Tief im Inneren der Zentrale von Humanistas, Ltd. lag eine mit modernster Technik ausgestattete Abhörstation, die den geheimen Funkverkehr der wichtigsten Geheimdienste überwachte. Kein menschliches Ohr hörte jemals die Rohdaten, weil kein menschliches Ohr sie hätte verstehen können. Da die Meldungen verschlüsselt waren, wurde der aufgefangene Funkverkehr mit Software weiterverarbeitet, die aus heuristischen Algorithmen bestand die Software war also lernfähig. Für jeden Geheimdienst gab es ein eigenes Programm, weil alle mit verschiedenen Verschlüsselungsalgorithmen arbeiteten.
Obwohl das Programmiererteam von Humanistas nicht alle Codes knacken konnte, wusste Stepan Spalko über ziemlich alles Bescheid, was in der Welt der Geheimdienste ablief. Da der amerikanische CIA-Code zu denen gehörte, die seine Leute geknackt hatten, vergingen nach dem Befehl des CIA-Direktors, Jason Bourne zu liquidieren, nur wenige Stunden, bis Spalko ihn las.
«Ausgezeichnet«, sagte er.»Jetzt läuft alles nach Plan. «Er legte die entschlüsselte Meldung weg und holte sich einen Stadtplan von Nairobi auf den Bildschirm. Dann suchte er die Außenbezirke der Großstadt ab, bis er das Gebiet gefunden hatte, in dem das von Humanistas entsandte Medizinerteam auf Wunsch von Präsident Jomo die dort in Quarantäne gehaltenen Aids-Kranken betreuen sollte.
In diesem Augenblick klingelte sein Handy. Er hörte sich an, was die Stimme am anderen Ende zu berichten hatte. Nach einem Blick auf die Uhr sagte er zuletzt:»Die Zeit müsste reichen. Gut gemacht!«Dann fuhr er mit dem Aufzug zu Ethan Hearns Büro hinauf. Unterwegs telefonierte er nochmals und bekam binnen Minuten, worum viele andere in Budapest sich seit Wochen vergeblich bemüht hatten: einen Parkettplatz für die Abendvorstellung im Opernhaus.
Der Neue in der Entwicklungsabteilung von Huma-nistas arbeitete fleißig am Computer, aber als Spalko hereinkam, stand er sofort auf. Er wirkte so frisch und munter, wie er vermutlich heute Morgen ins Büro gekommen war.
«Kein Grund, so förmlich zu sein, Ethan«, sagte Spal-ko entspannt lächelnd.»Wir sind hier nicht bei der Army, wissen Sie.«
«Ja, Sir. Danke. «Hearn streckte seinen Rücken.»Ich bin seit sieben Uhr dran.«
«Wie kommen Sie mit dem Spendensammeln voran?«
«Nächste Woche finden zwei Wohltätigkeitsdinners und ein Mittagessen mit potenziellen Sponsoren statt. Und ich habe Ihnen den Entwurf eines neuen Werbebriefs gemailt.«
«Gut, gut. «Spalko sah sich um, als wolle er sich davon überzeugen, dass niemand sie hören konnte.»Sagen Sie, haben Sie einen Smoking?«
«Natürlich, Sir. Der gehört sozusagen zu meiner Berufskleidung.«
«Ausgezeichnet. Sie fahren jetzt nach Hause und ziehen ihn an.«
«Sir?«Der junge Mann zog überrascht die Augenbrauen hoch.
«Sie gehen in die Oper.«
«Heute Abend? So kurzfristig? Wie haben Sie’s geschafft, Karten zu bekommen?«
Spalko lachte.»Also, Sie gefallen mir, Ethan. Ich möchte wetten, dass Sie der letzte ehrliche Mensch der Welt sind.«
«Sir, für mich steht fest, dass Sie das sind.«
Spalko lachte erneut, diesmal über den leicht verwirrten Gesichtsausdruck des jungen Mannes.»Das war ein Scherz, Ethan. Los jetzt! Sie müssen sich ein bisschen beeilen.«
«Aber meine Arbeit…«Hearn deutete auf den Bildschirm.
