Die beiden ersten Schüsse gingen über Bourne hinweg, weil er sich blitzschnell duckte. Als er wieder hochkam, versetzte er einem der Müllsäcke einen gewaltigen Tritt, der ihn auf die Agenten zufliegen ließ. Er traf einen und platzte dabei entlang der Naht auf. Müll flog nach allen Seiten und ließ die Agenten hustend, mit tränenden Augen und den Händen vor dem Gesicht zurückweichen.
Bourne schlug nach oben, zertrümmerte die Glühbirne und tauchte den engen Gang in Dunkelheit. Er drehte sich um, schaltete kurz die Stablampe ein und sah die kahle Wand am anderen Ende des Korridors. Aber wenn es hier eine Tür ins Freie gab, wie.?
Dann sah er etwas und knipste den schmalen Lichtstrahl sofort aus. Er konnte laute Stimmen hören, während die Agenten allmählich ihr Gleichgewicht wieder fanden. Er rannte ans Ende des Korridors, kniete nieder und tastete nach dem in den Boden eingelassenen Eisenring, den er dort stumpf glänzen gesehen hatte. Als er zwei Finger durch den Ring steckte und ihn hochzog, öffnete sich eine in den Keller führende Falltür. Gleichzeitig schlug ihm ein Schwall abgestandener Moderluft entgegen.
Ohne einen Augenblick zu zögern, ließ Bourne sich in die Öffnung hinab gleiten. Seine Schuhsohlen berührten eine Leiter, die er hinab stieg, während er über sich die Falltür zuzog. Der Geruch nach Schabenspray wurde stärker, und als er seine Stablampe einschaltete, sah er den rauen Betonboden mit ihren vertrockneten Körpern wie mit kleinen Blättern bedeckt. Als er in dem Durcheinander aus Schachteln, Pappkartons und Kisten stöberte, fand er ein Brecheisen. Er stieg sofort wieder die Leiter hinauf und schob die starke Metallstange durch die Handgriffe auf der Unterseite der Falltür. Sie passte nicht sehr gut, sondern blieb ziemlich locker, aber mehr konnte er im Augenblick nicht tun. Während tote Schaben zerknackten, als er über den Betonboden ging, überlegte er sich, dass er nur genug Zeit gewinnen musste, um den Straßenzugang des Lagerkellers, den diese Geschäftshäuser alle hatten, zu erreichen.
Über seinem Kopf hörte er das Hämmern, mit dem die beiden Agenten die Falltür zu öffnen versuchten. Bei diesem Gerüttel konnte es nicht lange dauern, bis das Brecheisen aus den Handgriffen rutschte. Aber Bourne hatte die zweiflüglige schräge Stahltür zum Gehsteig gefunden, hatte die kurze Betontreppe zu ihr hinauf erstiegen. Hinter ihm flog die Falltür auf. Er knipste die Stablampe aus, bevor die Agenten die Leiter heruntergeklettert kamen.
Jetzt saß er in der Falle, das wusste er. Bei jedem Versuch, die Türflügel hochzustemmen, würde er so viel Tageslicht einlassen, dass sie ihn erschießen konnten, bevor er halb auf dem Gehsteig war. Bourne machte kehrt, schlich wieder die Treppe hinunter. Er hörte die beiden auf der Suche nach dem Lichtschalter durch den Keller tappen. Sie sprachen nur halblaut, bruchstückhaft miteinander, was sie als erfahrene Profis auswies. Er schlich zwischen aufgestapelten Kisten hindurch weiter. Auch er suchte etwas Bestimmtes.
Als das Licht aufflammte, waren die beiden Agenten an den Längswänden des Kellers postiert.
«Was für ein Dreckloch!«, sagte einer von ihnen.
