, in dem der CIA-Direktor einen eigenen Tisch hatte. Schlangestehen war etwas für Zivilisten und untergeordnete Beamte, nicht für ihn. In dieser Arena erwuchs seine in ganz Washington spürbare Macht aus der Schattenwelt, die er regierte. Innerhalb des Beltways gab es verdammt wenige, die seinen Status besaßen. Nach einem harten Tag im Dienst machte es richtig Spaß, ihn zu nutzen.

Sie überließen ihren Wagen dem jungen Mann, der die Autos der Gäste parkte, und stiegen die lange Granittreppe zum Restaurant hinauf. Drinnen folgten sie einem schmalen Korridor, an dessen Wänden die gerahmten Fotos von Präsidenten und anderen Spitzenpolitikern hingen, die im Grill gespeist hatten. Der Alte blieb wie jedes Mal vor der Aufnahme stehen, die FBI-Direktor J. Edgar Hoover mit seinem ständigen Begleiter Clyde Toi-son zeigte. Sein Blick bohrte sich in das Foto, als besitze er die Macht, dieses Duo durch Feuer aus dem Pantheon der Großen an den Wänden zu verbannen.

«Ich weiß noch wie heute, wie wir Hoovers Memo abgefangen haben, in dem er seine führenden Mitarbeiter dringend aufgefordert hat, die Verbindung zwischen Martin Luther King, Jr. und der Kommunistischen Partei zu den Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg aufzuspüren. «Er schüttelte den Kopf.»Was für Zeiten ich miterlebt habe!«

«Das ist Geschichte, Sir.«

«Schändliche Geschichte, Martin.«

Mit dieser Erklärung trat er durch die halb verglasten

Türen ins Restaurant selbst. Der Raum war voller hölzerner Sitznischen, Trennwänden aus Kristallglas und einer verspiegelten Bar. Wie immer gab es eine Schlange von wartenden Gästen, durch die der Alte navigierte, als laufe die Queen Mary durch eine Flottille von Motorbooten. Er blieb erst vor dem leicht erhöhten Podium stehen, auf dem der elegante silberhaarige Maitre seinen Platz hatte.

Als der CIA-Direktor herankam, wandte der Mann sich ihm mit mehreren an die Brust gedrückten langen Speisekarten zu.»Direktor!«Er machte große Augen. Sein sonst lebhaft geröteter Teint war eigenartig blass.»Wir hatten keine Ahnung, dass Sie heute Abend bei uns speisen würden.«

«Seit wann muss ich mich vorher anmelden, Jack?«, fragte der Alte.

«Darf ich einen Drink an der Bar vorschlagen, Direktor? Wir haben Ihren Lieblingsbourbon…«

Der Direktor tätschelte sich den Magen.»Ich bin hungrig, Jack. Heute schenken wir uns die Bar, gehen direkt an meinen Tisch.«

Dem Maitre war sichtbar unbehaglich zumute.»Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick, Direktor«, sagte er und hastete davon.

«Was zum Teufel hat der Kerl?«, murmelte der Direktor leicht irritiert.

Lindros verrenkte sich den Hals, um einen Blick auf den Ecktisch des Alten zu werfen, sah, dass er besetzt war, und wurde blass. Der Direktor sah seinen Gesichtsausdruck, warf sich herum und spähte durch das Gewimmel aus Personal und Gästen zu seinem geliebten Tisch hinüber, an dem heute Abend auf dem für ihn re-servierten Platz Roberta Alonzo-Ortiz, die Nationale Sicherheitsberaterin der Vereinigten Staaten, thronte. Sie war in ein Gespräch mit zwei Senatoren vom Ausschuss für Auslandsgeheimdienste vertieft.

«Ich bringe sie um, Martin. So wahr mir Gott helfe, ich reiße das Hexenweib in Stücke.«

In diesem Augenblick kam der Maitre mit Schweißperlen auf der Stirn zurück.»Wir haben einen sehr schönen Tisch für Sie, Direktor, einen Vierertisch ganz für Sie allein, Gentlemen. Und die Getränke gehen auf Kosten des Hauses, einverstanden?«

Der CIA-Direktor beherrschte sich mühsam.»Schon in Ordnung«, sagte er, ohne etwas gegen seine Zornesröte machen zu können.»Bringen Sie uns hin, Jack.«

Der Maitre wählte eine Route, die nicht an seinem alten Tisch vorbeiführte, und der Direktor war ihm dankbar dafür.

«Ich hab’s ihr gesagt, Direktor«, teilte der Maitre ihm fast flüsternd mit.»Ich habe betont, dass dieser Ecktisch Ihrer ist, aber sie hat auf ihm bestanden. Sie hat sich nicht abwimmeln lassen. Was hätte ich tun sollen? Die Drinks kommen sofort. «Das alles sagte Jack sehr rasch, während er ihnen die Speise- und Weinkarten hinlegte.»Kann ich sonst noch mit etwas dienen, Direktor?«

«Nein, danke, Jack. «Der Alte griff nach der Speisekarte.

Wenig später servierte ihnen ein stämmiger Ober mit Koteletten zwei Gläser Bourbon aus Kentucky, die Flasche und eine Karaffe Wasser.

«Mit einer Empfehlung vom Maitre d’Hötel«, sagte er.

Falls Lindros geglaubt hatte, der Direktor sei ruhig und gelassen, wurde dieser Eindruck gründlich widerlegt, als der Alte sein Whiskeyglas an die Lippen hob. Seine

Hand zitterte, und Lindros sah jetzt, dass seine Augen vor Wut glasig waren.

Lindros sah eine Chance, die er als ausgezeichneter Taktiker sofort nutzte.»Die Nationale Sicherheitsberaterin wünscht, dass der Doppelmord aufgeklärt und möglichst rasch unter den Teppich gekehrt wird. Aber wenn die Annahme, Jason Bourne sei der Täter, falsch ist, überzeugen auch die sehr nachdrücklich vorgetragenen Argumente der Sicherheitsberaterin nicht.«

Der Alte sah auf und starrte seinen Stellvertreter forschend an.»Ich kenne Sie, Martin. Sie haben bestimmt schon einen Plan, nicht wahr?«

«Ja, Sir, den habe ich. Aber um ihn durchzuführen, bin ich auf Randy Drivers volle Kooperation angewiesen.«

Ihr Ober servierte den klein geschnittenen Salat.

Der Direktor wartete, bis sie wieder allein waren, dann schenkte er Lindros und sich Whiskey nach. Mit verkniffenem Lächeln fragte er:»Diese Sache mit Randy Driver

— ist die wirklich nötig?«

«Nicht nur nötig, Sir. Sie ist entscheidend.«

«Entscheidend, hm?«Der Alte stocherte in seinem Salat herum, hielt eine aufgespießte Tomate hoch und betrachtete sie nachdenklich.»Also gut, ich unterschreibe die Weisung gleich morgen früh.«

«Danke, Sir.«

Der CIA-Direktor runzelte die Stirn; sein Blick suchte den seines Stellvertreters und ließ ihn nicht mehr los.»Danken können Sie mir nur auf eine Art, Martin: Verschaffen Sie mir die Munition, die ich brauche, um dem Hexenweib eine Breitseite zu verpassen.«

In jedem Hafen ein Mädchen zu haben hatte den Vorteil, das wusste McColl, dass man immer irgendwo unterschlüpfen konnte. Natürlich hatte die Agency in Budapest ein sicheres Haus — sie hatte sogar mehrere, aber er dachte nicht daran, mit seinem blutenden Arm in einem dieser Häuser aufzukreuzen und so seine Vorgesetzten darauf aufmerksam zu machen, dass er’s nicht geschafft hatte, den Mann umzulegen, den er im Auftrag des Direktors hatte liquidieren sollen. In seiner Abteilung der Agency zählten nur Erfolge.