«In gewisser Weise arbeiten Sie heute Abend auch. In der Oper ist ein Mann, den ich als Geldgeber gewinnen möchte. «Spalko wirkte so entspannt, so nonchalant, dass Hearn nicht den geringsten Verdacht schöpfte.»Dieser Mann… er heißt übrigens Laszlo Molnar…«
«Nie von ihm gehört.«
«Das wundert mich nicht. «Spalko sprach leise und mit Verschwörermiene.»Er ist sehr reich, will aber unbedingt vermeiden, dass sein Reichtum bekannt wird. Er steht auf keiner meiner Spenderlisten, das kann ich Ihnen versichern, und wenn Sie auch nur eine Andeutung über seine Vermögensverhältnisse machen, kommen Sie nie wieder mit ihm ins Gespräch.«
«Ich verstehe völlig, Sir«, sagte Hearn.
«Er ist so etwas wie ein connoisseur, ein Kenner, auch wenn dieses Wort viel von seiner ursprünglichen Bedeutung verloren hat.«
«Ja, Sir. «Hearn nickte.»Ich denke, ich weiß, was Sie meinen.«
Spalko war überzeugt, dass der junge Mann keine Ahnung hatte, was er meinte, und empfand bei diesem Gedanken vages Bedauern. Auch er war einst — vor hundert Jahren, so erschien es ihm jetzt — so naiv gewesen wie Hearn.»Jedenfalls ist Molnar ein großer Opernliebhaber. Er hat seit vielen Jahren ein Abonnement.«
«Ich weiß genau, wie man mit schwierigen Kandidaten wie Läszlo Molnar umgeht. «Hearn schlüpfte in sein Jackett.»Sie können sich auf mich verlassen, Sir.«
Spalko grinste.»Ich weiß, dass ich auf Sie zählen kann. Sobald Sie ihn an der Angel haben, möchte ich, dass Sie ihn ins Underground lotsen. Kennen Sie diese Bar, Ethan?«
«Natürlich, Sir. Aber es wird ziemlich spät werden. Nach elf Uhr, fürchte ich.«
Spalko legte einen Zeigefinger an die Nase.»Noch ein Geheimnis. Molnar ist ein ziemliches Nachtlicht. Aber er wird sich sträuben. Ihm scheint es Spaß zu machen, sich überreden zu lassen. Sie dürfen nicht lockerlassen, Ethan, ist das klar?«
«Sonnenklar.«
Spalko drückte ihm einen Zettel mit Molnars Sitznummer in die Hand.»Also los! Amüsieren Sie sich gut. «Er gab ihm einen kleinen Schubs.»Und viel Erfolg!«
Die imposante Säulenfassade des Magyar Allami Opera-häz, der Ungarischen Staatsoper, war in helles Licht getaucht. Drinnen glitzerte der prächtige, in Gold und Rot gehaltene Zuschauerraum mit seinen drei Rängen im Schein von zehntausend Lichtpfeilen, die von dem riesigen Kristalllüster ausgingen, der wie eine riesige Glocke von dem mit Gemälden geschmückten Deckengewölbe
An diesem Abend wurde Zoltan Kodalys Hdry Jdnos gegeben: eine traditionell sehr beliebte Oper, die seit 1926 auf dem Spielplan stand. Als Ethan Hearn das riesige Marmorfoyer betrat, hallte es bereits von den Stimmen der versammelten Budapester Gesellschaft wider. Obwohl sein Smoking aus feinem Kammgarn gearbeitet und gut geschnitten war, stammte er von keinem der großen Modemacher. In Hearns Beruf kam es sehr darauf an, was er trug und wie er es trug. Er tendierte zu eleganter, dezenter Kleidung, die nie zu auffällig oder zu teuer wirken durfte. Bescheidenheit war eine unerlässliche Zier, wenn man um Spenden warb.
Obwohl er keinesfalls zu spät auf seinen Platz kommen wollte, ging er bewusst etwas langsamer, um keinen Augenblick dieser eigenartig elektrisierenden Zeit vor dem Einsetzen der Ouvertüre zu versäumen, die sein Herz jedes Mal höher schlagen ließ.