«Ist doch egal«, sagte der andere warnend.»Scheiße, wo steckt Bourne?«
Mit ihren nüchtern leidenschaftslosen Mienen waren sie kaum voneinander zu unterscheiden. Die bei der Agency üblichen Anzüge trugen sie ebenso selbstsicher wie den bei der Agency üblichen Gesichtsausdruck. Aber Bourne hatte viel Erfahrung mit Leuten gesammelt, die bei der Agency angeheuert hatten. Er wusste, wie sie dachten, und konnte deshalb vorhersagen, was sie tun würden. Obwohl sie räumlich getrennt waren, bewegten sie sich im Gleichtakt. Sie würden kaum einen Gedanken daran verschwenden, wo der Gesuchte sich versteckt haben könnte. Stattdessen hatten sie den Keller in gleich große Abschnitte eingeteilt, die sie wie Roboter systematisch absuchen würden. Er konnte ihnen nicht mehr entkommen, aber er konnte sie überraschen.
Sobald er sich zeigte, würde er blitzschnell handeln müssen. Darauf zählte er; deshalb war er entsprechend positioniert. Er hatte sich in einer Kiste verkrochen, und seine Augen brannten von den Dämpfen der starken Reinigungsmittel, mit denen die Kiste frei von Ungeziefer gehalten werden sollte. Mit einer Hand tastete er das Dunkel um sich herum ab. Als etwas gegen seinen Handrücken stieß, griff er danach. Es war eine Blechdose, die für seine Zwecke schwer genug war.
Außer seinem Herzschlag konnte Bourne eine Ratte hören, die an der Wand kratzte, an der die Kiste lehnte; ansonsten herrschte Stille, während die Agenten ihre gewissenhafte Suche fortsetzten. Er wartete geduldig, zu-sammengerollt. Sein Ausguck, die Ratte, hatte zu kratzen aufgehört. Folglich war mindestens einer der Agenten in seiner Nähe.
Totenstille. Dann hörte er plötzlich ein scharfes Luftholen, während direkt über ihm Stoff raschelte, und schnellte sich hoch, sodass der Kistendeckel wegflog. Der Agent prallte mit der Waffe in der Hand zurück. Sein Partner auf der anderen Seite des Kellers warf sich herum. Bourne packte den vor ihm stehenden Agenten mit der linken Hand am Hemd und riss ihn zu sich her. Als der Agent instinktiv zurückwich, seinen Körper versteifte, stürzte Bourne sich auf ihn und nützte den Schwung des anderen aus, um ihn mit Kopf und Rückgrat an die Kellerwand zu knallen. Er konnte die Ratte quieksen hören, als der Agent die Augen nach oben verdrehte und bewusstlos an der Wand zu Boden glitt.
Der zweite Agent machte ein, zwei Schritte auf Bourne zu, entschied sich dagegen, es im Nahkampf mit ihm aufzunehmen, und zielte mit der Glock auf seine Brust. Bourne warf ihm die Blechdose ins Gesicht. Als er mit einem Aufschrei zurückwich, war Bourne bereits heran, traf den Agenten mit einem Handkantenschlag seitlich am Hals und fällte ihn.
Im nächsten Augenblick hetzte Bourne die Treppe hinauf und stieß die Flügel der Stahltür auf, vor der frische Luft und blauer Himmel lagen. Er ließ sie hinter sich zufallen und folgte dem Gehsteig ohne erkennbare Eile bis zur Rosemont Avenue. Dort tauchte er in der Menge unter.
Sobald Bourne sich davon überzeugt hatte, dass er nicht verfolgt wurde, betrat er eine halbe Meile weiter ein Re-staurant. Von einem Ecktisch aus musterte er die Gesichter der anderen Gäste, hielt Ausschau nach Anomalien — gespielte Nonchalance, heimlich prüfende Blicke. Er bestellte sich ein Sandwich mit Schinken, Tomate und Salat und eine Tasse Kaffee, dann stand er auf und ging durchs Restaurant nach hinten. Auf der leeren Herrentoilette sperrte er sich in einer Kabine ein, setzte sich aufs WC und riss den für Conklin bestimmten Umschlag auf, den Fine ihm gegeben hatte.