Ilona war zu Hause, als er — den verletzten Arm an sich gedrückt — vor ihrer Tür stand. Er schickte sie in die Küche, um sie eine Mahlzeit zubereiten zu lassen — etwas Proteinhaltiges, damit er wieder zu Kräften kam. Dann verschwand er im Bad, machte den Oberkörper frei und wusch sich das Blut vom rechten Arm, bevor er Wasserstoffperoxyd drüberkippte. Von dem brennenden Schmerz, der seinen Arm durchzuckte, zitterten ihm die Beine, so-dass er sich kurz auf den geschlossenen WC-Deckel setzen musste, bis er sich erholt hatte. Wenig später war der Schmerz zu einem dumpfen Pochen geworden, und er konnte den ihm zugefügten Schaden abschätzen. Die gute Nachricht war, dass die Wunde sauber war, weil er einen glatten Oberarmdurchschuss hatte. Er beugte sich zur Seite, um den rechten Ellbogen auf den Waschbeckenrand stützen zu können, kippte noch mehr Peroxyd in die Wunde und pfiff dabei leise durch die Zähne. Dann stand er auf und suchte in den Hängeschränken vergeblich nach Mullbinden, Heftpflaster oder sonstigem Verbandmaterial. Unter dem Waschbecken fand er jedoch eine Rolle starkes Gewebeband, von dem er mit einer Nagelschere ein langes Stück abschnitt, das er straff um seinen Oberarm wickelte.

Als er aus dem Bad kam, hatte Ilona die Mahlzeit fertig. Er setzte sich an den Küchentisch und verschlang das Essen, ohne es wirklich zu schmecken. Es war heiß und nahrhaft, mehr interessierte ihn nicht. Sie stand hinter ihm und massierte seine angespannten Schultermuskeln.

«Du bist ganz verkrampft«, sagte Ilona. Sie war zierlich und schlank, hatte blitzende Augen, lächelte viel und hatte Kurven an allen richtigen Stellen.»Was hast du gemacht, nachdem du aus dem Bad gestürmt bist? Da warst du richtig entspannt.«

«Arbeit«, sagte er lakonisch. Wie er aus Erfahrung wusste, war es unklug, ihre Fragen unbeantwortet zu lassen, obwohl er nicht die geringste Lust hatte, Konversation zu machen. Er musste seine Kräfte sammeln, um den zweiten und endgültigen Überfall auf Bourne zu planen.»Ich habe dir gesagt, dass meine Arbeit kein Zuckerschlecken ist.«

Ihre begabten Finger kneteten weiter seine Verkrampfung weg.»Dann wär’s mir lieber, du würdest sie aufgeben.«

«Ich liebe meine Arbeit«, sagte er und schob den leeren Teller von sich fort.»Ich würde sie niemals aufgeben.«

«Und trotzdem bist du verdrießlich. «Sie kam nach vorn, streckte ihm die Hand hin.»Komm ins Bett. Ich bringe dich auf andere Gedanken.«

«Geh schon voraus«, sagte er.»Warte auf mich. Ich muss ein paar geschäftliche Telefongespräche führen. Anschließend gehöre ich ganz dir.«

In dem kleinen, anonymen Zimmer eines Budapester Flohhotels kündigte der Morgen sich mit Verkehrslärm und Stimmengewirr an. Die Geräusche der erwachenden

Großstadt drangen durch die papierdünnen Wände und weckten Annaka aus ihrem unruhigen Schlaf. In der bleigrauen Morgendämmerung lag sie eine Zeit lang unbeweglich in dem Doppelbett, das sie sich mit Bourne teilte. Schließlich drehte sie den Kopf zur Seite und starrte ihn an.

Wie ihr Leben sich verändert hatte, seit sie ihm auf der Treppe zur Matthiaskirche begegnet war! Ihr Vater war tot, und nun konnte sie nicht in ihr eigenes Apartment zurück, weil Chan und die CIA wussten, wo sie wohnte. Tatsächlich konnte sie ihre meisten Besitztümer ohne weiteres verschmerzen — nur den Flügel nicht. Die Sehnsucht, die sie empfand, glich der — das hatte sie irgendwo gelesen —, unter der eineiige Zwillinge litten, wenn sie durch große Entfernungen voneinander getrennt waren.

Und Bourne? Was empfand sie für ihn? Schwer zu beurteilen, denn in ihrem Inneren war schon in frühester Kindheit ein Schalter umgelegt worden, der alle Gefühlsregungen ausschaltete. Dieser Mechanismus, eine Unterform des Selbsterhaltungstriebs, war selbst den Fachleuten, die solche Phänomene angeblich studierten, ein völliges Rätsel. Er war so tief in ihrer Psyche vergraben, dass sie ihn nie erreichen konnte: ein weiterer Aspekt ihres Überlebenswillens.

Wie in allen anderen Punkten hatte sie Chan belogen, als sie behauptet hatte, sie habe in seiner Nähe die Kontrolle über sich verloren. Sie hatte sich von ihm getrennt, weil Stepan es ihr befohlen hatte. Das hatte ihr nichts ausgemacht; tatsächlich hatte es ihr sogar Spaß gemacht, Chans Gesichtsausdruck zu beobachten, als sie ihm erklärt hatte, es sei aus. Sie hatte ihm wehgetan, was ihr gefallen hatte. Gleichzeitig sah sie, dass er sich etwas aus ihr machte, was sie verwunderte, weil sie dieses Gefühl selbst nicht kannte. Natürlich hatte sie vor langer, langer Zeit ihre Mutter geliebt, aber was hatte ihr dieses Gefühl letztlich genützt? Ihre Mutter hatte sie nicht beschützt; noch schlimmer, sie war gestorben.

Langsam, behutsam rückte sie von Bourne ab, bis sie sich umdrehen und aufstehen konnte. Als sie dann nach ihrem Mantel griff, sprach Bourne, der, aus tiefstem Schlaf erwachend, sofort hellwach war, leise ihren Namen.

Annaka drehte sich erstaunt um.»Ich dachte, du schliefst noch. Habe ich dich geweckt?«

Bourne betrachtete sie ernst.»Wohin gehst du?«

«Ich… wir brauchen Sachen zum Anziehen, ein paar Toilettenartikel.«

Er setzte sich mühsam auf.

«Wie geht’s dir?«

«Ganz gut«, sagte er knapp. Er war nicht in der Stimmung, sich bemitleiden zu lassen.»Außer Kleidung brauchen wir beide etwas zur Tarnung.«

«Wir?«

«McColl hat dich erkannt, das bedeutet, dass er per E-Mail ein Foto von dir bekommen hat.«

«Aber wieso?«Sie schüttelte den Kopf.»Woher hat die CIA gewusst, dass wir zusammen sind?«

«Das hat sie nicht gewusst — zumindest nicht sicher«, erwiderte er.»Ich habe darüber nachgedacht und glaube, dass der einzige Hinweis aus deinem Computer gekommen ist. Als ich ins CIA-Intranet eingedrungen bin, muss ich einen internen Alarm ausgelöst haben.«

«Großer Gott!«Sie schlüpfte in ihren Mantel.»Trotzdem ist’s für mich auf der Straße noch immer viel sicherer als für dich.«

«Kennst du ein Geschäft, das Theaterschminke führt?«

«Der Theaterbezirk ist gleich um die Ecke. Ja, ich kann bestimmt eines finden.«

Bourne nahm Notizblock und Kugelschreiber vom Nachttisch und schrieb hastig eine Liste.»Das alles brauchen wir für uns beide«, sagte er.»Ich habe dir auch meine Kragenweite, Schuhgröße und Taillenweite aufgeschrieben. Hast du genug Geld? Ich habe reichlich, aber nur US-Dollar.«

Sie schüttelte den Kopf.»Zu gefährlich. Ich müsste zur Bank gehen und sie in Forint wechseln, und das könnte auffallen. In der Stadt gibt’s überall Geldautomaten.«

«Sei vorsichtig!«, sagte er warnend.

«Keine Angst. «Sie warf einen Blick auf seine Liste.»Das kann ein paar Stunden dauern. Bis dahin bleibst du am besten hier im Zimmer.«

Sie fuhr mit dem winzigen ratternden Aufzug hinunter. Die winzige Hotelhalle war bis auf den Portier hinter dem Empfang leer. Er hob den Blick von seiner Tageszeitung, musterte sie gelangweilt und las dann weiter. Sie trat in das geschäftige Budapest hinaus. Die Gegenwart Kevin McColls, die vieles komplizierte, machte sie nervös, aber Stepan beruhigte sie, als sie ihn deswegen anrief. Sie hatte ihn schon bisher auf dem Laufenden gehalten, indem sie ihn jedes Mal aus ihrer Wohnung angerufen hatte, wenn sie in der Küche hatte Wasser laufen lassen.

Als sie sich in den Fußgängerstrom einreihte, sah sie auf ihre Uhr. Kurz nach halb neun. In einem Eckcafe trank sie einen Cappuccino und aß dazu ein Croissant; so gestärkt ging sie zu einem Geldautomaten am Rand des Geschäftsbezirks weiter, zu dem sie unterwegs war. Sie schob ihre Bankkarte hinein, hob den Höchstbetrag ab, steckte das Bündel Geldscheine in ihre Umhängetasche und machte sich mit Bournes Liste in der Hand auf den Weg.