Da er sich gewissenhaft mit den Vorlieben der ungarischen Gesellschaft vertraut gemacht hatte, fühlte er sich als eine Art Opernkenner. Die Oper Hdry Jdnos gefiel ihm wegen ihrer Musik, die auf ungarische Volksweisen zurückgriff, und der fast unglaublichen Geschichte, die der altgediente Soldat Janos erzählt: wie er die Tochter des Kaisers rettet, zum General befördert wird, Napoleon praktisch im Alleingang besiegt und schließlich das Herz der Kaisertochter gewinnt. Das Ganze war ein in die blutige Geschichte Ungarns eingebettetes schönes Märchen.
Letzten Endes war es sogar gut, dass er ein wenig später gekommen war, denn so konnte er mit Hilfe der Sitznummer, die Spalko ihm auf einem Zettel mitgegeben hatte, Laszlo Molnar identifizieren, der wie die meisten anderen schon auf seinem Platz saß. Soweit Hearn auf den ersten Blick feststellen konnte, war er ein mittelgroßer Mann mittleren Alters, ziemlich korpulent, mit vollem schwarzem Haar, das er mit Brillantine zurückgekämmt trug. Aus seinen Ohren und auf dem Rücken seiner grobknochigen Hände sprossen schwarze Borsten. Er ignorierte die links neben ihm sitzende Frau, die sich ohnehin viel zu laut mit ihrer Begleiterin unterhielt. Der Sitz rechts neben Molnar war leer. Anscheinend war er ohne Begleitung in die Oper gekommen. Umso besser, dachte Hearn, als er seinen nicht besonders guten Parkettplatz einnahm. Wenig später wurde das Licht gedämpft, das Orchester spielte die Ouvertüre, und der Vorhang ging auf. Hearn überließ sich der Musik.
In der Pause, holte Hearn sich eine Tasse Schokolade und mischte sich unter die elegante Menge. Hier war die Evolution des Menschen zu besichtigen. Im Gegensatz zur Tierwelt waren die Weibchen eindeutig farbenprächtiger als die Männchen. Die Damen trugen Abendkleider aus Schantungseide, venezianischem Moire und marokkanischem Satin, die erst vor wenigen Wochen auf Laufstegen in Paris, Mailand und New York vorgeführt worden waren. Die Herren, die meisten in Designersmokings, waren anscheinend damit zufrieden, ihre Gefährtinnen, die sich in Gruppen versammelten, zu umkreisen und ihnen bereitwillig Champagner oder heiße Schokolade zu holen, und wirkten ansonsten reichlich gelangweilt.
Hearn hatte die erste Hälfte der Oper genossen und freute sich auf den Schlussteil. Seinen Auftrag hatte er jedoch nicht vergessen. Tatsächlich hatte er sich während der Vorstellung überlegt, wie er die Sache angehen würde. Er ließ sich ungern ins Korsett eines festen Plans zwängen; stattdessen nutzte er lieber seinen ersten Eindruck von dem potenziellen Geldgeber, um sich eine Annäherungsmethode zurechtzulegen. Ein guter Beobachter konnte schon auf den ersten Blick viel erkennen. Achtete der Betreffende auf seine äußere Erscheinung? Aß er gern oder war essen für ihn nebensächlich? Rauchte oder trank er? War er kultiviert oder ungehobelt? Alle diese Faktoren und noch weitere ergaben einen Gesamteindruck.
Deshalb war Hearn zuversichtlich, dass es ihm gelingen würde, Läszlo Molnar ins Gespräch zu ziehen, als er nun an ihn herantrat.
