16 In der grauen Burg

Es gibt einen ausgezeichneten Punkt im Zeitablauf: die Gegenwart. Alles diesseits davon ist Vergangenheit, alles jenseits davon Zukunft.

Liegt das in der Natur der Zeit? Oder ist es bloß eine Beschränktheit im menschlichen Erleben? Vielleicht gibt es Verschiebungen, obwohl wir uns die Ursachen heute noch nicht erklären können.

An jenem diesigen Herbstnachmittag fiel mir nichts Besseres ein, als die ›Graue Burg‹ von Kaupp zu besuchen, eine der wenigen noch unversehrt erhaltenen Wasserburgen des Landes, in dem ich meinen späten Urlaub verbrachte. Ich kann nicht behaupten, daß mich diese leeren Gänge, öden Säle und staubigen Stiegen tief beeindruckt hätten. Etwas gelangweilt lief ich mit den anderen Leuten hinter dem Verwalter her und lauschte mit halbem Ohr seinen Erklärungen.

In einer langgestreckten düsteren Halle hielten wir uns etwas länger auf. An den Wänden hingen Gemälde von bärtigen Männern mit unfreundlichen Gesichtern, in den unübersichtlichen Winkeln und Nischen des Raumes standen Rüstungen herum, die bei jedem Schritt zu klirren begannen. Als ich mir diese unförmigen Blechgebilde näher ansah, bemerkte ich in einer finsteren Ecke eine schmale Pforte. Ich warf einen Blick zu den anderen Besuchern. Sie drängten sich um den Führer, der keine Miene machte, seine Ausführungen zu beenden. Kurz entschlossen trat ich über die Schwelle.

Ein schmaler, hoher Gang nahm mich auf, feuchtkalter Luftzug ließ mich frösteln... Es roch nach Staub und Moder. An meinen Füßen plätscherte es... Mir fiel auf, daß ich in einer Pfütze stand, und ich schritt rasch weiter. Es ging abwechselnd treppauf und treppab, bald war es fast völlig dunkel, bald fiel bläuliches Licht von irgendwo oben ein... Endlich kam ich in einen Saal, von dem mehrere Türöffnungen weiterführten. Hölzerne Lehnstühle umgaben einen klobigen Tisch, ein grobgeschnitzter Webstuhl war an der Wand aufgebaut.

Ich trat durch eine Tür ins Freie, auf einen mit Steinplatten angelegten Hof. Er war an drei Seiten von hoch aufstrebenden Gebäudefluchten umgeben, die vierte Seite schloß eine Brüstung ab, von der aus man eine weite Aussicht ins Tal hatte, das jetzt allerdings mit Nebeln überdeckt war. Nur einzelne Baumwipfel ragten über die Schwaden hinaus.

Oben klappte ein Fenster – ich blickte hinauf. In einer der engen Luken erschien ein blasses, mit blonden Locken umrahmtes Gesicht. Das Mädchen legte einen Finger auf den Mund – verschwand für einen Augenblick und warf mir dann etwas zu. Ich hob es auf: eine frischerblühte dunkelrote Rose. Halb belustigt, halb ärgerlich wollte ich hinaufrufen, was das zu bedeuten habe, da hörte ich wütendes Hundegekläff. Eine warnende Gebärde von oben, dann schlug das Fenster zu. In dem Moment tauchten zwei Männer mit Helmen, Samtjacken und Pluderhosen auf – an der Leine einen wütenden Hund. Sie stutzten einen Augenblick – liefen dann drohend auf mich zu —

Es gab keinen Zweifel – sie führten nichts Gutes im Schilde... Ich hatte keine Zeit, mich zu besinnen, und wandte mich zur Flucht. Über einige Stufen sprang ich hinauf... in einen Gang... durch einige Zimmerfluchten. Hinter mir immer Hundegebell und das Stampfen der Verfolger. Drei Gestalten mit Schwertern traten mir plötzlich entgegen, suchten mir den Weg abzuschneiden...

Ich entkam ihnen mit knapper Not. Ich fürchtete, eingekreist zu werden, und dachte schon daran, mir einen Stuhl oder einen Schemel als Waffe zu suchen, um mich wehren zu können... Da erreichte ich den Saal, aus dem ich auf den Hof gekommen war – ich erkannte es an dem primitiven Webstuhl. Hier mündete der Gang, der mir die Befreiung bringt! Aber welche der vielen Mündungen war die richtige? Aus drei Türen zugleich stürzten nun Bewaffnete auf mich zu... Verzweifelt sah ich mich um... Da! Einige feuchte Trittspuren, das Muster von Kreppsohlen auf den Dielen! Ohne Zögern rannte ich darauf los, in den engen Gang hinein, über Treppen stolpernd, mich schmerzhaft an Wandvorsprüngen schlagend...

Plötzlich war ich wieder im Waffensaal, den ich zuvor mutwillig verlassen hatte. Die Aufregung und Angst fielen von mir, wie ein schwerer Mantel, den man abwirft. Vorn leierte die Stimme des Verwalters, seine Zuhörer umringten ihn.

Ich atmete auf. Der Spuk, der mich geängstigt hatte, verlor seinen Schrecken. Ich drehte mich nach der Pforte um, sah nach rechts, nach links, ging an der Wand entlang – ich fand sie nicht mehr. Und es wunderte mich nicht. Das Ganze mußte ein Traum gewesen sein, ein Traum von seltsamer Deutlichkeit – aber doch nur ein Traum.

Dann merkte ich, daß etwas in meiner Hand knisterte: ein verdorrter dorniger Stengel, von dem vertrocknete Blätter abfielen – Rosenblätter.

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