Auf der anderen Seite der Innenstadt betrat Kevin Mc-Coll die Filiale der Budapester Bank, bei der Annaka Va-das ihr Konto hatte. Er zeigte seinen Dienstausweis vor und wurde prompt ins Büro des Filialleiters, eines gut gekleideten Mannes in einem sehr gediegenen Anzug, gebeten. Sie schüttelten sich die Hand, dann bot der Bankier McColl mit einer Handbewegung den Besuchersessel vor seinem Schreibtisch an.

Der Filialleiter legte die Fingerspitzen aneinander.»Was kann ich für Sie tun, Mr. McColl?«

«Wir fahnden nach einem internationalen Verbrecher«, begann der Amerikaner.

«Ah, und wieso fahndet Interpol nicht nach ihm?«

«Das tut sie«, sagte McColl,»ebenso wie die Surete Nationale in Paris, wo der Flüchtige sich zuletzt aufgehalten hat, bevor er nach Budapest gekommen ist.«

«Und der Name des Gesuchten?«

McColl zog den CIA-Steckbrief aus der Tasche, strich ihn glatt und legte ihn dem Bankier hin.

Der Filialleiter rückte seine Brille zurecht und überflog den Text.»Ah ja, Jason Bourne. Sein Gesicht kenne ich aus CNN. «Er sah über die goldgeränderte Brille hinweg.»Sie nehmen an, dass er in Budapest ist?«

«Er ist eindeutig hier gesehen worden.«

Der andere schob den Steckbrief beiseite.»Und womit kann ich Ihnen behilflich sein?«

«Er ist in Begleitung Ihrer Kundin Annaka Vadas gesehen worden.«

«Tatsächlich?«Der Bankier beugte sich nach vorn.»Ihr Vater ist ermordet worden — vor zwei Tagen erschossen. Glauben Sie, dass der Flüchtige auch ihn auf dem Gewissen hat?«

«Das ist durchaus möglich. «McColl hatte ziemliche Mühe, seine Ungeduld zu beherrschen.»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie feststellen könnten, ob Frau Vadas in den vergangenen vierundzwanzig Stunden an einem Automaten Geld abgehoben hat.«

«Ja, ich verstehe. «Der Filialleiter nickte weise.»Der Flüchtige braucht Geld. Er könnte sie gezwungen haben, welches für ihn abzuheben.«

«Genau. «McColl war bereit, jeder Theorie zuzustimmen, wenn der Kerl nur endlich in die Gänge kam.

Der Bankier drehte sich mit dem Stuhl zur Seite und zog seine Computertastatur zu sich heran.»Sehen wir also mal nach. Ah, da haben wir sie schon… Annaka Vadas. «Er schüttelte den Kopf.»Solch eine Tragödie. Und jetzt auch noch das.«

Er starrte auf den Bildschirm, als ein Piepston ertönte.»Sie haben richtig vermutet, Mr. McColl. Annaka Vadas’ PIN ist vor weniger als einer halben Stunde an einem Geldautomaten benützt worden.«

«Adresse?«, fragte McColl gespannt nach vorn gebeugt.

Der Filialleiter schrieb sie auf einen Notizzettel, den er McColl gab, der mit einem über die Schulter hingeworfenen» Danke!«aufsprang und hinauseilte.

Unten am Empfang ließ Bourne sich von dem Portier den Weg zum nächsten Internetcafe erklären. Dann ging er die zwölf Straßen weit zum AMI Internet Cafe im Gebäude 40 Vaci utca. Drinnen war es rauchig und laut; Leute saßen an Computerstationen und rauchten, während sie E-Mails lasen, recherchierten oder einfach im Web surften. Bourne bestellte einen doppelten Espresso und ein Butterhörnchen bei einer jungen Frau mit Igelfrisur, die ihm einen Zettel mit Zeitstempel und der Nummer seiner Station gab und ihn zu einem Computer schickte, der bereits ins Internet eingeloggt war.

Er setzte sich hin und begann seine Arbeit. Ins» Suche«-Feld tippte er den Namen von Dr. Schiffers früherem Partner Peter Sido ein, erzielte aber keinen Treffer. Allein das war merkwürdig und verdächtig zugleich. War Sido ein einigermaßen guter Wissenschaftler — was er sein musste, wenn er mit Felix Schiffer zusammengearbeitet hatte —, dann musste sein Name irgendwo im Web auftauchen. Dass das nicht der Fall war, legte die Vermutung nahe, dass seine» Abwesenheit «Absicht war. Also würde Bourne es mit einer anderen Route versuchen müssen.

Irgendetwas an dem Namen Sido kam seinem Linguistenverstand bekannt vor. Kam der Name aus dem Russischen? Aus einer anderen slawischen Sprache? Er forschte nach, wurde jedoch nicht fündig. Einer Eingebung folgend wechselte er zu Ungarisch über und fand ihn prompt.

Wie sich herausstellte, bedeuteten ungarische Familiennamen — die im Ungarischen Beinamen hießen — fast immer etwas. Sie konnten zum Beispiel patronymisch sein, also auf dem Namen des Vaters basieren, oder einen Ort bezeichnen, aus dem der Betreffende kam. Der Familienname konnte auch Auskunft über seinen Beruf geben

— so bedeutete Vadas beispielsweise» Jäger«. Oder er gab an, was jemand war. Sido war das ungarische Wort für» Jude«.

Peter Sido war also Ungar, genau wie Vadas einer gewesen war. Conklin hatte mit Vadas zusammengearbeitet. Zufall? Bourne glaubte nicht an Zufälle. Hier gab es eine Verbindung, das witterte er. Daraus folgte die nächste Überlegung: Die besten Kliniken und Forschungseinrichtungen Ungarns waren in Budapest konzentriert. Konnte Sido hier sein?

Bournes Hände flogen über die Tastatur, um das Bu-dapester Online-Telefonbuch aufzurufen. Und darin fand er einen Dr. Peter Sido. Er notierte sich Telefonnummer und Adresse, meldete sich ab, bezahlte für die am Computer verbrachte Zeit und nahm seinen Espresso und das Hörnchen mit ins eigentliche Cafe hinüber, in dem er einen Ecktisch für sich allein hatte. Er kostete einen Schluck von dem Espresso, dann klappte er sein Handy auf und wählte Sidos Nummer. Nach dem dritten oder vierten Klingeln meldete sich eine Frauenstimme.

«Hallo«, sagte Bourne betont fröhlich.»Frau Sido?«

«Ja?«

Er trennte wortlos die Verbindung und verschlang das Hörnchen, während er auf das Taxi wartete, das er gerufen hatte. Mit einem Auge überwachte er den Eingang, begutachtete jeden Hereinkommenden und war auf der Hut vor McColl oder einem anderen Agenten, den die Agency womöglich auf ihn angesetzt hatte. Als sein Taxi vorfuhr, trat er mit der Gewissheit, nicht beschattet zu werden, auf die Straße hinaus. Er nannte dem Fahrer Dr. Peter Sidos Adresse und wurde keine zwanzig Minuten später vor einem kleinen, alten Haus mit winzigem Vorgarten, altmodischen Fensterläden und einem schmiedeeisernen Balkon im ersten Stock abgesetzt.

Er ging die Stufen zur Haustür hinauf und klingelte.

Die Tür wurde von einer ziemlich rundlichen Frau mittleren Alters mit sanften braunen Augen und freundlichem Lächeln geöffnet. Sie trug ihr braunes Haar zu einem Nackenknoten zusammengefasst und war recht elegant gekleidet.

