Oft sind es einfache Dinge, die uns daran erinnern, daß die Ungewißheit ständig neben uns steht. Ist die Welt symmetrisch? Das ist ein Problem der modernen Physik. Aber sie ist zugleich eine uralte Frage. Jeder Spiegel stellt sie. Vielleicht rankt sich gerade darum so viel mißtrauischer Aberglaube um den Spiegel, der uns in eine imaginäre verdrehte Welt einführt.
Für mich ist ein Spiegel immer etwas Unheimliches. Dieser Mensch, der mir daraus entgegensieht, der ich selbst bin und doch wieder nicht bin! Ich ertrage das einfach nicht.
Du schüttelst den Kopf, und ich verstehe das. Was hätte es auch für einen Sinn, diese alte Geschichte zu erzählen? Doch warum auch nicht. Schließlich will ich nicht, daß du mich für einen verschrobenen Kauz hältst.
Damals war ich bei den Eltern meiner Braut auf längere Zeit zu Besuch. Ja, ich hatte einmal eine Braut. Du weißt, mein Vater war ein angesehener Hamburger Kaufmann. Er hätte es gerne gesehen, wenn Eleonore meine Frau geworden wäre, und wir verlobten uns, bevor wir uns richtig kannten. Richtig zu lieben begann ich sie eigentlich erst während meines Lübecker Aufenthaltes. Sie war zart und scheu wie ein Vogel, man mußte sie behüten wie zerbrechliches Porzellan.
Ich merkte bald, daß sie irgendeinen großen Kummer hatte. Dieses weite, dunkle Haus mit den gebauschten Seidenvorhängen und den dicken Perserteppichen, die jeden unbekümmerten Laut erstickten, war wie geschaffen für drückende Geheimnisse und still geduldeten Gram. Das war nicht die richtige Umgebung für ein junges Wesen, das Anspruch darauf hatte, unbeschwert in die Welt zu sehen. Man hätte diese ewig geschlossenen Fenster aufreißen müssen, frische Luft hereinlassen in die Zimmer und Treppenhäuser mit ihren unzähligen Bildern, Uhren und Vasen.
Da ich gerade dabei bin, die Räume zu beschreiben, muß ich auch den Spiegel erwähnen. Er stand am Ende des Korridors im ersten Stock und nahm fast die ganze Schmalseite des Raumes ein. Wenn man von der Treppe kam und in den Speisesaal wollte, dann war im Dämmerlicht nicht gleich zu erkennen, daß der Gang mit dem Spiegel schloß. Immer hatte man den Eindruck, es käme einem jemand entgegen, und erst später erkannte man seinen imaginären Doppelgänger aus dem seitenverkehrten Reich hinter der versilberten Scheibe. Der Spiegel sollte schon einmal eine Rolle in der Familiengeschichte Eleonores gespielt haben – man munkelte im Haus, daß die Ahnherrin des Geschlechtes eines Tages vor Gram in den Spiegel gegangen und nicht wieder zum Vorschein gekommen wäre. Aber das erfuhr ich erst später.
Was wolltest du sagen? Ach ja, der Kummer Eleonores. Schließlich bin ich ihm doch auf die Spur gekommen.
Du weißt, wie religiös die alteingesessenen Kaufmannsgeschlechter waren. Auch Eleonore ist zu solcher Frömmigkeit erzogen worden, wenn ich auch äußerlich nichts davon merkte, selbst als wir uns während meines Besuches näher und näher kamen. Aber ich spürte, daß etwas unser Glück trübte, und drängte Eleonore immer wieder, zu mir doch Vertrauen zu fassen. Endlich gab sie meinen Bitten nach und erzählte mir alles:
Als Kind erkrankte sie einmal schwer – Kopfgrippe. Es war so schlimm, daß der Arzt an ihrer Genesung zweifelte. Damals gelobte ihre Mutter, sie ins Kloster zu schicken, wenn sie wieder gesund würde. Und als geschähe ein Wunder – sie wurde tatsächlich gesund.
Lange Zeit hat niemand mehr an diese Ereignisse gedacht. Doch seit unserer Verlobung spricht ihre Mutter wieder oft davon.
»... glaubte, daß ich wirklich ins Kloster müßte«, sagte Eleonore unter Schluchzen und klammerte sich verzweifelt an mich, »aber seit du da bist, weiß ich, daß ich es nicht kann!«
So gut es ging, suchte ich sie zu beruhigen, es gelang mir auch einigermaßen, aber immer wieder flackerten Zweifel in ihr auf.
Ich glaubte, daß eine baldige Hochzeit das einzige Mittel wäre, um diese Gedanken zu verscheuchen, und drang darauf, einen festen Termin anzusetzen. Und so geschah es auch – bei einer kleinen Feier sollte alles besiegelt werden.
Eleonore war die Tage davor stiller und nachdenklicher als sonst. Ich sah es mit steigender Beunruhigung – und konnte doch nichts dagegen tun. Zu dieser Zeit erzählte mir Eleonore die Sage vom Spiegel. In Gedanken versunken, hatte ich sie vor ihm gefunden, ihre Finger tasteten am blanken Glas, und sie erwähnte noch, daß man nicht zögern dürfe, sondern entschlossen und mutig in das Reich eintreten müsse, zu dem der Spiegel die Pforte sei. Hätte ich diese Worte doch ernster genommen!
Als ich am Tag der Feier mit den Eltern meiner Braut und einigen Gästen beisammen stand und auf Eleonore wartete, schreckten uns ein jäh auftönendes lautes Klirren und ein dumpfer Schlag auf. Ich rannte auf den Korridor und fand Eleonore. Mit geschlossenen Augen lag sie vor dem Spiegelrahmen, in dem nur mehr wenige Scherben steckten – die anderen lagen auf dem Boden verstreut. Das weiße Kleid war von roten Flecken durchzogen, Blut, das aus vielen Schnitten in Eleonores Haut floß... Wir trugen sie ins Zimmer und versuchten, das Blut zu stillen. Es gelang schließlich, aber die Ohnmacht hielt weiter an. Drei Tage hindurch war der Arzt fast ständig im Haus, erst nach einer Woche konnte sie wieder sprechen. Doch sie wußte nichts mehr vom Vergangenen. Ganz erstaunt sah sie mich an, wenn ich sie daran erinnerte, daß sie einst mir gehören sollte.
Nun, wie du weißt, habe ich nie geheiratet. Und ich habe recht daran getan. Selbst, wenn ich sie noch hätte umstimmen können. Denn dieses Mädchen war nicht mehr meine Eleonore. Das war ein fremdes, unheimliches Wesen, das aus dem Spiegel gekommen ist. Die richtige Eleonore ist in der Welt der Spiegel gefangen, der Rückweg ist ihr verschlossen, das Tor versperrt. Ich sah sie noch gelegentlich, wenn ich – was ich früher oft tat – stundenlang vor einem Spiegel saß. Dann tauchte sie plötzlich im Hintergrund auf und nickte mir traurig zu. Heute dulde ich keinen Spiegel mehr in meiner Wohnung.
Du meinst, das sei nur Einbildung? Nein, nein, mein Lieber, ich habe nichts behauptet, was ich nicht beweisen kann. Hör zu! Eleonore war Rechtshänderin wie du und ich. Ich habe das Mädchen, das nach der Ohnmacht erwacht ist, beim Schreiben gesehen – sie schrieb mit der Linken.
Genügt dir das?