10

Ein feuchter Wind blies von den Bergen. Harry ruckelte und zuckelte auf Johnny Knatterton. Der Dungstreuer wendete und warf Holzspäne und Mist aus. Die Sonne sah aus wie auf die Bergspitze gesteckt, die Schatten der Eichenreihe wurden län­ger. Sonnenaufgang und Sonnenuntergang waren Harry die liebsten Tageszeiten. Und heute erfüllte der süße Duft ihres roten Klees die Luft und bereicherte den Sonnenuntergang. Harry baute auf ihren Feldern Alfalfa, roten Klee und Timo­theusgras an. Das brachte ihr gewöhnlich eine sehr gute Heu­ernte ein.

Katze und Hund schliefen im Stall. Ein voller Arbeitstag im Postamt hatte sie erschöpft. Tucker hörte einen schweren Wa­gen in der Einfahrt knirschen. Sie sprang hoch und weckte Mrs. Murphy.

»Wer ist das?« Tucker wetzte nach draußen.

Blair Bainbridges Kombi kam in Sicht. Blair hielt an und sprang heraus, beschattete mit der Hand die Augen, erspähte Harry und sprintete aufs Feld.

»Komisch«, sagte Tucker bei sich. »Sonst sagt er uns immer hallo.«

Mrs. Murphy, die in der Türöffnung lag und gähnte, antworte­te auf Tuckers unausgesprochenen Gedanken: »Vielleicht ist ihm klargeworden, daß er in Mom verliebt ist.«

»Sei nicht so sarkastisch. « Tucker setzte sich, stand auf, setzte sich hin, stand endgültig auf und trottete zum Traktor.

Mrs. Murphy wälzte sich auf die andere Seite. Sie hatte keine Lust, sich vom Fleck zu rühren. »See you later, Alligator.«

Tucker raste Blair nach, holte ihn ein und fegte an ihm vorbei.

Als Harry die beiden sah, stellte sie den Motor ab. Bei John­nys lautem Geknatter konnte man nicht gut hören. »Blair, hal­lo.«

Er keuchte atemlos: »Ein Mord!«

Harrys Augen wurden weit. »Wer?«

»Das weiß man nicht.«

»Woher weißt du's?«

Er legte eine Hand an den Sitz des Traktors. »Zufall.«

»Zufall oder zufällig?« Sie lächelte über sich selbst; denn dies war genau die Frage, die ihre Mutter gestellt hätte.

Er holte tief Luft, als Tucker den Traktor umrundete. »Zufäl­lig war da ein Unfall auf der 810 bei Wyant's Store. Ich hab das Tempo gedrosselt und sah Cynthia Cooper, die völlig außer sich war, da hab ich bei ihr angehalten. Es war ein Jugendlicher in einem alten Izuzu-Trooper, den er fuhr wie einen Pkw. Er ist an den Straßenrand geraten, hat zu stark eingeschlagen und dann Cynthia abgedrängt, die aus der Gegenrichtung kam. Sie hat geschäumt vor Wut. Der Junge hat natürlich geheult und sie angefleht, seinen Eltern nichts zu sagen.«

»Ist ihr was passiert?«

Er schüttelte den Kopf. »Dem Jungen auch nicht. Ich bin aber dageblieben, um ihr beizustehen, auch wenn's nicht viel zu tun gab; aber sie ist sonst nicht der Typ, der die Nerven verliert. Sie sagte, sie käme gerade von Sugar Hollow, wo eine Naturkunde­truppe einen Toten entdeckt hat. Sie sagte, er sähe übel zuge­richtet aus und sie würde heute abend nichts essen. Sie hat be­schrieben, was der Mann anhatte - Harry, ich glaube, es ist der Motorradfahrer.«

Harry sprang vom Traktor. »Was?«

Blair nickte. »Schwere schwarze Stiefel, Lederweste mit Symbolen und Nieten - auf wen würde diese Beschreibung sonst zutreffen?«

»Blut an den Satteltaschen!« jaulte Tucker.

»Er ist bestimmt nicht der einzige Mann im ganzen Land mit einer schwarzen Lederweste.« Sie zuckte die Achseln. Ein Frö­steln überlief sie. »Verdammt, er hat mich fast von der Straße abgedrängt, als er von Sugar Hollow kam. Er steckte von Kopf bis Fuß in Leder.«

»Du sprichst am besten mit Cynthia.«

»Hast du ihr gesagt, was du dachtest?«

»Ja.« Er starrte das riesige Traktorrad an. »Er war ein bißchen seltsam. Auf dem absteigenden Ast.«

Harry beobachtete die schwindende Sonne. »Mal steigt man auf, mal steigt man ab - oder stirbt.« »Warum hört keiner auf mich? Der Beweis ist auf den Sattel­taschen von dem Motorrad!«

»Tucker, still, du kriegst gleich was zu fressen.«

Tucker setzte sich bedrückt auf Blairs Fuß. Blair bückte sich und kraulte sie.

Blair sah Harry mit seinen strahlenden blauen Augen fest an. »Hast du auch manchmal so ein ganz bestimmtes Gefühl bei jemandem? Ein richtiges Gespür dafür, wer er ist?«

»Manchmal.«

»Trotz seines Äußeren und seines Benehmens neulich hatte ich das Gefühl, der Kerl ist okay.«

»Blair, so okay kann er nicht gewesen sein, sonst wäre er jetzt nicht tot.«

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