«Frau Sido? Dr. Peter Sidos Ehefrau?«

«Ganz recht. «Sie musterte ihn fragend.»Sie wünschen?«

«Mein Name ist David Schiffer.«

«Ja?«

Er lächelte gewinnend.»Ich bin Felix Schiffers Cousin, Frau Sido.«

«Tut mir Leid«, sagte Peter Sidos Ehefrau,»aber Felix hat nie von Ihnen gesprochen.«

Darauf war Bourne vorbereitet. Er lachte halblaut.»Das wundert mich nicht. Wir hatten uns aus den Augen verloren, wissen Sie. Ich bin eben erst aus Australien zurückgekommen.«

«Australien! Du liebe Güte!«Sie trat zur Seite.»Aber kommen Sie doch bitte herein. Sie müssen mich für unhöflich halten.«

«Keineswegs«, sagte Bourne.»Nur für überrascht, wie es jeder wäre.«

Sie führte ihn in ein kleines Wohnzimmer, das behaglich, wenn auch etwas dunkel möbliert war, und bat ihn, sich wie zu Hause zu fühlen. Aus der Küche duftete es nach Hefe und Zucker. Als er in einem etwas zu üppig gepolsterten Sessel saß, fragte sie:»Möchten Sie Tee oder Kaffee? Und ein Stück Hefezopf? Den habe ich heute Morgen gebacken.«

«Hefezopf klingt wundervoll«, sagte er.»Und dazu passt am besten Kaffee. Danke.«

Sie lachte, als sie in die Küche hinausging.»Wissen Sie bestimmt, dass Sie kein ungarisches Blut in den Adern haben, Mr. Schiffer?«

«Bitte nennen Sie mich David«, sagte Bourne, als er aufstand und ihr folgte. Da er nichts über Schiffers Familie wusste, musste er improvisieren, wenn die Rede darauf kam.»Kann ich mich irgendwie nützlich machen?«

«Oh, vielen Dank, David. Und Sie müssen mich Eszti nennen. «Sie zeigte auf den frischen Hefezopf auf einem Holzbrett.»Wollen Sie für uns zwei Scheiben abschneiden?«

An der Kühlschranktür sah er mehrere mit Magneten befestigte Familienfotos, von denen eines eine bildhübsche junge Frau zeigte. Sie hielt mit einer Hand ihre Schottenmütze fest, und ihr langes schwarzes Haar wehte im Wind. Hinter ihr war der Londoner Tower zu erkennen.

«Ihre Tochter?«, fragte Bourne.

Eszti Sido sah auf und lächelte.»Ja, Rosa, meine Jüngste. Sie studiert in Cambridge«, sagte sie mit verständlichem Stolz.»Meine beiden anderen Töchter — da sind sie mit ihren Familien — sind glücklich verheiratet, Gott sei Dank. Rosa ist die Einzige, die Ehrgeiz hat. «Sie lächelte schüchtern.»Soll ich Ihnen etwas verraten, David? Ich liebe alle meine Töchter, aber Rosa ist mein Liebling — und Peter empfindet vermutlich auch so. Er sieht etwas von sich in ihr. Sie liebt die Naturwissenschaften.«

Nach einigen geschäftigen Minuten standen Geschirr, eine Kaffeekanne und ein Kuchenteller mit Hefezopf auf dem Tablett, das Bourne ins Wohnzimmer trug.

«Sie sind also Felix’ Cousin«, sagte Frau Sido, als sie beide saßen, er im Sessel, sie auf dem Sofa. Zwischen ihnen stand der Couchtisch mit dem Tablett.

«Ja, und ich habe mich schon darauf gefreut, von Felix zu hören«, sagte Bourne, als er ihnen Kaffee einschenkte.»Aber ich kann ihn nicht finden, wissen Sie, und ich dachte… nun, ich habe gehofft, Ihr Mann könnte mir weiterhelfen.«

«Ich glaube nicht, dass er weiß, wo Felix steckt. «Eszti Sido reichte ihm einen Teller mit einem Stück Hefezopf.»Ich will Sie nicht beunruhigen, David, aber in letzter Zeit war Peter ziemlich durcheinander. Obwohl sie lange nicht mehr offiziell zusammengearbeitet hatten, standen sie in letzter Zeit in regem Briefkontakt. «Sie rührte Sahne in ihren Kaffee.»Die beiden waren immer gute Freunde, wissen Sie.«

«Bei dieser Korrespondenz ging es also um private Dinge«, sagte Bourne.

«Nicht unbedingt. «Eszti Sido runzelte die Stirn.»Ich hatte eher den Eindruck, sie habe mit ihrer Arbeit zu tun.«

«Sie wissen nicht zufällig, woran die beiden gearbeitet haben, Eszti? Ich bin schon länger auf der Suche nach meinem Cousin und fange allmählich an, mir Sorgen zu machen. Alles, was Sie oder Ihr Mann mir erzählen könnten, wäre eine große Hilfe für mich.«

«Natürlich, David, das verstehe ich völlig. «Sie biss zierlich ein kleines Stück Hefezopf ab.»Peter würde sich bestimmt freuen, Sie zu sehen. Im Augenblick ist er allerdings im Labor.«

«Sind Sie so freundlich, mir seine Telefonnummer zu geben?«

«Oh, die würde Ihnen nichts nützen. Im Labor geht Peter nie ans Telefon. Sie müssen zur Klinik Eurocenter Bio-I, 75 Hattyu utca, fahren. Dort passieren Sie erst einen Metalldetektor, dann müssen Sie sich am Empfang melden. Die dortige Forschungsarbeit bedingt außergewöhnliche Sicherheitsmaßnahmen. Für seine Abteilung sind spezielle Ausweise vorgeschrieben: weiße für Besucher, grüne für angestellte Ärzte, blaue für Assistenten und sonstige Mitarbeiter.«

«Danke für diese Informationen, Eszti. Darf ich fragen, worauf Ihr Mann spezialisiert ist?«

«Hat Felix Ihnen das nicht erzählt?«

Bourne nahm einen Schluck von dem köstlichen Kaffee.»Wie Sie bestimmt wissen, leidet Felix an Geheimhaltungssucht. Er hat nie mit mir über seine Arbeit gesprochen.«

«Natürlich nicht!«Eszti Sido lachte.»So ist Peter, und das ist mir wegen der beängstigenden Dinge, die er beruflich tut, gerade recht. Wüsste ich mehr darüber, hätte ich bestimmt Albträume. Er ist Epidemiologe, wissen Sie.«

Bournes Herz schien einen Schlag auszusetzen.»Beängstigend, sagen Sie. Dann arbeitet er bestimmt mit allen möglichen grässlichen Krankheitserregern. Argentinisches hämorrhagisches Fieber, Lungenpest, Milzbrand.«

Eszti Sidos Miene verfinsterte sich.»Meine Güte, meine Güte, bitte!«Sie winkte mit einer rundlichen Hand ab.»Das sind genau die Sachen, mit denen Peter arbeitet, aber von denen will ich nichts wissen.«

«Entschuldigung. «Bourne beugte sich nach vorn und goss ihr Kaffee nach, wofür sie sich erleichtert bedankte.

Sie lehnte sich zurück, nippte an ihrem Kaffee, richtete den Blick nach innen.»Wissen Sie, David, wenn ich darüber nachdenke, fällt mir ein Abend vor nicht allzu langer Zeit ein, an dem Peter sehr aufgeregt nach Hause kam. Tatsächlich war er so aufgeregt, dass er sich ausnahmsweise vergessen und mir etwas erzählt hat. Ich war dabei, das Abendessen zuzubereiten, und er kam ungewöhnlich spät heim, und ich musste mit sechs Dingen gleichzeitig jonglieren. ein Braten wird leicht trocken, wissen Sie, deshalb hatte ich ihn aus dem Rohr genommen, aber gleich wieder hineingestellt, als Peter heimkam. An diesem Abend war ich ziemlich wütend, das können Sie mir glauben!«Sie trank noch einen Schluck Kaffee.»Wo war ich gleich wieder?«

«Dr. Sido kam ganz aufgeregt nach Hause…«, soufflierte Bourne.

«Ah, ganz recht. «Sie aß wieder ein kleines Stück Hefezopf.»Er habe Kontakt mit Felix gehabt, hat er gesagt, und von ihm erfahren, er habe bei der Entwicklung des… Dings, an dem er seit über zwei Jahren arbeitet, einen Durchbruch erzielt.«

Bournes Kehle war wie ausgetrocknet. Eigentlich verrückt, dass das Schicksal der Welt jetzt in den Händen einer Hausfrau lag, mit der er behaglich Kaffee trank und selbst gebackenen Hefezopf aß.»Hat Ihr Mann erzählt, worum es sich dabei gehandelt hat?«

«Natürlich hat er das getan!«, sagte Eszti Sido lebhaft.»Deshalb war er doch so aufgeregt. Es war ein Gerät zum Versprühen biochemischen Materials — ein Diffusor — was immer das sein mag. Nach Peters Darstellung ist das Außergewöhnliche daran, dass er tragbar ist. Er lasse sich in einem Gitarrenkoffer tragen, hat er gesagt. «Ihr freundlicher Blick streifte ihn.»Ist das nicht ein interessantes Bild, wenn’s um ein wissenschaftliches Gerät geht?«

«Sehr interessant«, sagte Bourne, dessen Verstand eif-rig damit beschäftigt war, weitere Teile des Puzzles zusammenzufügen, das ihm schon mehrmals fast den Tod gebracht hatte.

