20

Die heißen, dunstigen, feuchten Augusttage wichen einer küh­len, belebenden Luftmasse aus Kanada, der zweiten innerhalb von zehn Tagen. Der klare Himmel und eine erfrischende Tem­peratur von 22 Grad erfreuten alle Gemüter, mit Ausnahme vielleicht von Hogan Freely, Norman Cramer und Mim Sanbur­ne. Die Leute klatschten zwar nicht gerade in die Hände, als sie morgens im Radio und Lokalfernsehen erfuhren, daß der Bank Geld abhanden gekommen war, aber bei der Erlösung von der sommerlichen Schwüle schien das nicht so furchtbar wichtig. Auch glaubten sie Hogans Erklärung, daß ihre Gelder sicher waren.

Mrs. Hogendobber war zur Waynesboro-Baumschule gefah­ren. Sie wollte eine Sumpfeiche für die Nordecke ihres Anwe­sens kaufen, ein Grundstück von einem halben Morgen gleich hinter dem Postamt auf der anderen Seite der Gasse.

Mrs. Murphy schlief im Postwagen. Tucker hatte sich unter dem Tisch im hinteren Bereich des Postamtes ausgestreckt. Harry machte sich einen Tee, um ihre Vormittagsschlaffheit zu bekämpfen.

Die Tür ging auf. Aysha sah sich um, bevor sie eintrat. »Mor­gen.«

»Morgen, Aysha. Niemand hier.«

»Solange Kerry nicht in der Nähe ist.« Aysha steckte den Schlüssel in ihr Postfach, öffnete die schwere kleine Tür und schaufelte ihre Post heraus. »Ich nehme an, du hast gehört, was gestern passiert ist. Schätze, alle wissen es.«

»Market sagte, du und Kerry seid aufeinander losgegangen.« Harry zuckte die Achseln. »Das renkt sich wieder ein.«

Aysha legte ihre Post auf den Schalter. »Die ist doch gestört. Wie kann es sich einrenken, wenn sie von Norman besessen ist und von mir genauso - im negativen Sinn natürlich. Wenn er sie geliebt hätte, wenn es zwischen ihnen gestimmt hätte, dann wäre er doch bei ihr geblieben, oder nicht?«

»Vermutlich.« Harry hatte immer ein ungutes Gefühl, wenn die Leute anfingen, sich gegenseitig zu analysieren. Psychologie war für sie bloß eine weitere Ansammlung von Regeln, um die Menschen zu zügeln. Statt den Zorn Gottes zu beschwören, beschwor man heute Selbstachtung, mangelnde Erfüllung, den Verlust des Kontakts mit den eigenen Gefühlen. Die Liste ließe sich ewig fortsetzen. Harry schaltete ab.

»Was soll ich denn tun?« fragte Aysha. »Mich verstecken? Bei keinem gesellschaftlichen Ereignis erscheinen, wo Kerry anwesend sein könnte, damit ich ihre zarten Gefühle nicht ver­letze? Jeder will von allen geliebt werden. Das ist Kerrys ei­gentliches Problem, es ist nicht bloß Norman. Sie muß immer im Mittelpunkt stehen. Und so schafft sie das natürlich. Stell dir vor. ich hab sogar Angst, in die Bank zu gehen. Wenn Kerry einen Funken Anstand hätte, würde sie zu einer anderen Filiale wechseln. Norman sagt, er meidet sie wie die Pest.«

Harry fand Kerry zwar manchmal ein bißchen empfindlich, aber auf die Kerry, die sie kannte, traf Ayshas Beschreibung nicht zu. »Im Moment ist von keiner von euch zu erwarten, daß sie Sympathie für die andere hegt. Ignorier sie, wenn du kannst.«

»Ignorieren? Eine Frau, die mich umgebracht hätte, wenn sie gekonnt hätte?«

»So schlimm war es nicht.«

»Du warst nicht dabei. Sie hätte mich umgebracht, wenn Cyn­thia uns nicht getrennt hätte. Gott sei Dank war sie da. Ich sag dir, Harry, das Mädchen hat einen Schaden.«

»Die Liebe stellt seltsame Dinge mit den Menschen an.«

Susan und Mim kamen gleichzeitig herein, die eine durch die Vorder-, die andere durch die Hintertür.

»Wie geht es Norman?« fragte Mim.