«Entschuldigen Sie bitte«, sagte Hearn in seinem bescheidensten Tonfall.»Als Opernliebhaber habe ich mich gefragt, ob Sie auch einer sind.«
Molnar hatte sich umgedreht. Er trug einen ArmaniSmoking, der seine breiten Schultern betonte und seinen Schmerbauch geschickt kaschierte. Seine sehr großen Ohren waren aus der Nähe noch stärker behaart, als Hearn angenommen hatte.»Ich bin ein großer Freund der Oper«, sagte er langsam und leicht misstrauisch, wie Hearns geübtes Gehör ihm verriet. Hearn setzte sein charmantestes Lächeln auf und erwiderte den prüfenden Blick aus den dunklen Augen des anderen ganz unbefangen.»Ehrlich gesagt«, fuhr Molnar anscheinend beruhigt fort,»hat sie mich völlig in ihren Bann geschlagen.«
Das passt genau zu dem, was Spalko gesagt hat, dachte Hearn.»Ich habe ein Abonnement«, sagte er in seiner ungekünstelten Art.»Ich habe es seit einigen Jahren, und da ist mir natürlich aufgefallen, dass Sie auch eines haben. «Er lachte halblaut.»Ich kenne leider nicht allzu viele Opernfreunde. Meine Frau ist ein Jazzfan.«
«Meine hat die Oper geliebt!«
«Sie sind geschieden?«
«Witwer.«
«Oh, tut mir Leid.«
«Das ist schon länger her«, sagte Molnar, der etwas auftaute, seit er diese Tatsache preisgegeben hatte.»Sie fehlt mir so sehr, dass ich’s nie über mich bringen konnte, ihren Platz einer anderen zu überlassen.«
Hearn streckte ihm die Rechte hin.»Ethan Hearn.«
Nach kaum merklichem Zögern ergriff Molnar sie mit seiner behaarten Pranke.»Laszlo Molnar. Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Hearn machte eine höfliche kleine Verbeugung.»Darf ich Sie einladen, eine Schokolade mit mir zu trinken, Herr Molnar?«
Dieser Vorschlag schien dem anderen zu gefallen, denn er nickte.»Danke, sehr gern. «Während sie durchs Gedränge unterwegs waren, tauschten sie sich über ihre Lieblingsopern und Lieblingskomponisten aus. Da Hearn dafür gesorgt hatte, dass Molnar anfing, konnte er jetzt sicherstellen, dass es viele Gemeinsamkeiten gab. Auch das gefiel Molnar. Wie schon Spalko bemerkt hatte, hatte Hearn etwas Offenes und Aufrichtiges an sich, das auch sehr misstrauische Menschen beeindruckte. Der junge Mann besaß das Talent, sogar in unnatürlichsten Situationen natürlich zu wirken. Seine scheinbar naive Aufrichtigkeit beeindruckte Molnar und lullte seinen sonst sehr wachen Argwohn ein.
«Gefällt Ihnen die heutige Vorstellung?«, fragte er, als sie ihre heiße Schokolade schlürften.
«Sehr sogar«, antwortete Hearn.»Aber Hdry Jdnos ist so voller Emotionen, dass ich gestehe, dass ich noch mehr davon hätte, wenn ich die Gesichter der Hauptdarsteller besser sehen könnte. Leider konnte ich mir damals, als ich das Abonnement angefangen habe, keinen besseren Platz leisten, und heutzutage ist’s unmöglich, einen besseren zu bekommen.«
Als Molnar nicht gleich reagierte, fürchtete Hearn schon, er werde diese Chance verstreichen lassen. Dann sagte der Ungar, als sei ihm das gerade eingefallen:»Darf ich Ihnen den Platz meiner Frau anbieten?«
«Hör zu«, sagte Hassan Arsenow.»Wir müssen die Reihenfolge der Ereignisse, die uns die Freiheit sichern werden, nochmals durchgehen.«
«Aber die kenne ich so gut, wie ich dein Gesicht kenne«, protestierte Sina.
«Gut genug, um unser Ziel mit verbundenen Augen zu erreichen?«
«Mach dich nicht lächerlich«, spottete sie.
«Auf Isländisch, Sina. Wir sprechen jetzt nur noch Isländisch.«
Auf dem großen Schreibtisch in ihrem Hotelzimmer waren detaillierte Pläne des Hotels Oskjuhlid in Reykjavik ausgebreitet. Das behagliche Licht der Schreibtischlampe enthüllte sämtliche Stockwerke des Hotels von den Fundamenten über Sicherheits-, Sanitär-, Heizungsund Belüftungsanlagen bis hin zu den Stockwerksplänen. Alle übergroßen Blaupausen waren mit zahlreichen Anmerkungen, Richtungspfeilen und Farbmarkierungen versehen, die genau bezeichneten, welche zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen die an dem Terrorismusgipfel teilnehmenden Staaten ergriffen hatten. Spalkos Informationen waren bewundernswert detailliert und vollständig.