Er stand auf.»Tut mir Leid, Eszti, aber ich muss weiter. Vielen Dank für Ihre Zeit und Ihre Gastfreundschaft. Alles war köstlich… besonders der Hefezopf.«

Sie errötete leicht, dann lächelte sie herzlich, als sie ihn zur Haustür begleitete.»Kommen Sie bald wieder, David

— hoffentlich unter glücklicheren Umständen.«

«Bestimmt«, versicherte er ihr.

Auf der Straße blieb er außer Sichtweite des Hauses kurz stehen. Eszti Sidos Informationen hatten seinen Verdacht und seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Dass Dr. Schiffer ein so gesuchter Mann war, lag daran, dass er tatsächlich ein tragbares Gerät zur Verbreitung chemischer oder biologischer Pathogene entwickelt hatte. In einer Großstadt wie New York oder Moskau konnte es Tausende von Toten geben, weil es keine Möglichkeit gab, die Menschen innerhalb des Wirkungsbereichs der Dispersion zu retten. Eine wahrhaft grausige Vorstellung, die Wirklichkeit werden konnte, wenn es ihm nicht gelang, Dr. Schiffer aufzuspüren. Wenn irgendjemand seinen Aufenthaltsort kannte, dann musste es Peter Sido sein. Allein die Tatsache, dass er in letzter Zeit oft beunruhigt gewirkt hatte, bestätigte diese Theorie.

Zweifellos musste Bourne mit Dr. Peter Sido sprechen

— je früher, desto besser.

«Sie wissen hoffentlich, dass Sie damit Schwierigkeiten provozieren«, sagte Fahd al-Sa’ud.

«Das weiß ich«, bestätigte Jamie Hull.»Aber Boris zwingt mich dazu. Sie kennen den Hundesohn so gut wie ich.«

«Erstens«, sagte Fahd al-Sa’ud nüchtern,»kann’s keine weitere Diskussion geben, wenn Sie darauf bestehen, ihn Boris zu nennen. Damit stacheln Sie ihn zur Blutrache auf. «Er breitete die Hände aus.»Vielleicht bin ich begriffsstutzig, deshalb möchte ich Sie bitten, mir zu erklären, Mr. Hull, wozu Sie eine Aufgabe, die bereits höchste Anforderungen an uns stellt, weiter komplizieren wollen.«

Die beiden Agenten inspizierten die Alarmanlage des Hotels Oskjuhlid, die sie durch zusätzliche Infrarotsensoren und Bewegungsmelder ergänzt hatten. Diese Überprüfung fand außerhalb der täglichen Sicherheitsinspektion des Kongressforums statt, die sie gemeinsam mit dem Russen als Dreierteam vornahmen.

In gut acht Stunden würden die Vortrupps der jeweiligen Delegationen eintreffen. Zwölf Stunden später folgten dann die Staatsoberhäupter, mit denen das Gipfeltreffen begann. Bis dahin durfte sich keiner von ihnen, auch Boris Iljitsch Karpow nicht, den geringsten Fehler leisten.

«Sie meinen, dass Sie ihn nicht für einen Hundesohn halten?«, fragte Hull.

Fahd al-Sa’ud verglich eine Verzweigung mit dem Schaltplan, den er ständig bei sich zu tragen schien.»Ich hatte ehrlich gesagt andere Sorgen. «Als er die Gewissheit hatte, dass die Verzweigung in Ordnung war, ging er weiter.

«Okay, machen wir’s kurz.«

Fahd al-Sa’ud wandte sich ihm zu.»Entschuldigung?«

«Ich habe mir überlegt, dass Sie und ich ein gutes

Team sind. Wir kommen gut miteinander aus. Und was Sicherheitsfragen betrifft, sind wir auf demselben Stand.«

«Damit meinen Sie, dass ich Ihre Befehle gut ausführe.«

Der CIA-Mann wirkte gekränkt.»Habe ich das gesagt?«

«Mr. Hull, das ist nicht nötig. Wie die meisten Amerikaner sind Sie ziemlich leicht zu durchschauen. Wenn Sie nicht alles unter Kontrolle haben, werden Sie zornig oder verdrießlich.«

Hull fühlte eine Woge von Ressentiments.»Wir sind keine Kinder!«, rief er aus.

«Mag sein«, sagte Fahd al-Sa’ud gleichmütig,»aber manchmal erinnern Sie mich an meinen sechsjährigen Sohn.«

Der Amerikaner hätte am liebsten seine 9-mm-Glock 31 gezogen und ihre Mündung dem Araber ins Gesicht gerammt. Wie kam er dazu, so mit einem Vertreter der US-Regierung zu reden? Das war geradeso, als hätte er auf die Flagge gespuckt, verdammt noch mal! Aber was hätte eine gewalttätige Konfrontation ihm zum jetzigen Zeitpunkt gebracht? Nein, Hull musste sich widerstrebend eingestehen, dass er einen anderen Weg wählen musste.

«Also, was sagen Sie dazu?«, fragte er so ruhig wie möglich.

Fahd al-Sa’ud wirkte ungerührt.»Mir wär’s ehrlich gesagt lieber, wenn Mr. Karpow und Sie Ihre Meinungsverschiedenheiten beilegen würden.«

Hull schüttelte den Kopf.»Aussichtslos, mein Freund, das wissen Sie so gut wie ich.«

Leider wusste Fahd al-Sa’ud das nur allzu gut. Hull und Karpow hatten sich in ihre Feindseligkeit verrannt. Bestenfalls konnte man noch hoffen, dass sie sich auf ge-legentliche Seitenhiebe beschränken würden, statt ihren Konflikt in einem totalen Krieg auszutragen.

«Ich glaube, ich kann euch beiden am besten dienen, indem ich wie bisher neutral bleibe«, sagte er jetzt.»Wer soll euch Kampfhähne sonst daran hindern, einander in Stücke zu reißen?«

Nachdem Annaka alles eingekauft hatte, was Bourne brauchte, verließ sie das Warenhaus. Auf ihrem Weg zum Theaterbezirk sah sie, in einer Schaufensterscheibe reflektiert, eine Bewegung hinter sich. Sie blieb nicht stehen, kam nicht einmal aus dem Tritt, sondern ging nur etwas langsamer, um sich zu vergewissern, dass sie beschattet wurde. So beiläufig wie möglich überquerte sie die Straße und blieb dann wieder vor einem Schaufenster stehen. In der Scheibe erkannte sie das Spiegelbild Kevin McColls, der anscheinend zu dem Cafe an der Ecke unterwegs war. Annaka wusste, dass sie ihn abschütteln musste, bevor sie Make-up und Theaterschminke kaufte.

Während sie ihm weiter den Rücken zukehrte, zog sie ihr Handy heraus und wählte Bournes Nummer.

«Jason«, sagte sie leise,»McColl ist hinter mir her.«

«Wo bist du jetzt?«, fragte er.

«Am Anfang der Vaci utca.«

«Ich bin ganz in der Nähe.«

«Du solltest doch im Hotel bleiben! Was hast du gemacht?«

«Ich habe eine neue Spur entdeckt«, sagte er.

«Wirklich?«Ihr Herz schlug rascher. War er Stepan auf der Fährte?» Welche?«

«Erst müssen wir McColl ausschalten. Ich möchte, dass du zur Klinik im Haus 75 Hattyu utca fährst. Warte am Empfang auf mich. «Bourne erläuterte ihr genau, was sie tun sollte.

Sie hörte aufmerksam zu, dann fragte sie:»Jason, weißt du bestimmt, dass du das schaffst?«

«Tu einfach, was ich sage«, antwortete er streng,»dann ist alles in Ordnung.«

Sie beendete das Gespräch und rief ein Taxi. Als es kam, stieg sie ein, nannte dem Fahrer die Adresse, die Bourne ihr gegeben hatte, und ließ ihn sie wiederholen. Sie sah sich um, als der Wagen anfuhr, konnte McColl jedoch nicht entdecken, obwohl sie sicher wusste, dass er sie beschattet hatte. Im nächsten Augenblick schlängelte sich jedoch ein klappriger alter Opel durch den Verkehr und setzte sich hinter ihr Taxi. Ein Blick in den rechten Außenspiegel des Taxis zeigte ihr eine vertraute hünenhafte Gestalt am Steuer des Opels, und sie verzog die Lippen zu einem heimlichen Lächeln. Kevin McColl hatte angebissen! Jetzt musste nur noch Bournes Plan funktionieren.