»Er ist fix und fertig. Er kann nicht schlafen. Er macht sich verrückt wegen dem fehlenden Geld.« Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Und dieser Vorfall mit Kerry läßt ihm keine Ruhe. Er wollte heute unbedingt zur Arbeit gehen, um dabeizusein, wenn Hogan seine Presseerklärung abgibt. Ich sag dauernd zu ihm: >Schatz, niemand macht dir Vorwürfe<, aber er macht sich selbst Vorwürfe. Er braucht Urlaub, er muß mal ausspannen.«

Mim wechselte das Thema. »Marilyn will dich morgen in Ash Lawn vertreten. Sie hat bei dir angerufen und dir auf Band ge­sprochen, aber da ich gerade hier bin, dachte ich, ich sag's dir gleich.«

»Wie lieb von ihr.« Ayshas Miene entspannte sich. »Dann kann ich morgen bei Norman bleiben. Vielleicht kann ich ihm heimlich ein Beruhigungsmittel in den Kaffee schütten oder so was. Der Ärmste.«

Susan, in Tennisbluse und -rock, sah auf die alte Bahnhofsuhr. »Harry, ich komm zu spät zum Training. Bist du heute abend zu Hause?«

»Ja. Ich bin am hinteren Zaun.«

»Okay. Ned muß nach Richmond, dann komm ich zu dir und bring uns was fürs Abendbrot mit.«

»Prima.«

Susan ging, Aysha rauschte hinaus und Mim blieb. Sie ließ die Trennklappe hochschnappen und ging hinter den Schalter. Da Harrys Teewasser schon kochte, goß sie Harrys Teetasse auf und für sich selbst auch eine. »Neue Sitzbezüge.«

»Miranda konnte die alten nicht mehr sehen. Sie ist sehr ge­schickt in so was.«

»Harry, tun Sie mir einen Gefallen?«

»Wenn ich kann.«

»Wenn Ihnen beim Sortieren der Post ungewöhnlich viele Einschreibebriefe oder große Pakete von Maklerfirmen unter­kommen« - sie hielt inne -, »ich nehme an, mir dürfen Sie es nicht sagen, aber rufen Sie sofort Rick Shaw an.«

Harry schlürfte dankbar das heiße Getränk. »Das läßt sich ma­chen.«

»Ich meine, das Geld muß ja irgendwo angelegt werden. Gro­ße Aktienpakete wären eine Möglichkeit, wenn auch nicht die sicherste. Ich habe darüber nachgedacht.« Ihre breiten goldenen Armreife klimperten, als sie nach ihrer Tasse griff. »Aber die Betreffenden könnten sagen, sie hätten das Geld geerbt, oder sie könnten sogar mit einem Makler unter einer Decke stecken. Aber der Schuldige kann überall sein, und zwei Millionen Dol­lar verschwinden nicht einfach.«

Harry, die nicht viel von Hochfinanz verstand, sagte: »Ist es schwer, an ein Nummernkonto in der Schweiz zu kommen?«

»Eigentlich nicht.« »Ich möchte meinen, die Versuchung, das Geld auszugeben, wäre einfach überwältigend. Ich würde mir auf der Stelle einen neuen Traktor und einen Transporter kaufen.«

»Wer immer dahintersteckt, ist geduldig und unglaublich ge­schickt im Betrügen, aber ich nehme an, das sind wir mehr oder weniger alle.«

Harry lachte. »Geduldig oder betrügerisch?«

»Betrügerisch. Wir lernen früh, unsere Gefühle zu verbergen, höflich zu sein.«

»Wer könnte gerissen genug sein, so etwas durchzuziehen?«

»Jemand mit einem gierigeren Appetit, als wir uns überhaupt vorstellen können.«

Genau in diesem Moment trat Reverend Jones ins Postamt.

Mrs. Murphy und Mim sahen gleichzeitig Harry an. Dann be­trachteten Mim und Harry den beleibten Reverend und sagten: »Unmöglich.«

»Worüber redet ihr Mädels gerade?«

»Über Appetit.«

Kerry McCray knabberte Karottenstifte und Sellerie. Sie war nicht hungrig, und sie hatte so viel geweint, daß ihr übel war. Reverend Jones, soeben aus dem Postamt zurückgekehrt, hatte sie auf die Schieferterrasse hinter seinem Haus geführt, im Kühlschrank nach etwas zu essen gesucht und Eistee gemacht.

»Ich weiß nicht, was ich tun soll.« Sie brach wieder in Tränen aus, ihre Stupsnase schniefte.