«Nachdem wir ins Hotel eingedrungen sind«, sagte Ar-senow,»bleibt uns nur sehr wenig Zeit, unseren Auftrag auszuführen. Das Schlimme ist, dass wir nicht wissen, wie wenig Zeit wir haben, bis wir die Verhältnisse bei einem Probelauf erkundet haben. Das macht es umso wichtiger, dass es kein Zögern, keinen Fehler geben darf keine einzige falsche Bewegung!«Seine schwarzen Augen glühten vor Eifer. Er führte Sina an die Rückwand des Zimmers und verband ihr dort mit einem ihrer Seidenschals die Augen. Den Schal verknotete er so fest, dass sie nichts mehr sehen konnte.
«Wir haben soeben das Hotel betreten. «Er ließ ihren Arm los.»Ich möchte jetzt, dass du unsere Route abschreitest. Ich stoppe dabei deine Zeit. Also los!«
Gut zwei Drittel der umständlichen Route legte sie fehlerfrei zurück, aber an einer Stelle, wo ein Korridor sich verzweigte, ging sie nach links statt nach rechts.
«Du bist erledigt«, sagte er schroff, als er ihr die Augenbinde abriss.»Selbst wenn du deinen Fehler korrigieren würdest, könntest du das Ziel nicht mehr rechtzeitig erreichen. Sicherheitskräfte — Amerikaner, Russen oder Araber — würden dich einholen und erschießen.«
Sina zitterte vor Wut über sich selbst — und über ihn.
«Dieses Gesicht kenne ich, Sina«, sagte Hassan.»Bezähme deinen Zorn. Gefühle beeinträchtigen die Konzentration, die du jetzt brauchst. Sobald du den Weg mit verbundenen Augen findest, ohne einen einzigen Fehler zu machen, sind wir für heute Abend fertig.«
Eine Stunde später, als ihr Auftrag ausgeführt war, sagte Sina:»Komm ins Bett, Liebster.«
Arsenow, der jetzt nur einen einfachen Hausmantel aus leichtem schwarzem Musselin mit Bindegürtel trug, schüttelte den Kopf. Er stand an dem riesigen Fenster und blickte auf das wie Diamanten glitzernde nächtliche Budapest hinaus, das sich im dunklen Wasser der Donau spiegelte.
Sina räkelte sich nackt auf der leichten Daunendecke und lachte ihr kehliges leises Lachen.»Hassan, fühl nur. «Sie ließ eine Hand mit langen gespreizten Fingern über das Bettlaken gleiten.»Reine ägyptische Baumwolle, herrlich luxuriös!«
Hassan drehte sich mit missbilligend gerunzelter Stirn zu ihr um.»Das ist’s gerade, Sina. «Er zeigte auf die halb leere Flasche auf dem Nachttisch.»Cognac Napoleon, weiche Bettwäsche, Daunendecken. Solcher Luxus ist nichts für uns.«
Sina riss die Augen auf. Sie verzog ihre vollen Lippen zu einem Schmollmund.»Und warum nicht?«
«Ist die Lektion, die du vorhin gelernt hast, bei einem Ohr rein und beim anderen raus gegangen? Weil wir Krieger sind, weil wir allem weltlichen Besitz entsagt haben.«
«Hast du auf deine Waffen verzichtet, Hassan?«
Er schüttelte den Kopf; sein Blick war hart und kalt.»Unsere Waffen erfüllen einen Zweck.«
«Diese weichen Dinge erfüllen auch einen, Hassan. Sie machen mich glücklich.«
Er stieß einen rauen Kehllaut aus: knapp und verächtlich.