Der Umschlag enthielt ein auf Conklin ausgestelltes Flugticket erster Klasse nach Budapest und den Schlüssel eines Zimmers im Grandhotel Danubius. Bourne saß einen Augenblick da, betrachtete die beiden Dinge und fragte sich, weshalb Conklin nach Budapest hatte fliegen wollen — und ob diese Reise etwas mit seiner Ermordung zu tun hatte.
Er zog Conklins Handy aus der Tasche, tippte eine Nummer im Ortsbereich ein. Seit er ein Ziel hatte, fühlte er sich besser. Deron meldete sich nach dem dritten Klingeln.
«Friede, Liebe und Verständnis.«
Bourne lachte.»Ich bin’s, Jason. «Wie Deron sich am Telefon melden würde, wusste man nie. Deron war buchstäblich ein Künstler seines Fachs. Zufällig war er von Beruf Kunstfälscher. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich damit, dass er Alte Meister kopierte, die in den Häusern reicher Protze an den Wänden hingen. De-rons Arbeiten waren so detailgetreu, so penibel ausgeführt, dass seine Werke immer wieder bei großen Kunstauktionen versteigert wurden oder in Museen landeten. Und nebenbei fälschte er nur so aus Spaß andere Dinge.
«Ich habe die Meldungen über dich verfolgt, und sie klingen entschieden bedrohlich«, sagte Deron mit seinem leichten britischen Akzent.
«Erzähl mir was, das ich nicht weiß. «Als die Toilettentür aufging, machte Bourne eine Pause. Er stand auf, stieg aufs WC und warf einen Blick über den oberen Rand der Kabine. Ein grauhaariger, bärtiger Mann, der leicht hinkte, trat an eines der Urinale. Er trug eine Bomberjacke aus dunklem Wildleder, eine schwarze Hose, nichts Besonderes. Und trotzdem hatte Bourne plötzlich das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Er musste sich beherrschen, um nicht sofort hinauszustürmen.
«Verdammt, ist der Mann hinter deinem Arsch her?«Es war immer amüsant, wenn ein kultivierter Mensch wie Deron amerikanischen Slang benützte.
«Das war er, bis ich ihn abgeschüttelt habe. «Bourne betätigte die Wasserspülung, verließ die Toilette, ging ins Restaurant zurück und suchte dabei wieder alle Tische ab. Das Sandwich war unterdessen gekommen, aber sein Kaffee war kalt. Er winkte die Bedienung heran und bat sie, ihm einen frischen Kaffee zu bringen. Als sie gegangen war, sprach er leise ins Handy:»Hör zu, Deron, ich brauche das Übliche: einen Pass und Kontaktlinsen in meiner Sehstärke — und ich brauche beides bis gestern.«
«Nationalität?«
«Ich möchte Amerikaner bleiben.«
«Gute Idee. Damit wird der Mann nicht rechnen.«
«Irgendwas in dieser Art. Und der Pass soll auf den Namen Alexander Conklin lauten.«
Deron stieß einen leisen Pfiff aus.»Das ist deine Entscheidung, Jason. Lass mir zwei Stunden Zeit.«
«Bleibt mir was anderes übrig?«
Derons eigenartiges kleines Kichern explodierte in sei-nem Ohr.»Du kannst’s natürlich auch bleiben lassen. Ich habe alle deine Fotos. Welches willst du?«
Als Bourne es ihm sagte, fragte er:»Im Ernst? Auf dem ist dein Kopf fast kahl geschoren. So siehst du jetzt überhaupt nicht aus.«
«Aber demnächst wieder, wenn meine Verwandlung fertig ist«, antwortete Bourne.»Die Agency hat mich auf ihre Abschussliste gesetzt.«
«Dich erwischen sie nicht — hoffentlich. Wo sollen wir uns treffen?«
Bourne sagte es ihm.