»Jedermann oder jede Frau verliert mal die Beherrschung. Ich würde mir deswegen nicht zu viele Gedanken machen.«

»Ich weiß, ich weiß, aber ich liebe ihn, und ich glaube nicht, daß sie ihn liebt. Oh, sie macht eine Schau daraus, ihn zu ver­hätscheln, aber sie liebt ihn nicht richtig. Wie könnte sie? Sie denkt bloß an sich. Sie hat sich seit der Grundschule nicht ge­ändert, außer daß sie besser aussieht. Das hat sie der Tittenope­ration zu verdanken.«

Herbie wurde rot. »Davon weiß ich nichts.«

»Wie kann man das übersehen?«

»Kerry, wenn Sie sich immer nur mit Aysha und Norman be­fassen, sind Sie am Ende vor lauter Kummer nur noch ein Schatten Ihrer selbst. Sie haben abgenommen. Sie haben Ihre Ausstrahlung verloren.«

»Reverend Jones, ich bete. Ich flehe um Hilfe. Ich glaube, der liebe Gott hat mich auf >bitte warten< geschaltet.«

Herbie lächelte. »Das ist meine Kerry. Ihren Humor haben Sie nicht verloren. Wir werden alle in diesem Leben auf die Probe gestellt, allerdings weiß ich nicht, warum. Ich könnte Ihnen dazu aus der Bibel zitieren. Ich könnte Ihnen sogar eine Predigt darüber halten, aber ich weiß wirklich nicht, warum wir so lei­den müssen. Krieg. Krankheit. Verrat. Tod. Einige von uns erleiden größeres Elend als andere, aber leiden tun wir alle. Kummer und Gram erleben die Reichsten und die Ärmsten gleichermaßen. Vielleicht ist das die einzige Möglichkeit, wie wir lernen können, nicht selbstsüchtig zu sein.«

»Dann muß Aysha aber noch viel leiden.«

»Mir geht es ganz genauso mit einigen Leuten, die ich nicht besonders mag, aber wissen Sie, überlassen Sie sie dem Him­mel. Vertrauen Sie mir.«

»Das tu ich ja, Reverend Jones, aber ich möchte Aysha leiden sehen. Ich habe keine Lust zu warten, bis ich vierzig bin. Ei­gentlich würde ich sie am liebsten umbringen.« Kerrys Unter­lippe zitterte. »Und das macht mir angst. Noch nie habe ich einen Menschen so gehaßt wie sie.«

»Das wird vergehen, meine Liebe. Versuchen Sie, an etwas anderes zu denken. Legen Sie sich ein neues Hobby zu, machen Sie Urlaub, irgendwas, das Sie aus Ihrem Alltagstrott holt. Dann werden Sie sich besser fühlen, das verspreche ich Ihnen.«

Während Reverend Jones Kerry mit seiner Mischung aus Herzlichkeit und gesundem Menschenverstand gute Ratschläge gab, beendeten Susan und Harry die Reparaturen am Zaun.

Mrs. Murphy jagte eine Maus. »Hab ich dich!« Sie schnappte nach der Maus, aber der kleine Teufel wand sich unter ihrer Pfote weg und huschte unter einen Haufen Zweige, den Harry beim Beschneiden der Bäume auf dem hinteren Grundstück aufgeschichtet hatte.

Tucker, ebenfalls auf Jagd, winselte: »Komm raus, du Feig­ling.« »Das tun die nie.« Murphy untersuchte aber vorsichtshalber doch die Rückseite des Holzhaufens.

»Akazienpfosten sind schwer zu bekommen.« Harry bewun­derte die Pfosten, die ihr Vater vor zwanzig Jahren eingesetzt hatte. »Die Bretter halten vielleicht fünfzehn Jahre, aber diese Pfosten werden mich wahrscheinlich überleben.«

»Du wirst ein langes Leben haben. Einmal wirst du sie erset­zen, bevor du den Löffel abgibst.« Susan hob ihren Hammer auf. »Ich sollte so was öfter machen. Kein Wunder, daß du nie ein Gramm zunimmst.«

»Das sagst du, dabei siehst du noch genau so aus wie damals, als wir auf der High-School waren.«

»Ha.«

»Du brauchst das Kompliment ja nicht anzunehmen.« Harry grinste, klaubte Nägel von der Erde und stand auf.