Stepan Spalko, erst vor kurzem in die Budapester Zentrale von Humanistas, Ltd. zurückgekehrt, hörte gerade den verschlüsselten Funkverkehr der internationalen Geheimdienste ab, um Neues über den Terrorismusgipfel in Reykjavik zu erfahren, als sein Handy klingelte.

«Was gibt’s?«, fragte er kurz angebunden.

«Ich bin unterwegs, um mich mit Bourne in der 75 Hattyu utca zu treffen«, sagte Annaka.

Spalko machte kehrt und entfernte sich einige Schritte von seinen Technikern, die an ihren Dechiffrierstationen saßen.»Er lässt dich in die Klinik Eurocenter Bio-I kommen«, sagte er.»Also weiß er von Peter Sido.«»Er hat von einer neuen Spur gesprochen, wollte sich aber nicht näher dazu äußern.«

«Der Mann ist wirklich umtriebig«, sagte Spalko.»Ich kümmere mich um Sido, aber du darfst Bourne nicht mal in seine Nähe kommen lassen.«

«Das ist mir klar«, bestätigte sie.»Jedenfalls dürfte er zunächst mal mit dem amerikanischen CIA-Agenten beschäftigt sein, der auf ihn angesetzt wurde.«

«Ich will aber nicht, dass Bourne umgelegt wird, Annaka. Dafür ist er mir lebend viel zu wertvoll — zumindest vorläufig. «Spalko ging die sich bietenden Möglichkeiten in Gedanken durch und verwarf eine nach der anderen, bis er wusste, wie der gewünschte Effekt sich erzielen ließ.»Alles Weitere überlässt du mir.«

Annaka nickte in ihrem rasenden Taxi.»Auf mich kannst du dich verlassen, Stepan.«

«Das weiß ich.«

Sie starrte aus dem Fenster, vor dem Budapest vorbeizog.»Ich habe mich noch gar nicht dafür bedankt, dass du meinen Vater beseitigt hast.«

«Das war lange überfällig.«

«Chan glaubt, dass ich wütend bin, weil ein anderer mir zuvorgekommen ist.«

«Hat er Recht?«

Sie hatte plötzlich Tränen in den Augen und wischte sie ziemlich irritiert weg.»Er war mein Vater, Stepan. Was immer er getan hat. er war trotzdem mein Vater. Er hat mich großgezogen.«

«Mehr schlecht als recht, Annaka. Ein guter Vater war er nie.«

Sie dachte an die Lügen, die sie Bourne ohne die geringsten Gewissensbisse erzählt hatte, an die idealisierte

Kindheit, die nur in ihren Träumen existierte. Ihr Vater hatte sie nie gewickelt oder ihr Gutenachtgeschichten vorgelesen; er war nie zur Verleihung von Schul- oder Hoch-schuldiplomen gekommen, weil er immer auf Reisen gewesen war, und ihre Geburtstage hatte er grundsätzlich vergessen. Eine weitere Träne, auf die sie nicht geachtet hatte, rollte langsam über ihre Wange, und Annaka schmeckte im Mundwinkel Salz, als sei es die Bitterkeit ihrer Erinnerungen.

Sie warf ihren Kopf in den Nacken.»Ein Kind kann seinen Vater anscheinend nie ganz verdammen.«

«Ich meinen schon«, bemerkte Spalko.

«Das war etwas anderes«, sagte sie.»Und außerdem weiß ich, was du für meine Mutter empfunden hast.«

«Ich habe sie geliebt, ja. «Spalko glaubte, wieder Sasa Vadas’ Gesicht vor sich zu sehen: die großen leuchtenden Augen, ihren makellosen Teint, die vollen Lippen, wenn ihr zurückhaltendes Lächeln einem bestätigte, dass man ihrem Herzen nahe war.»Sie war völlig einzigartig, ein ganz besonderer Mensch, eine Fürstin, wie schon ihr Name angedeutet hat.«

«Sie hat ebenso zu deiner Familie wie zu meiner gehört«, sagte Annaka.»Sie hat dich völlig durchschaut, Stepan. In ihrem Herzen hat sie die Tragödien nachgefühlt, die du durchlitten hast, ohne dass du ihr jemals davon erzählen musstest.«

«Ich habe lange gewartet, bis ich mich an deinem Vater gerächt habe, Annaka, aber ich hätte es nicht getan, wenn ich nicht gewusst hätte, dass das auch dein Wunsch war.«

Annaka lachte, war wieder ganz die Alte. Das kurze Intermezzo, in dem sie in Gefühlen geschwelgt hatte, wi-derte sie jetzt an.»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dir das abnehme, Stepan?«

«Hör zu, Annaka.«

«Überleg dir bitte, wen du zu beschwatzen versuchst. Ich kenne dich — du hast ihn liquidieren lassen, als du’s für nötig gehalten hast. Und du hattest Recht; er hätte Bourne alles erzählt, und Bourne hätte sich sofort mit aller Kraft daran gemacht, dich aufzuspüren. Dass auch ich den Tod meines Vaters wollte, war reiner Zufall.«

«Jetzt unterschätzt du deine Bedeutung für mich.«

«Das mag stimmen oder auch nicht, Stepan, aber mir ist’s egal. Ich wüsste nicht, wie man eine emotionale Beziehung aufbaut, selbst wenn ich es wollte.«

Martin Lindros legte die von dem Alten unterzeichnete Vollmacht Randy Driver, dem Direktor der Entwicklungsabteilung für taktische nichttödliche Waffen, persönlich vor. Driver starrte Lindros an, als könnte er ihn dadurch einschüchtern, nahm sie kommentarlos entgegen und ließ sie auf seinen Schreibtisch fallen.

Er stand da wie ein Marineinfanterist: Rücken durchgedrückt, Bauch eingezogen, Muskeln angespannt, als mache er sich zum Kampf bereit. Seine eng stehenden blauen Augen schienen fast zu schielen, so konzentriert war er. In seinem Dienstzimmer mit den weißen Metallwänden hing noch ein schwacher antiseptischer Geruch, als habe Driver es für richtig gehalten, den Raum vor Lindros’ angekündigtem Besuch desinfizieren zu lassen.

«Wie ich sehe, haben Sie seit unserem letzten Gespräch fleißig geackert«, sagte er, ohne sein Gegenüber anzusehen. Anscheinend hatte er gemerkt, dass er Lindros nicht allein durch Blicke würde einschüchtern können. Deshalb verlegte er sich jetzt auf verbale Einschüchterung.

«Ich ackere immer fleißig«, sagte Lindros.»Nur haben Sie mir unnütz Arbeit gemacht.«

«Pech für Sie. «Drivers Gesicht knarrte geradezu, so verkrampft war sein Lächeln.

Lindros verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen.»Wieso betrachten Sie mich als Feind?«

«Vermutlich weil Sie der Feind sind.«. Driver setzte sich endlich hinter seinen Schreibtisch aus Stahl und Rauchglas.»Oder als was würden Sie jemanden bezeichnen, der herkommt und meinen Hinterhof aufgraben will?«

«Ich ermittle nur wegen.«

«Erzählen Sie mir keinen Scheiß, Lindros!«Driver sprang mit aschfahlem Gesicht auf.»Ich kann eine Hexenjagd aus hundert Schritt Entfernung riechen! Sie sind der Spürhund des Alten. Mich können Sie nicht täuschen. Hier geht’s nicht um den Mord an Alex Conklin.«

«Und wie kommen Sie darauf?«

«Weil diese Ermittlungen sich gegen mich richten!«

Jetzt war Lindros wirklich interessiert. Weil er merkte, dass Driver ihm eine Chance gegeben hatte, nutzte er sie mit wissendem Lächeln.»Weshalb sollten wir denn gegen Sie ermitteln, Randy?«Er wählte seine Worte sorgfältig, sagte bewusst» wir«, um Driver zu signalisieren, dass er die gesamte Autorität des CIA-Direktors hinter sich hatte, und benützte seinen Vornamen, um ihn zu entnerven.