«Ich will diese Dinge nicht besitzen, Hassan«, sagte Sina heiser,»sondern nur für ein oder zwei Nächte genießen. «Sie streckte eine Hand nach ihm aus.»Kannst du deine eisernen Regeln nicht mal für ein paar Stunden vergessen? Wir haben heute beide hart gearbeitet; wir haben uns ein wenig Entspannung verdient.«
«Sprich für dich selbst. Mich kann Luxus nicht verführen«, sagte Arsenow knapp.»Mich widert’s an, dass du ihm verfällst.«
«Ich glaube nicht, dass ich dich anwidere. «Sie hatte in seinem Blick etwas gesehen: eine Art Selbstverleugnung, die sie fälschlicherweise für das Urgestein seines streng asketischen Wesens hielt.
«Also gut«, sagte sie,»ich zerschlage die Cognacflasche und übersäe das Bett mit Glassplittern, wenn du nur zu mir kommst.«
Sie richtete sich auf und rutschte auf den Knien an die Bettkante vor, sodass ihre in goldenes Lampenlicht getauchten Brüste provozierend schaukelten.»Das ist mein voller Ernst. Weshalb sollte ich dir widersprechen, wenn du den Wunsch hast, auf einem Schmerzenslager zu ruhen, während wir uns lieben?«
Arsenow stand lange da und blickte auf sie hinab. Er kam nicht auf die Idee, sie könnte ihn womöglich verspotten.»Das verstehst du nicht. «Er trat einige Schritte näher an sie heran.»Unser Weg ist vorgezeichnet. Für uns gibt’s nur den tariqat, den spirituellen Pfad zu Allah.«
«Stör mich nicht, Hassan. Ich denke weiter an Waffen. «Sie packte eine Hand voll Musselin und zog ihn daran zu sich her. Ihre ausgestreckte andere Hand streichelte sanft den Verband um seinen Oberschenkeldurchschuss. Dann glitt ihre Hand höher.
Ihr Liebesspiel war wild wie ein Nahkampf. Es entstand ebenso aus dem Wunsch, den anderen zu verletzen, wie aus sexueller Gier. Ob Liebe bei ihrem heftigen Ringen, Stöhnen und Sich-Ergießen eine Rolle spielte, war sehr zweifelhaft. Weil er sich insgeheim danach sehnte, auf das Bett aus Glasscherben, von dem Sina im Scherz gesprochen hatte, geworfen zu werden, leistete er Widerstand, als ihre Fingernägel zugriffen, sodass sie fester zupacken, ihm die Haut ritzen musste. Anschließend war er grob genug, um sie so zu provozieren, dass sie die Zähne bleckte und in seine starken Schulter-, Brust- und Armmuskeln biss. Erst als die Schmerzen stärker als seine Lust zu werden drohten, verflog das seltsame halluzinatorische Gefühl, das ihn einhüllte, ein wenig.
Arsenow musste dafür bestraft werden, was er Chalid Murat, seinem Landsmann, seinem Freund, angetan hatte. Dass er lediglich getan hatte, was seinem Volk Überleben und Wohlstand sicherte, war keine Entschuldigung. Wie oft hatte er sich schon eingeredet, Chalid Murat sei auf dem Altar von Tschetscheniens Zukunft geopfert worden? Und trotzdem wurde er wie ein Sünder, wie ein Ausgestoßener von Zweifeln und Ängsten verfolgt, hatte eine grausame Strafe verdient. Aber war das bei Propheten nicht eigentlich immer so, fragte er sich während des kleinen Todes, der dem Orgasmus folgt. Waren seine Seelenqualen nicht ein weiterer Beweis dafür, dass er den rechten Weg gewählt hatte?
Sina ruhte, neben ihm liegend, in seinen Armen. Sie hätte kilometerweit von ihm entfernt sein können, obwohl sie in gewisser Weise ebenfalls mit Propheten beschäftigt war. Oder genauer gesagt mit einem Propheten. Dieser moderne Prophet hatte ihre Gedanken beherrscht, seit sie Hassan ins Bett gelockt hatte. Sie hasste ihn dafür, dass er den Luxus, der sie umgab, nicht genießen konnte, und als er sie an sich zog, war’s nicht er, an den sie dachte, und als er in sie eindrang, war’s nicht er, sondern Stepan Spalko, für den sie gurrte. Und als sie sich kurz vor dem Höhepunkt auf die Unterlippe biss, geschah das nicht aus Leidenschaft, sondern weil sie fürchtete, sie könnte Spalkos Namen schreien. Genau das hätte sie am liebsten getan — und wenn’s nur gewesen wäre, um Hassan ins Herz zu treffen, denn sie zweifelte keinen Augenblick daran, dass er sie liebte. Seine Liebe erschien ihr tumb und unwissend, eine infantile Regung wie die eines Säuglings, der nach der Mutterbrust tastet. Was er von ihr ersehnte, waren Schutz und Wärme, die vorübergehende Rückkehr in den Mutterschoß. Von dieser Art Liebe bekam sie eine Gänsehaut.