«Wird gemacht. He, hör mal, Jason…«Derons Tonfall klang plötzlich ernster.»Das muss schlimm gewesen sein. Ich meine, du hast sie doch gesehen, stimmt’s?«
Bourne starrte seinen Teller an. Hatte er dieses Sandwich bestellt? Die Tomatenscheiben sahen roh und blutig aus.»Ich habe sie gesehen, ja. «Was wäre, wenn er die Zeit zurückdrehen und Alex und Mo wieder ins Leben zurückrufen könnte? Das wäre ein toller Trick gewesen! Aber die Vergangenheit blieb vergangen; sie schwand mit jedem Tag mehr aus der Erinnerung.
«Schließlich war’s nicht bloß eine Szene aus Butch Cassidy. «
Bourne sagte kein Wort.
Deron seufzte.»Ich habe Alex und Mo auch gekannt.«
«Natürlich hast du das. Ich habe dich ihnen vorgestellt«, sagte Bourne und klappte das Handy zu.
Er blieb eine Zeit lang an seinem Tisch sitzen und dachte nach, denn etwas machte ihm Sorgen. In seinem Kopf hatten Alarmglocken geschrillt, als er die Toilette verlassen hatte, aber sein Gespräch mit Deron hatte ihn so abgelenkt, dass er nicht weiter darauf geachtet hatte.
Was hatte ihn beunruhigt? Er suchte das Restaurant langsam nochmals ab. Dann hatte er’s. Er hatte den bärtigen Mann mit dem leichten Hinken nicht wieder gesehen. Vielleicht hatte der andere schon gegessen und war auf dem Hinausweg gewesen. Andererseits hatte seine Gegenwart Bourne auf unerklärliche Weise beunruhigt. Er hatte irgendetwas an sich gehabt.
Bourne warf Geld auf den Tisch und ging in den Eingangsbereich des Restaurants hinaus. Die beiden Fenster, die dort auf die Straße hinausführten, waren durch einen breiten Mahagonipfeiler getrennt. Er benützte ihn als Deckung, während er die Straße absuchte. Als Erstes kamen die Fußgänger dran: jeder, der unnatürlich langsam ging oder sich unauffällig in der Nähe aufhielt, indem er eine Zeitung las oder zu lange vor der Auslage eines Geschäfts auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand, um den Eingang des Restaurants wie in einem Spiegel zu beobachten. Er sah nichts Verdächtiges. Ihm fielen drei Personen auf, die in geparkten Autos saßen — eine Frau, zwei Männer. Ihre Gesichter konnte er nicht sehen. Und auch auf seiner Straßenseite parkten natürlich Autos, in denen Leute sitzen konnten.
Ohne weiter darüber nachzudenken, trat er auf die Straße hinaus. Inzwischen war es später Vormittag, und mehr Passanten drängten sich auf den Gehsteigen. Das entsprach seinen gegenwärtigen Bedürfnissen. Er verbrachte die nächsten zehn Minuten damit, seine unmittelbare Umgebung zu beobachten, indem er Hauseingänge, Schaufenster, entgegenkommende Fußgänger, vorbeifahrende Autos, Fenster und Dächer kontrollierte. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass hier keine CIA-Agenten unterwegs waren, überquerte er die Straße und betrat einen Spirituosenladen. Er verlangte eine Flasche des in Sherryfässern gereiften Speyside-Single-Malt, den Conklin bevorzugt hatte. Während der Besitzer ihn aus dem Lager holte, sah Bourne aus dem Schaufenster. In keinem der in der Umgebung des Restaurants parkenden Wagen saß jemand. Während er hinaussah, stieg einer der beiden Männer, die ihm aufgefallen waren, aus dem Auto und betrat eine Apotheke. Er hatte keinen Bart und hinkte auch nicht.
Bourne wollte sich erst in gut eineinhalb Stunden mit Deron treffen und die Zeit bis dahin produktiv nutzen. Die von den Erfordernissen des Augenblicks zunächst verdrängte Erinnerung an das Pariser Büro, die Stimme und das vage vertraute Gesicht waren jetzt zurückgekehrt. Wollte er Mo Panovs Methode folgen, musste er den Duft dieses Whiskys einatmen, um seinem Gedächtnis womöglich auf die Sprünge zu helfen. So würde er hoffentlich herausbekommen, wer der Mann in Paris gewesen und weshalb diese Erinnerung gerade jetzt aufgetaucht war. War sie wirklich nur durch den Whiskyduft oder eher durch irgendeinen Aspekt seiner gegenwärtigen Notlage ausgelöst worden?