«Das wissen Sie selbst, verdammt noch mal!«, brauste Driver auf und tappte damit in die Falle, die Lindros ihm gestellt hatte.»Das haben Sie gewusst, als Sie zuersten Mal hier aufgekreuzt sind. Ich hab’s auf Ihrem Gesicht gesehen, als Sie mit Felix Schiffer sprechen wollten.«

«Ich wollte Ihnen Gelegenheit geben, reinen Tisch zu machen, bevor ich zum Direktor gehe. «Lindros machte es Spaß, dem von Driver vorgegebenen Kurs zu folgen, obwohl er keine Ahnung hatte, wohin er führen würde. Andererseits musste er vorsichtig sein. Ein falscher Schachzug, ein einziger Fehler konnte bewirken, dass Driver seine Ahnungslosigkeit bemerkte und wahrscheinlich dichthielt, bis er sich mit seinem Anwalt beraten konnte.»Dafür ist’s noch immer nicht zu spät.«

Driver starrte ihn sekundenlang an, bevor er einen Handballen an seine feuchte Stirn drückte. Er sackte leicht zusammen, dann ließ er sich auf seinen Designerstuhl fallen.

«Allmächtiger, ist das ein Schlamassel«, murmelte er. Als habe er einen schweren Körpertreffer einstecken müssen, geriet er ganz außer Atem. Er starrte die Rothko-Drucke an den Wänden an, als könnten sie sich in Türen zu Fluchtwegen verwandeln. Zuletzt, endlich in sein Schicksal ergeben, richtete er seinen Blick wieder auf den Mann, der geduldig vor ihm stand.

Er machte eine Handbewegung.»Setzen Sie sich, Deputy Director. «Seine Stimme klang traurig. Als Lindros Platz genommen hatte, sagte er:»Angefangen hat die Sache mit Alex Conklin. Na ja, alles hat immer mit Alex angefangen, nicht wahr?«Er seufzte, als überwältigten ihn plötzlich wehmütige Erinnerungen.»Vor fast zwei Jahren ist Alex mit einem Vorschlag zu mir gekommen. Er hatte sich mit einem DARPA-Wissenschaftler angefreundet — angeblich nur zufällig, aber offen gesagt hatte

Alex Verbindungen zu so vielen Leuten, dass ich bezweifle, dass irgendwas in seinem Leben zufällig passiert ist. Ihnen ist inzwischen klar, nehme ich an, dass der bewusste Wissenschaftler Felix Schiffer war.«

Er machte eine kurze Pause.»Ich lechze nach einer Zigarre. Hätten Sie was dagegen?«

«Nur zu«, sagte Lindros knapp. Das war also die Erklärung für den Geruch: Luftverbesserer. Wie alle staatlichen Einrichtungen war auch dieses Gebäude theoretisch rauchfrei.

«Rauchen Sie eine mit?«, fragte Driver.»Sie waren ein Geschenk von Alex.«

Als Lindros dankend abwehrte, zog Driver eine Schublade auf, nahm eine Zigarre aus einem Humidor und begann das umständliche Ritual des Anzündens. Lindros verstand, dass er etwas brauchte, um seine Nerven zu beruhigen. Er sog prüfend die Luft ein, als die erste bläuliche Rauchwolke durch den Raum zog. Eine kubanische Zigarre.

«Alex hat mich aufgesucht«, fuhr Driver fort.»Nein, das stimmt nicht ganz — er hat mich zum Abendessen eingeladen. Er hat mir erzählt, er habe diesen Kerl von der DARPA kennen gelernt. Felix Schiffer. Er kam mit diesen Militärtypen nicht zurecht und suchte einen anderen Job. Würde ich seinem Freund helfen?«

«Und Sie waren einverstanden?«, fragte Lindros.»Einfach so?«

«Natürlich war ich das. General Baker, der DARPA-Chef, hatte uns erst im Vorjahr einen guten Mann abgeworben. «Driver nahm einen Zug von seiner Zigarre.»Rache ist süß. Ich habe die Chance, es diesem Kommiss-Stiefel Baker zu zeigen, bereitwillig ergriffen.«

Lindros runzelte die Stirn.»Hat Conklin Ihnen bei diesem Abendessen erzählt, woran Schiffer bei der DARPA gearbeitet hat?«

«Klar. Schiffers Fachgebiet war der gezielte Einsatz in der Luft schwebender Bakterien. Er hat an Methoden gearbeitet, mit Krankheitserregern verseuchte Räume zu reinigen.«

Lindros setzte sich auf.»Zum Beispiel mit Milzbranderregern?«

Driver nickte.»Genau.«

«Wie weit war er damit?«

«Bei der DARPA?«Driver zuckte mit den Schultern.»Keine Ahnung.«

«Aber Sie haben sich doch bestimmt über seine bisherige Arbeit informiert, bevor er bei Ihnen eingetreten ist?«

Driver funkelte ihn an, dann tippte er etwas auf seiner Computertastatur ein. Er drehte den Bildschirm zur Seite, damit beide ihn sehen konnten.

Lindros beugte sich nach vorn.»Das kommt mir wie Geschwafel vor, aber ich bin eben kein Wissenschaftler.«

Driver starrte das brennende Ende seiner Zigarre an, als könne er sich jetzt, im Augenblick der Wahrheit, nicht dazu überwinden, Lindros anzusehen.»Es ist Geschwafel, mehr oder weniger.«

Lindros erstarrte.»Wie meinen Sie das?«

Driver betrachtete weiter wie fasziniert das Ende seiner Zigarre.»Daran kann Schiffer auf keinen Fall gearbeitet haben, denn es ergibt keinen Sinn.«

Lindros schüttelte den Kopf.»Das verstehe ich nicht.«

Driver seufzte.»Möglicherweise ist Schiffer auf diesem Fachgebiet kein großer Experte.«

Lindros hatte das Gefühl, in seinem Magen bilde sich ein eisiger Klumpen aus Entsetzen.»Es gibt noch eine weitere Möglichkeit, nicht wahr?«

«Nun, jetzt wo Sie’s sagen, ja. «Driver fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen.»Möglich ist auch, dass Schiffer an etwas ganz anderem gearbeitet hat, von dem weder die DARPA noch wir erfahren sollten.«

Lindros war sichtlich konsterniert.»Wieso haben Sie Dr. Schiffer das nicht gefragt?«

«Das täte ich sehr gern«, antwortete Driver.»Das Dumme ist nur, dass ich nicht weiß, wo Felix Schiffer ist.«

«Wenn Sie’s nicht wissen«, fragte Lindros aufgebracht,»wer zum Teufel weiß es dann?«

«Alex hat es als Einziger gewusst.«

«Alex Conklin ist tot, verdammt noch mal!«Lindros fuhr hoch, beugte sich nach vorn und schlug Driver die Zigarre aus dem Mund.»Randy, seit wann ist Dr. Schiffer verschwunden?«

Driver schloss die Augen.»Seit sechs Wochen.«

Nun verstand Lindros alles. Dies war der Grund, weshalb Driver bei seinem ersten Besuch so feindselig gewesen war: Er hatte schreckliche Angst gehabt, die Agency wittere seinen unerhörten Verstoß gegen alle Sicherheitsbestimmungen. Jetzt sagte er:»Wie um Himmels willen konnten Sie das bloß zulassen?«

Drivers blaue Augen erwiderten kurz seinen Blick.»Das hat Alex mir eingebrockt. Ich habe ihm vertraut. Wieso auch nicht? Ich kannte ihn seit Jahren — in der Agency war er eine lebende Legende, verdammt noch mal. Und was macht er dann? Er lässt Schiffer verschwinden.«

Driver starrte seine auf dem Boden liegende Zigarre an, als habe sie sich in ein bösartiges Insekt verwandelt.»Er hat mich ausgenützt, Lindros, mich schamlos missbraucht. Schiffer sollte nie in meiner Abteilung arbeiten. Alex wollte nie, dass er zu uns, zur Agency, kam. Er wollte ihn aus der DARPA rausholen, um ihn verschwinden zu lassen.«

«Weshalb?«, fragte Lindros.»Warum wollte er das?«

«Das weiß ich nicht. Bei Gott, ich wollte, ich wüsste es. «Der Schmerz in Drivers Stimme war nicht zu überhören, und Lindros hatte erstmals seit ihrer Bekanntschaft Mitleid mit ihm. Alles, was er jemals über Alexander Conklin gehört hatte, hatte sich als wahr erwiesen. Er war der Meistermanipulator, der Hüter dunkler Geheimnisse, der Agent gewesen, der keinem traute — außer Jason Bourne — seinem Schützling. Lindros fragte sich flüchtig, wie diese unerwartete Wendung sich auf den Alten auswirken würde. Conklin und er waren jahrzehntelang eng befreundet gewesen; sie hatten gemeinsam in der Agency, die ihr Leben war, Karriere gemacht. Sie hatten sich aufeinander verlassen, hatten einander vertraut… und nun dieser bittere Schlag. Conklin hatte gegen praktisch sämtliche Vorschriften der Agency verstoßen, um zu bekommen, was er wollte: Dr. Felix Schiffer. Er hatte nicht nur Randy Driver, sondern die Agency selbst reingelegt. Wie willst du dem Alten das bloß schonend beibringen? fragte Lindros sich. Aber noch während er das dachte, war ihm bewusst, dass er ein dringenderes Problem zu lösen hatte.