Aber wonach sie sich sehnte…
Ihre Gedanken erstarrten, als er sich leise seufzend an sie drängte. Sie hatte geglaubt, er schlafe, aber das tat er nicht — oder er war von irgendetwas aufgewacht. Da sie sich jetzt wieder um seine Wünsche kümmern musste, hatte sie keine Zeit mehr für eigene Gedanken. Sie roch seinen männlichen Geruch, der wie Morgennebel aufstieg, und hörte, wie seine Atmung sich leicht beschleunigte.
«Ich hab darüber nachgedacht«, flüsterte er,»was es bedeutet, ein Prophet zu sein, und ob unser Volk mich eines Tages so nennen wird.«
Sie sagte nichts, weil sie wusste, dass sie jetzt schweigen, nur zuhören sollte, während er sich unsicher tastend auf dem gewählten Pfad weiterbewegte. Dies war seine Schwäche, die einzige, die außer ihr niemand kannte, die einzige, die er sich nur ihr gegenüber anmerken ließ. Sina fragte sich, ob Chalid Murat clever genug gewesen war, um diese Schwäche zu erahnen. Sie war sich fast sicher, dass Stepan Spalko sie sofort erkannt hatte.
«Der Koran lehrt, dass jeder unserer Propheten die Inkarnation einer Eigenschaft Gottes ist«, fuhr Arsenow fort.»Moses verkörpert den übersinnlichen Aspekt der Realität, weil er mit Gott sprechen konnte, ohne einen Mittelsmann zu brauchen. Im Koran sagt Gott zu Moses: >Fürchte dich nicht, du bist übernatürliche Jesus ist die Verkörperung der Prophetengabe. Als Kind hat er ausgerufen: >Gott hat mir das Buch gegeben und mich als Propheten eingesetzt.<
Aber Mohammed ist die spirituelle Inkarnation und Manifestation aller Namen Gottes. Er selbst hat gesagt: >Was Gott als Erstes schuf, war mein Licht. Ich war ein Prophet, als Adam noch zwischen Wasser und Erde war.<«
Sina wartete einige Herzschläge lang, um sicher zu sein, dass er zu predigen aufgehört hatte. Mit einer Hand auf seiner sich langsam hebenden und senkenden Brust fragte sie dann, was er zweifellos von ihr erwartete:»Und was ist deine göttliche Eigenschaft, mein Prophet?«
Arsenow drehte den Kopf zur Seite, um sie ganz sehen zu können. Die Lampe hinter ihr tauchte den größten Teil ihres Gesichts in Schatten, ließ nur einen lichten Streifen vom Wangenknochen bis zum Kinn wie einen meisterhaften Pinselstrich hervortreten. Er ertappte sich wieder einmal bei einem Gedanken, den er meistens unterdrückte und sich selbst nicht eingestehen wollte. Er wusste nicht, was er ohne Sinas Kraft und Vitalität hätte tun sollen. Für ihn verkörperte ihr Leib die Unsterblichkeit; er war die heilige Stätte, aus der seine Söhne hervorgehen würden, damit sein Geschlecht bis in alle Ewigkeit fortbestand. Aber er wusste auch, dass dieser Traum nur mit Spalkos Hilfe Wirklichkeit werden konnte.»Ah, Si-na, wenn du nur wüsstest, was der Scheich für uns tun wird, zu welcher Bedeutung er uns verhelfen wird.«
Sie ließ die Wange auf ihrem angewinkelten Arm ruhen.»Erzähl’s mir.«
Aber er schüttelte den Kopf. Um seine Mundwinkel spielte ein schwaches Lächeln.»Das wäre ein Fehler.«
«Wieso?«
«Weil du ohne Vorwarnung selbst sehen musst, wie verheerend die Waffe wirkt.«
Als sie jetzt prüfend in Hassans Augen sah, empfand sie tief in ihrem Innersten, in das sie nur selten zu blicken wagte, einen kalten Schauder. Vielleicht spürte sie eine Vorahnung der schrecklichen Kraft, die in drei Tagen in Nairobi freigesetzt werden würde. Aber mit der Hellsichtigkeit, die Liebenden manchmal vergönnt ist, begriff sie, dass ihn hauptsächlich die Angst interessierte, die diese Todesart — um welche es sich auch handeln mochte — hervorrufen würde. Er wollte Angst einsetzen, das war klar. Angst als Schwert der Rache, mit dem die Tschetschenen alles zurückgewinnen würden, was sie in Jahrhunderten der Demütigung, Vertreibung und des Mordens verloren hatten.
