31 Die Raupen

Die chemische Zusammensetzung der Luft unterschied sich kaum merklich von der der Erde. Aber auch winzige Abweichungen können entscheidende Verschiebungen in biologischen Abläufen mit sich bringen.

Das war Land, wie er es sich immer erträumt hatte. Wiesen von saftigem Grün, weite gefurchte Äcker, auf denen schwarze Erde zutage trat. Wälder aus Nadelbäumen, deren Wipfel sich im Wind wiegten. Nur selten sah man einen Menschen.

John konnte nicht verstehen, warum um diesen Planeten eine strenge Nachrichtensperre verhängt war. Wer einwanderte, durfte nie mehr zurück.

Sie standen am Fenster des Zwischendecks. Einen Arm hatte er um Anns Schulter gelegt. Das Schiff änderte jetzt seine Höhe nicht mehr. Die Landschaft glitt unter ihnen vorbei, immer gleich fruchtbar, immer gleich grün. Eine Farm kam in Sicht.

Beide dachten an die Erde mit ihren Riesenstädten, ihren schwebenden Wohnblocks, den mehrstöckigen hydroponischen Gärten, den Menschenmassen, denen man niemals entrinnen konnte.

Sie hätten sehr zufrieden sein können. Sie besaßen eine eigene kleine Wohnung, die Arbeit machte ihnen mehr Freude als Mühe, und die Leute der Farm verhielten sich freundlich. Die Anziehungskraft war fast dieselbe wie auf der Erde, und daß die Zusammensetzung der Luft von der gewohnten abwich, wußten sie nur aus Büchern. Es schien sich auf ihr körperliches Befinden nicht auszuwirken. Sie fühlten sich wohl. Und doch war etwas um sie, das sie nicht nennen konnten, etwas Geheimnisvolles, das man ihnen vorenthielt. Es war nicht nur das, daß sie das obere Stockwerk nicht betreten durften. Es lag auch an Gesprächen, die plötzlich verstummten, an Blicken, die ihnen nachwanderten.

Am Morgen des dritten Tages kamen die Raupen. John erwachte, weil ihn Ann wild an der Schulter rüttelte. Vor ihr auf der Bettdecke kroch etwas. Ein hellgrauer Körper pulsierte. Zwei knopfartige grüne Augen veränderten ständig ihre Richtung. Eine riesige, dicke Raupe, gut 40 cm lang. Und neben dem Schrank bewegte sich noch eine. John griff nach einem Stiefel und wollte auf das Wesen einschlagen. Da flog die Tür auf und der Farmer stürzte herein. Er schleppte einen Korb, hob die eine Raupe vorsichtig von der Bettdecke, die andere vom Fußboden, setzte sie hinein und verließ, ohne das Paar eines Blickes zu würdigen, den Raum.

John grübelte unablässig über das Erlebnis nach. Auf seine Fragen erhielt er Antworten, die keine Aufklärung gaben. Er tat, als wäre er damit zufrieden. Aber in der Mittagspause schlich er zum zweiten Stockwerk empor. Er fand ein Zimmer, in dem längs der Wand kleine Nester angeordnet waren. Auf jedem räkelte sich eine Raupe, einige klein, andere größer als die beiden vom Morgen.

John ging weiter. Er stand vor einer Tür, die versperrt war. Er steckte sein zusammengedrehtes Taschentuch durch den Bügel des Vorhängeschlosses und riß ruckartig daran. Das Schloß sprang auf, er öffnete die Tür. Es war ein kleiner Raum. Und fast leer. Nur in einer Ecke hing ein sackartiger Körper – der zusammengekrümmte, von weißem Gewebe umsponnene, aufgequollene Leib einer Raupe. John sah von Zeit zu Zeit ein Zucken darüber weglaufen. Dann glitt die graue Haut zentimeterweise, von längeren Pausen unterbrochen, hinunter, bis sie ganz abgestreift war und zu Boden fiel. Übrigblieb ein Bündel in Tropfenform, von einer matten, aber gut durchsichtigen Hülle zusammengehalten. Darin lag, zusammengekrümmt, leise zuckend und rosig, der Körper eines Kindes.

John ging weiter seiner Arbeit nach. Aber sie bereitete ihm keine Freude mehr. Auf die Fragen seiner Frau antwortete er ausweichend. Er dachte an die Grottenolme, die bei Temperaturen über vier Grad lebende Junge zur Welt bringen, bei Temperaturen darunter Eier legen. Ein Stamm von intelligenten Olmen, der seit Generationen in warmem Klima lebt, wüßte nur von den lebenden Jungen. So ähnlich erklärte er es sich. Wie aber sollte er es Ann beibringen?

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