«Conklin hat offenbar gewusst, woran Schiffer wirklich gearbeitet hat, und wollte’s haben«, sagte Lindros.»Aber was zum Teufel war das?«

Driver sah ihn ratlos an.

Stepan Spalko stand mitten auf dem Kapisztran ter, seine Limousine wartete in Rufweite. Über ihm erhob sich der Maria-Magdalenen-Turm, der einzige Überrest einer Franziskanerkirche aus dem 13. Jahrhundert, deren Schiff und Chor im Zweiten Weltkrieg durch deutsche Bomben zerstört worden waren. Während er wartete, fühlte er einen eisigen Windstoß, der den Saum seines schwarzen Mantels hob und seine Haut berührte.

Spalko sah auf seine Uhr. Sido hatte Verspätung. Er hatte sich längst abgewöhnt, sich unnütz Sorgen zu machen, aber dieses Treffen war so wichtig, dass er doch eine gewisse Besorgnis empfand. Das aus vierundzwanzig Glocken bestehende Glockenspiel auf dem Turm schlug die erste Viertelstunde. Sido hatte viel Verspätung.

Spalko beobachtete das Kommen und Gehen der Menge. Er wollte eben gegen alle Regeln für solche Treffen verstoßen und Sido auf dem Handy anrufen, das er ihm gegeben hatte, als er den Wissenschaftler von jenseits des Turms auf sich zuhasten sah. Er hielt etwas in der Hand, das wie der Musterkoffer eines Juweliers aussah.

«Sie kommen spät«, sagte Spalko knapp.

«Ich weiß, aber es ging nicht anders. «Sido fuhr sich mit seinem Mantelärmel über die Stirn.»Ich hatte Mühe, das Produkt aus dem Lager zu holen. Drinnen war Personal beschäftigt, und ich musste warten, bis der Kühlraum wieder leer war, um keinen Verdacht zu…«

«Nicht hier, Doktor!«

Spalko hätte ihm am liebsten einen Kinnhaken verpasst, weil er in der Öffentlichkeit über geschäftliche Dinge sprach. Er packte Sido energisch am Ellbogen und führte ihn fast gewaltsam tiefer in den trostlosen Schatten des recht bedrohlich aufragenden, alten Kirchturms.

«Sie haben vergessen, dass Sie in Gegenwart Außenstehender Ihre Zunge hüten müssen, Peter«, fauchte Spalko.»Wir gehören einer Elite an, Sie und ich. Das habe ich Ihnen ausdrücklich gesagt.«

«Ich weiß«, antwortete Dr. Sido nervös,»aber mir fällt’s immer schwer, mich.«

«Mein Geld zu nehmen fällt Ihnen niemals schwer, stimmt’s?«

Sido wich seinem Blick aus.»Hier ist das Produkt«, sagte er.»Die bestellte Menge, sogar etwas mehr. «Er hielt Spalko den Musterkoffer hin.»Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir die Sache möglichst rasch abwickeln könnten. Ich muss wieder ins Labor. Als Sie angerufen haben, war ich gerade in einer wichtigen Besprechung.«

Spalko schob seine Hand weg.»Behalten Sie’s noch, Peter, zumindest für eine kleine Weile.«

Dr. Sidos Brillengläser blitzten.»Aber Sie haben gesagt, dass Sie’s jetzt brauchen — sofort. Wie ich Ihnen erklärt habe, lebt das Material nur achtundvierzig Stunden lang, nachdem es im Transportbehälter verpackt ist.«

«Darüber bin ich mir im Klaren.«

«Stepan, das verstehe ich nicht. Ich habe viel riskiert, indem ich’s Ihnen während der Arbeitszeit aus der Klinik gebracht habe. Jetzt muss ich dringend zurück, sonst.«

Spalko lächelte und packte Sidos Ellbogen zugleich noch fester.»Sie gehen nicht zurück, Peter.«

«Was?«

«Entschuldigung, dass ich das noch nicht früher erwähnt habe, aber… nun, für das Geld, das ich Ihnen zahle, will ich mehr als nur das Produkt. Ich will Sie.«

Der Wissenschaftler schüttelte den Kopf.»Aber das ist unmöglich. Das wissen Sie!«

«Nichts ist unmöglich, Peter.«

«Nun, das schon«, sagte Dr. Sido unnachgiebig.

Mit charmantem Lächeln zog Spalko ein Foto aus der Innentasche seines Mantels.»Wie lautet die Redensart über den Wert eines Bildes gleich wieder?«, fragte er, indem er ihm das Foto in die Hand drückte.

Dr. Sido starrte es zwanghaft schluckend an.»Woher haben Sie diese Aufnahme von meiner Tochter?«

Spalkos Lächeln blieb unverändert.»Einer meiner Leute hat sie gemacht, Peter. Sehen Sie sich das Datum an.«

«Das war gestern. «Ein plötzlicher Krampf erfasste ihn, und er zerriss das Bild in kleine Schnitzel.»Digitalfotos kann man heutzutage raffiniert bearbeiten«, sagte er mit versteinerter Miene.

«Wie wahr«, sagte Spalko.»Aber ich versichere Ihnen, dass dieses nicht bearbeitet ist.«

«Lügner! Ich gehe jetzt!«, sagte Dr. Sido.»Lassen Sie mich los.«

Spalko befolgte seine Aufforderung, aber als Sido sich entfernen wollte, fragte er:»Sie sollten mit Rosa sprechen, Peter. «Er hielt ihm ein Handy hin.»Gleich jetzt, meine ich.«

Dr. Sido blieb wie angenagelt stehen. Dann drehte er sich langsam nach Spalko um. Sein Gesicht war dunkel vor Zorn und kaum unterdrückter Angst.»Sie haben gesagt, Sie seien ein Freund von Felix. Ich dachte, Sie wären mein Freund.«

Spalko hielt ihm weiter das Handy hin.»Rosa möchte Sie dringend sprechen. Wenn Sie jetzt weggehen…«Er zuckte mit den Schultern. Sein Schweigen war eine offene Drohung.

Sido kam langsam, mit schwerem Schritt zurück. Er nahm das Telefon mit der freien Hand entgegen, hielt es an sein Ohr. Sein Herz hämmerte so laut, dass er kaum einen klaren Gedanken fassen konnte.»Rosa?«

«Vati? Vati! Wo bin ich? Was ist passiert?«

Die Panik in der Stimme seiner Tochter durchbohrte Sido wie eine glühende Klinge. Er konnte sich nicht entsinnen, jemals solche Angst empfunden zu haben.

«Liebling, was ist mit dir?«

«Männer sind in mein Zimmer gekommen, sie haben mich verschleppt, ich weiß nicht, wohin, sie haben mir eine Kapuze über den Kopf gestülpt, sie.«

«Das reicht«, entschied Spalko und nahm dem Wissenschaftler das Handy aus den kraftlosen Fingern. Er trennte die Verbindung und steckte das Handy ein.

«Was haben Sie ihr angetan?«Dr. Sidos Stimme zitterte von der Gewalt der Emotionen, die ihn durchfluteten.

«Noch nichts«, sagte Spalko leichthin.»Und ihr passiert auch nichts, Peter, solange Sie mir gehorchen.«

Dr. Sido schluckte, als Spalko wieder von ihm Besitz ergriff.»Wohin… wohin bringen Sie mich?«

«Wir machen eine kleine Reise«, sagte Spalko, während er ihn zu der wartenden Limousine führte.»Stellen Sie sich einfach vor, Sie machten Urlaub, Peter. Einen wohl verdienten Urlaub.«

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