Mit Angst stand Sina seit frühester Kindheit auf vertrautem Fuß. Ihr Vater, schwach und an der Verzweiflung sterbend, die wie Mehltau auf Tschetschenien lag, hatte einst seine Familie versorgt, wie es jeder Tschetschene tat, aber jetzt durfte er sich nicht einmal auf der Straße zeigen, weil die Russen ihn sonst verhaftet hätten. Ihre Mutter, einst eine schöne junge Frau, war in ihren letzten Jahren ein schmalbrüstiges altes Weib mit schütterem Haar, schlechten Augen und Gedächtnislücken gewesen.
Kam Sina nach einem langen Tag, den sie damit verbracht hatte, etwas Essbares aufzutreiben, nach Hause, musste sie drei Kilometer zur nächsten öffentlichen Wasserstelle gehen, ein bis zwei Stunden anstehen und anschließend den vollen Eimer nach Hause tragen und fünf Treppen hoch in ihr schmuddeliges Zimmer hinaufschleppen.
Dieses Wasser! Manchmal schreckte sie noch heute würgend hoch, weil sie den grässlichen Terpentingeschmack zu schmecken glaubte.
Eines Abends hatte ihre Mutter sich hingesetzt und war nicht wieder aufgestanden. Sie war achtundzwanzig, sah aber wie sechzig aus. Von den ständig brennenden Ölfeuern war ihre Lunge voller Teer. Als Sinas kleiner Bruder über Durst klagte, hatte die alte Frau zu ihr aufgesehen und gesagt:»Ich kann nicht aufstehen. Nicht mal, um ihm zu trinken zu geben. Ich kann nicht mehr. «
Sina verdrehte den Rumpf, machte einen langen Arm und knipste die Lampe aus. Zuvor unsichtbarer blasser Mondschein füllte den Fensterrahmen. Wo ihr Oberkörper sich zur schmalen Taille hin verengte, beleuchtete ein schräg übers Bett fallender Streifen Mondlicht eine Brustwarze. Darunter, unter der hohen Wölbung, lag Hassans Hand. Außerhalb dieses Streifens war das Zimmer dunkel.
Sie lag lange mit offenen Augen da, horchte auf Hassans regelmäßiges Atmen und wartete darauf, dass der Schlaf auch zu ihr kam. Wer kennt das Gewicht von Angst besser als wir Tschetschenen? fragte sie sich. Auf Hassans Gesicht stand die ganze traurige Geschichte seines Volkes eingegraben. Was kümmerte ihn Tod, was kümmerte ihn Verderben, wenn er nur Rache für Tschetschenien nehmen konnte! Und mit vor Verzweiflung schwerem Herzen wusste Sina, dass die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit geweckt, auf ihre Heimat konzentriert werden musste. Das ließ sich heutzutage nur mit einer Methode erreichen. Sie wusste, dass Hassan Recht hatte: Der Tod musste auf bis dahin unvorstellbare Weise kommen, aber welchen Preis sie alle dafür würden zahlen müssen, konnte sie sich in keiner Weise vorstellen.