15 Glühende Schlangen

In der ungewöhnlichen Situation eiskalt denken zu können, das ist oft der letzte und einzige Ausweg. Oft ist es auch der einfachste, besonders wenn man die Waffen der Gegner gegeneinander richtet.

Kai setzte den Diamantbohrer an. Die Vibration pflanzte sich durch den Schutzanzug fort und drang als leises Knirschen an sein Ohr.

»Wieviel Zeit wirst du brauchen?« fragte Ben.

»... Wand besteht aus Iridium«, antwortete Kai. »... ist nicht besonders hart. Ich schätze zehn Minuten.«

Ben blickte unruhig umher. Sie befanden sich auf dem der Zwillingssonne abgewandten Teil der Raumstation, doch vom Planeten her kam mildes Licht und erhellte die glatte, leicht gewölbte Oberfläche des diskusähnlichen Körpers. Er bewegte sich so schnell, daß Ben deutlich die scheinbare Bewegung der Sterne beobachten konnte. Bevor sie hinter der Planetenkugel verschwanden, begannen sie zu flimmern und zerliefen schließlich zu Reflexstreifen – ein Effekt der dichten Wasserstoffatmosphäre.

Das Aggregat arbeitete ruhig und gleichmäßig. Die Diamantspitze des Bohrers fraß sich in das Metall, einen Kranz von Spänen um sich verbreitend.

»Hoffentlich hören sie uns nicht«, befürchtete Kai. »In wenigen Minuten bin ich durch. In diesem Augenblick wird der Wasserstoff entweichen, und unsere lieben Freunde werden betäubt. Es dürfte ihnen —«

In diesem Moment schrie Ben auf. Kai sah sich um und erkannte die Gefahr. Über das Metall liefen zwei etwa drei Meter lange, weißglühende Streifen und näherten sich rasch. Die beiden Freunde wichen zurück, doch die Bänder folgten ihnen. Es waren keine Körper, die sich über die Oberfläche bewegten, sondern die metallene Wand begann selbst zu glühen, und diese Glut folgte ihnen. Wie Schlangen wand sie sich den Flüchtenden nach.

Zuerst war es leicht, den Glutstreifen zu entgehen. Ihre Geschwindigkeit war nicht groß. Aber die Bewegung im Schutzanzug war beschwerlich und die Elektretsohlen hafteten fest am Boden. Ben gab ein Zeichen von Schwäche – er ließ das Meßaggregat fallen. Zwei Sekunden später hatte es der weißstrahlende Streifen erreicht. Es glühte kurz auf, einen Augenblick lang schien es durchsichtig zu sein, dann sank es zu einer verquollenen Masse zusammen.

In wirren Bahnen bewegten sich die beiden Menschen über die metallene Wand des Satelliten, unerbittlich von der Glut verfolgt. Bens Hirn arbeitete fieberhaft. Er wußte, daß er nicht mehr lange standhalten konnte. Dann kam ihm eine Idee.

»Komm in meine Nähe, Kai!« rief er. Und dann lief er auf diesen zu... hinter ihm vorbei... schlug einen Haken... näherte sich dem Band, das hinter Kai herstrich, und sprang darüber hinweg. Dann hielt er erschöpft an.

Nach einer Weile wandte sich Kai um und sah Ben am Boden sitzen, er sah aber auch, daß hinter ihm keine Glutschlange mehr herkroch. Die strahlenden Streifen waren noch da, aber sie bewegten sich nicht mehr.

»... hast du gemacht?« stieß er zwischen hastigen Atemstößen hervor.

»Bitte bohre weiter«, bat Ben. »... haben keine Zeit zu verlieren.«

Der Bohrer stak noch unbeschädigt im Loch. Kai ließ ihn wieder surren.

»Iridium schmilzt bei zweitausendvierhundertvierzig Grad«, erklärte Ben. »Da sich das Metall in Weißglut befand, mußte es mindestens eintausendachthundert Grad haben. Ich dachte, wenn es mir gelingt, die beiden Streifen übereinanderlaufen zu lassen, dann summiert sich am Kreuzpunkt die Wärmeenergie, das Metall wird flüssig, durch den Innendruck entweicht der Wasserstoff, und die Besatzung ist lahmgelegt. Darum bin ich zwischen dir und dem Band durchgelaufen. Die Glutstreifen kreuzten sich aber nicht, sondern deiner stand still. Also muß eine Automatik dafür eingesetzt sein, die das Übereinanderlaufen verhindert. Somit konnte, ich aber auch meinen Streifen aufhalten, indem ich ihn vor den andern führte. Darum bin ich sofort umgekehrt, auf den Streifen hinter dir zugerannt und darüber gesprungen. Jetzt waren beide blockiert. Das war ganz einfach.«

Kai nickte nur. Er stemmte den Bohrer gegen das Bodenmetall. Lange Minuten vergingen. Auf einmal wurde der Bohrer aus seiner Hand gerissen und flog in den Raum hinaus.

»... ist geschehen?« fragte Ben erschrocken.

»... brauchen ihn nicht mehr«, beruhigte ihn Kai. »... bin durchgekommen. Der entweichende Wasserstoff nahm ihn mit. Wir können die Station ohne Gefahr betreten.«

Er sah zu den beiden gekrümmten Streifen hin, deren Farbe von Weiß über Orange in Rot überging und immer dunkler wurde, bis nichts mehr zu sehen war. Eilig folgte er dann Ben, der zur Sonnenseite der Station hinüberging, wo ihre Eingangsöffnung lag.

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