»Schade, daß wir nicht mehr Licht haben. Dann könnten wir über die Feldwege reiten.«

»Ja, schade. Dann laß es uns am Wochenende machen.«

»Hab ich dir eigentlich erzählt, was Mim auf ihrer Party zu mir gesagt hat? Sie sagte, daß Männer und Frauen keine Freun­de sein können. Glaubst du das?«

»Nein, aber ich kann mir vorstellen, daß ihre Generation das glaubt. Ich habe massenhaft Freunde, und Ned hat Freundin­nen.«

»Aber dann muß man sich über das Thema Sex einigen.«

Susan schwang ihren Hammer auf und ab. »Wenn ein Mann nicht davon anfängt, tu ich's bestimmt nicht. Ich finde, das ist deren Problem, nicht unseres. Überleg mal. Wenn sie einer Frau gegenüber nicht zudringlich werden, haben sie sie dann belei­digt? Ich schätze, es ist noch viel komplizierter, als mir scheint, sie sind übel dran, wenn sie's tun, und sie sind genauso übel dran, wenn sie's nicht tun. Wenn wir ihnen andeuten, daß es okay ist, das Thema zu vergessen, ich glaube, dann werden die meisten sich daran halten. Außerdem, wenn ein Mann erst mal in ein gewisses Alter kommt, stellt er fest, daß die ersten drei Monate im Bett mit einer neuen Frau so aufregend sind wie immer. Was dann kommt, ist dieselbe alte Leier.«

»Bist du jetzt zynisch?« »Nein, realistisch. Jeder, dem du im Leben begegnest, hat Probleme. Wenn du einen Menschen fallenläßt und einen ande­ren aufgabelst, hast du dir einen Haufen neue Probleme aufge­halst. Es kann höchstens sein, daß du mit den Problemen von Nummer zwei leichter zurechtkommst.«

»Ich sitze zwischen Nummer eins und Nummer zwei, und ich hab die Nase voll von Problemen. Ich sollte vielleicht Einsiedle­rin werden.«

»Das sagen alle. Fair ist Nummer eins, und.«

»Es macht mich wütend, daß er denkt, er kann wieder in mein Leben tanzen.«

»Ja, das würde mich vielleicht auch ärgern, aber du mußt ihm zugute halten, daß er weiß, du bist die Richtige, und er hat's verbockt.«

»Vervögelt.«

»Mutter, hack doch nicht dauernd auf ihm rum«, sagte Tucker.

»Jedenfalls, mein Standpunkt steht fest. Und was Blair an­geht.«

»Blair hat sich nicht erklärt, deshalb nehme ich ihn nicht so ernst, wie ihr alle es tut.«

»Aber du magst ihn - ich meine, du magst ihn?« Susans Stimme klang erwartungsvoll.

»Ja - ich mag ihn.«

»Du kannst einen schon zum Wahnsinn treiben mit deiner Zu­rückhaltung. Wie gut, daß ich nicht in dich verliebt bin.« Susan gab ihr einen Stups.

»Du bist gemein.«

Sie stapften zum Stall. Es war ein ziemlich weiter Weg. Mrs. Murphy raste voraus, setzte sich hin, und sobald sie sich ihr näherten, raste sie wieder los. Tucker trottete neben den Men­schen her.

Während sie das Werkzeug wegräumten, sagte Harry unver­mittelt: »Susan, wann ist das Geld von der Bank verschwun­den?«

»Letzte Woche, warum?«

»Keiner hat den genauen Zeitpunkt festgestellt, oder?«

»Nicht, daß ich wüßte.« »Es muß eine Möglichkeit geben, das rauszukriegen.« Harry griff nach dem Telefon in der Sattelkammer und rief Norman Cramer an. Sie bombardierte den erschöpften Mann mit Fragen, dann legte sie auf. »Er sagt, er weiß den Zeitpunkt nicht genau, aber ja, es könnte am ersten August angefangen haben.«

Susan schob den großen roten Werkzeugkasten in die Ecke der Sattelkammer. »Der verdammte Virus ist aktiv geworden, aber kommt es dir nicht komisch vor, daß andere Banken keine fehlenden Gelder melden?«

»Ja, das ist merkwürdig. Komm, gehen wir ins Haus.«

Harry setzte sich in der Bibliothek im Schneidersitz auf den Fußboden, wie sie es schon als Kind getan hatte. Sie war von Büchern umgeben. Sie blätterte in einem Lexikon, dem Oxford English Dictionary. Susan saß in Daddy Minors Sessel, die Füße auf dem Polsterhocker, und nahm sich einen Geschichtsat­las vor.

Mrs. Murphy strich bei den Bücherregalen herum, Tucker hat­te sich neben Harry gezwängt.

»Sie haben alle Bücher, die sie brauchen.«

Die Katze verkündete: »Da ist eine Maus in der Mauer. Die Bücher sind mir schnuppe.«

»Die kriegst du da nicht raus. Du hattest in letzter Zeit nicht viel Glück mit Mäusen.«

»Du hast ja keine Ahnung.«

»Sag mal, wo ist Paddy?« Tucker wollte wissen, wo Mrs. Murphys Exmann, ein hübscher schwarzweißer Kater mit dem Charme und Witz der Iren, zur Zeit lebte.