Er bezahlte den Scotch mit einer Kreditkarte, was bei einem Einkauf in einem Spirituosenladen vermutlich ungefährlich war. Im nächsten Augenblick verließ er das Geschäft mit einer Tragetasche in der Hand. Er kam an dem Auto vorbei, in dem eine Frau saß. Sie hatte ein kleines Kind auf dem Beifahrersitz neben sich sitzen. Da die Agency niemals gestattet hätte, dass ein Kind an einer aktiven Überwachung teilnahm, blieb einzig der zweite Mann als potenzieller Beschatter übrig. Bourne machte kehrt, ging von dem Auto weg, in dem der Mann saß. Er sah sich nicht um und versuchte nicht, eines der Standardverfahren anzuwenden, mit dem man Beschatter abschütteln konnte. Aber er achtete auf alle vorbeifahrenden oder am Randstein geparkten Autos.
Keine zehn Minuten später erreichte Bourne einen Park. Er setzte sich auf eine schmiedeeiserne Bank und sah den Tauben zu, die sich bei ihren Flugmanövern von dem blauen Himmel abhoben. Von den übrigen Bänken war ungefähr die Hälfte besetzt. Ein alter Mann kam in den Park; aus der mitgebrachten braunen Papiertüte, die so verknittert war wie sein Gesicht, holte er Hände voller Brotbrocken. Die Tauben schienen auf sein Kommen gewartet zu haben; sie stießen herab, umflatterten ihn und gurrten entzückt, während sie das Brot aufpickten.
Bourne schraubte die Flasche Single-Malt auf und schnüffelte das elegante, komplexe Aroma. Sofort erschien Alex’ Gesicht vor ihm — und sein langsam im Teppich versickerndes Blut. Sanft, fast ehrfürchtig schob er dieses Bild beiseite. Er nahm einen kleinen Schluck Scotch, behielt ihn im Mund und ließ sich das Aroma in die Nase steigen, damit es vielleicht die bruchstückhafte Erinnerung zurückbrachte, die sich ihm so hartnäckig entzog. Vor seinem inneren Auge erschien wieder der Blick auf die Champs-Elysees. Er hielt das geschliffene Kristallglas in der Hand, und während er einen weiteren Schluck Scotch trank, zwang er sich dazu, das Glas an die Lippen zu heben. Er hörte die kräftige, beinahe bühnenreife Stimme und zwang sich dazu, sich nach dem Pariser Büro umzudrehen, in dem er einst gestanden hatte.
Jetzt konnte er zum erstenmal die luxuriöse Einrichtung des Raums sehen: das Gemälde von Raoul Dufy, ein elegantes Reiterporträt aus dem Bois de Boulogne, die leuchtend dunkelgrün gestrichenen Wände, die hohe, cremefarben abgesetzte Decke, deren Stuckverzierungen im klaren Pariser Licht deutlich hervortraten. Weiter, drängte er sich selbst. Weiter… Ein Orientteppich, zwei Polsterstühle mit hohen Rückenlehnen und ein schwerer Walnussschreibtisch im Louis-XIV.-Stil, hinter dem ein großer, gut aussehender Mann mit wissenden Augen, einer langen gallischen Nase und frühzeitig ergrautem Haar stand. Jacques Robbinet, der französische Kulturminister.
Das war’s! Woher Bourne ihn kannte, weshalb sie Freunde und in gewissem Sinn Landsleute geworden waren, blieb noch rätselhaft, aber nun wusste er zumindest, dass er einen Verbündeten hatte, mit dem er Verbindung aufnehmen, auf den er zählen konnte. Freudig erregt stellte Bourne die Flasche Scotch als Geschenk für den ersten Stadtstreicher, der sie entdeckte, unter die Bank. Er sah sich unauffällig um. Der alte Mann war verschwunden — und mit ihm die meisten Tauben; nur noch einige Tauber, die aufgeplustert ihr Territorium verteidigten, stolzierten umher und pickten die letzten Brotkrumen auf. Auf einer der benachbarten Bänke küsste sich ein junges Paar; drei Jugendliche, die mit einem Ghettoblaster an ihnen vorbeikamen, machten anzügliche Bemerkungen über die beiden. Bourne hatte den Eindruck, seine Sinne seien übernatürlich geschärft. Irgendetwas war hier nicht in Ordnung, passte nicht hierher, aber er konnte nicht herausfinden, was es war.
Ihm war durchaus bewusst, dass der Zeitpunkt für sein Treffen mit Deron rasch näher rückte, aber ein Instinkt warnte ihn davor, sich zu bewegen, bevor er die Anomalie identifiziert hatte. Er betrachtete nochmals die Men-schen in seiner Umgebung. Kein bärtiger Mann, jedenfalls keiner, der leicht hinkte. Und trotzdem… Ihm schräg gegenüber saß ein Mann mit aufgestützten Ellbogen und gefalteten Händen nach vorn gebeugt. Er beobachtete einen kleinen Jungen, dem sein Vater gerade eine Eiswaffel gegeben hatte. Was Bourne an ihm interessierte, war die Tatsache, dass er eine Bomberjacke aus dunklem Wildleder und dazu eine schwarze Hose trug. Sein Haar war schwarz, nicht grau; er hatte keinen Bart, und seine Beine sahen so normal aus, dass Bourne ihm keinen hinkenden Gang zutraute.
Bourne, selbst ein Chamäleon und ein wahrer Verwandlungskünstler, wusste recht gut, dass ein veränderter Gang zu den besten Tarnmethoden zählte — vor allem wenn man einen Profi täuschen wollte. Ein Amateur achtete vielleicht eher auf Äußerlichkeiten wie Haarfarbe und Kleidung, aber für einen ausgebildeten Agenten war die Art und Weise, wie jemand sich bewegte, so charakteristisch wie ein Fingerabdruck. Er versuchte, sich den Mann in der Toilette des Restaurants ins Gedächtnis zurückzurufen. Hatte er eine Perücke und einen falschen Bart getragen? Das wusste er nicht sicher. Beschwören hätte er jedoch können, dass der Mann eine Bomberjacke aus dunklem Wildleder und eine schwarze Hose getragen hatte. Aus diesem Blickwinkel konnte Bourne das Gesicht des anderen nicht sehen, aber er war jedenfalls weit jünger, als der Mann auf der Toilette des Restaurants gewirkt hatte.
Er hatte zusätzlich noch etwas an sich, aber was? Bourne studierte das Gesicht des Mannes sekundenlang von der Seite aus, dann wusste er’s plötzlich. In seiner Erinnerung blitzte ein Bild des Mannes auf, der ihn auf Conklins Anwesen im Wald überfallen hatte. Die Form dieses Ohrs, die tiefbraune Farbe, die Drehung der Ohrmuschel. das alles war unverkennbar.
Großer Gott, sagte er sich plötzlich desorientiert, das ist der Mann, der auf dich geschossen, der’s fast geschafft hat, dich in der Höhle in Manassas umzulegen! Wie hatte der andere ihm bis hierher folgen können, obwohl er’s geschafft hatte, alle Leute abzuschütteln, die Agency und State Police gegen ihn aufgeboten hatten? Bourne erschauerte einen Augenblick. Was für eine Art Mann konnte das schaffen?
Er wusste, dass es nur eine Möglichkeit gab, das herauszubekommen. Aus Erfahrung wusste er, dass man einen gefährlichen Gegner nur dann richtig einschätzen konnte, wenn man etwas tat, das er ganz sicher nicht erwartete. Trotzdem zögerte er zunächst noch. Mit einem solchen Gegenspieler hatte er’s noch nie zu tun gehabt. Er war sich darüber im Klaren, dass er in dieser Beziehung Neuland betreten hatte.
In diesem Bewusstsein stand er auf, durchquerte langsam und bedächtig den Park und setzte sich neben den Mann, dessen Gesicht entschieden asiatische Züge aufwies, wie Bourne jetzt sah. Zur Ehre des anderen musste gesagt werden, dass er nicht zusammenzuckte und sich keinerlei Überraschung anmerken ließ. Er beobachtete weiter den kleinen Jungen. Als das Eis zu schmelzen begann, zeigte sein Vater ihm, wie er die Waffel drehen musste, um das herunterlaufende Eis abzulecken.
«Wer bist du?«, fragte Bourne.»Warum willst du mich ermorden?«
Der Mann sah weiterhin geradeaus, ließ sich nicht im Geringsten anmerken, dass er gehört hatte, was Bourne gesagt hatte.»Was für eine heitere Szene eines friedlichen
Familienlebens. «In seiner Stimme lag ein sarkastischer Unterton.»Ich frage mich, ob das Kind weiß, dass sein Vater es jeden Augenblick ohne Vorwarnung verlassen könnte.«
Bourne spürte eine eigenartige Reaktion darauf, die Stimme des anderen in dieser Umgebung zu hören. Als sei er aus dem Schatten getreten, um wahrhaftig im Alltag der anderen Menschen zu existieren.
«Auch wenn du mich unbedingt kaltmachen willst«, sagte Bourne,»kannst du mir hier in der Öffentlichkeit nichts anhaben.«
«Wie alt ist der Junge wohl? Ungefähr sechs, würde ich sagen. Viel zu klein, um den Sinn des Lebens zu verstehen, viel zu klein, um zu begreifen, weshalb sein Vater ihn verlassen könnte.«
Bourne schüttelte den Kopf. Das Gespräch verlief durchaus nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte.»Wie kommst du darauf? Weshalb sollte der Vater seinen Sohn verlassen?«
«Eine interessante Frage, zumal wenn sie von einem Mann mit zwei Kindern kommt. Jamie und Alison, nicht wahr?«
Bourne fuhr zusammen, als habe der andere ihm ein Messer in die Rippen gestoßen. Angst und Wut brodelten in ihm, aber er ließ nur seine Wut an die Oberfläche steigen.»Ich will nicht mal fragen, woher du so viel über mich weißt, aber eines will ich dir sagen: Dass du meine Familie bedroht hast, war ein verhängnisvoller Fehler.«
«Oh, das brauchst du nicht zu glauben. Ich habe keineswegs vor, deinen Kindern etwas anzutun«, sagte Chan gelassen.»Ich habe mich nur gefragt, wie Jamie reagieren wird, wenn du nicht zurückkehrst.«
«Ich werde meinen Sohn nie verlassen. Ich werde tun, was nötig ist, um sicher zu ihm zurückzukehren.«
«Eigenartig, dass du hinsichtlich deiner jetzigen Familie so leidenschaftlich empfindest, nachdem du Dao, Joshua und Alyssa im Stich gelassen hast.«
Jetzt gewann die Angst in Bourne die Oberhand. Sein Herz hämmerte schmerzhaft, und er fühlte brennende Stiche in der Brust.»Wovon redest du überhaupt? Wie kommst du darauf, dass ich sie im Stich gelassen habe?«
«Du hast sie ihrem Schicksal überlassen, stimmt’s?«
Bourne hatte das Gefühl, den Bezug zur Realität zu verlieren.»Das verbitte ich mir! Sie waren tot! Sie sind mir entrissen worden, und ich habe sie nie vergessen!«
Die Lippen des anderen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln, als habe er einen Sieg erzielt, indem er Bourne über eine unsichtbare Grenze gezerrt hatte.»Nicht einmal, als du Marie geheiratet hast? Nicht einmal, als Jamie und Alison geboren wurden?«Seine Stimme klang gepresst, als kämpfe er darum, etwas tief in seinem Inneren Aufwallendes unter Kontrolle zu halten.»Du hast versucht, Joshua und Alyssa zu reproduzieren. Du hast ihnen sogar Vornamen mit den gleichen Anfangsbuchstaben gegeben.«
Bourne war wie vor den Kopf geschlagen. In seinen Ohren begann ein dumpfes Brausen.»Wer bist du?«, wiederholte er heiser.
«Ich bin unter dem Namen Chan bekannt. Aber wer bist du, David Webb? Ein Linguistikprofessor kann sich vielleicht in der Wildnis auskennen, aber er versteht bestimmt nichts von Nahkampf; er weiß nicht, wie man nach Art des Vietcong ein Lianennetz flicht; er weiß nicht, wie man einen geklauten Wagen kurzschließt.
Und erst recht weiß er nicht, wie man sich erfolgreich vor der CIA verbirgt.«
«Offenbar geben wir uns gegenseitig Rätsel auf.«
Um Chans Lippen spielte wieder das irritierend geheimnisvolle Lächeln. Bourne fühlte, dass seine Nackenhaare sich sträubten, während erneut ein Bruchstück seiner zerschellten Erinnerungen hochzusteigen versuchte.
«Red dir das nur weiter ein. Tatsächlich könnte ich dich jetzt umlegen, selbst hier in der Öffentlichkeit«, sagte Chan mit hasserfüllter Stimme. Sein Lächeln war so rasch verschwunden, wie eine Wolke ihre Form verändert, und die Bronzesäule seines Halses erzitterte leicht, als sei lange unterdrückter Zorn für einen Augenblick in ihm aufgestiegen.»Ich sollte dich sogar jetzt umlegen. Aber so unüberlegtes Handeln würde mich gegenüber den beiden CIA-Agenten exponieren, die eben den Park durch den Nordeingang betreten haben.«
Ohne den Kopf zu bewegen, sah Bourne rasch in die angegebene Richtung. Chan hatte Recht. Zwei CIA-Agenten suchten die Gesichter der dort Sitzenden ab.
«Ich glaube, es wird Zeit, dass wir gehen. «Chan stand auf, blickte kurz auf Bourne hinab.»Die Sache ist sehr einfach. Du kannst mitkommen oder dich schnappen lassen.«
Bourne stand auf, ging neben Chan her, verließ an seiner Seite den Park. Chan, der sich zwischen Bourne und den Agenten befand, wählte eine Route, auf der er in dieser Position blieb. Bourne fand die professionelle Art des jungen Mannes und seine Geistesgegenwart in Extremsituationen erneut beeindruckend.
«Warum tust du das?«, fragte Bourne. Er hatte den jähen Gefühlsausbruch des anderen — ein ebenso rätselhaftes wie alarmierendes Aufflammen — sehr wohl wahrgenommen. Chan gab keine Antwort.
Sie tauchten in den Fußgängerstrom ein und verschwanden darin. Chan hatte beobachtet, wie vier Agenten in die Geschäftsräume von Lincoln Fine Tailors stürmten, und sich rasch ihre Gesichter gemerkt. Das war nicht schwierig gewesen; im Dschungel, in dem er sich als Kind allein hatte durchschlagen müssen, entschied die blitzschnelle Identifizierung eines Menschen oft über Leben und Tod. Jedenfalls wusste Chan im Gegensatz zu Webb, wo alle vier waren, und hielt jetzt Ausschau nach den beiden anderen, weil er in dieser entscheidenden Phase, in der er mit seinem Opfer zu einem selbst gewählten Ort unterwegs war, keine Einmischung dulden konnte.
Tatsächlich entdeckte er sie vor sich in der Menge. Sie kamen ihnen in Standardformation — auf beiden Straßenseiten je einer — entgegen. Als er sich halb zur Seite drehte, um Webb zu warnen, musste er feststellen, dass er in der Menge allein war. Webb hatte sich in Luft aufgelöst.