»Nantucket. Seine Leute fanden, auf der Insel würde es ohne ihn langweilig sein, drum nehme ich an, er ist dort, jagt Möwen und frißt eine Menge Fische.«

Harry schlug »thread« nach. Es nahm zwei Seiten der unge­kürzten Ausgabe des Lexikons ein.

Sie fand »threadbare«, fadenscheinig, das im schriftlichen Gebrauch erstmals im Jahre 1362 nachgewiesen wurde. Zwi­schen der mündlichen Verwendung eines Wortes und seiner Niederschrift können Jahrzehnte liegen, was aber in diesem Fall keine Rolle spielte.

Ihr Blick glitt über das dünne, feine Papier. »Aha.« »Was, aha?«

»Hör zu! >Threadneedle< ist im schriftlichen Gebrauch erst­mals 1751 nachgewiesen. Es ist ein Kinderspiel, bei dem sich alle die Hände reichen. Die Spieler am einen Ende der Men­schenkette ziehen zwischen den letzten beiden am anderen Ende durch, danach ziehen alle anderen durch.«

»Ich sehe nicht, daß das irgendwas mit dem Problem zu tun hat.«

»Ich auch nicht.«

»Gibt es noch mehr Bedeutungen?«

»Ja. Als Verbform, >thread the needle<. Existiert schriftlich seit 1844. Es bezieht sich auf eine Tanzbewegung, wenn eine Dame unter den Armen ihres Partners durchgeht, wobei ihre Hände sich nicht loslassen.« Harry sah von dem Lexikon hoch. »Das hab ich nicht gewußt.«

»Ich auch nicht. Sonst noch was?«

»Es kann auch bedeuten, eine Gewehrkugel durch ein Bohr­loch zu schießen, das kaum groß genug ist, daß die Kugel durchgeht, ohne das Loch zu vergrößern.« Harry klappte das dicke Buch mit einem schweren Plumps zu. »Was hast du ge­funden?«

»Am 1. August 1137 starb König Ludwig VI. von Frankreich. Königin Anne von Britannien starb am 1. August 1714.« Sie las weiter. »Und 1914 hat Deutschland Rußland den Krieg erklärt. Das hat nun in der Tat die Welt verändert.«

»Versuchen wir's mit einem anderen Buch. Es muß was da­sein, das uns bisher entgangen ist.«

»Es könnte ja auch ein Ablenkungsmanöver sein.«

»Ja, ich weiß, aber irgendwas an dieser Geschichte riecht nach Überlegenheit. Wer immer hier herumfummelt.«

»Stiehlt.«

»Richtig. Wer immer hier Geld stiehlt, will uns unter die Nase reiben, wie blöd wir sind.«

»Hier.« Mrs. Murphy zog mit der Pfote ein anderes Buch her­aus, in dem geschichtliche Ereignisse aufgelistet waren. Das Buch fiel auf den Boden.

»Murphy.« Harry drohte der Katze mit dem Finger. »So kannst du einem Buch den Rücken brechen.« »Sei nicht so ekelhaft.«

»Widerworte.« Susan lachte. »Hört sich genau gleich an, ob nun bei Tieren oder bei Kindern.«

»Ich geb nie Widerworte«, behauptete Tucker.

»Lügnerin«, gab die Katze sofort zurück. Sie sprang vom Bü­cherregal und setzte sich neben Harry. Susan stand von ihrem Sessel auf und setzte sich auf der anderen Seite zu Harry auf den Fußboden.

»Okay, 1. August. 1834 wurde die Sklaverei im Britischen Empire abgeschafft.«

»Dabei fällt mir ein, Mim hat sich mit Kate Bittner über die Bürgerkriegsserie im Kultursender PBS unterhalten. Mim hat gesagt: >Wenn ich gewußt hätte, daß das so viel Ärger gibt, hätte ich die Baumwolle selber gepflückte«

Harry beugte sich nach hinten, die Hände auf den Knien.

»Oje, wie hat Kate reagiert?« Da Kate afrikanischer Abstam­mung war, war dies eine berechtigte Frage.

»Gebrüllt. Einfach nur schlappgelacht.«

»Bravo. Glaubst du, sie wird zur Bezirksvorsitzenden der Demokratischen Partei gewählt?«

»Ja, obwohl Ottoline Gill und.«

»Ottoline ist Republikanerin.«

»Nicht mehr. Sie hat sich mit Jake Berryhill gestritten. Hat sich von der Partei losgesagt.«

»Ein Sturm im Wasserglas. Laß mal sehen, was sonst noch war. Im Mittelalter galt der erste August als ägyptischer Tag, der angeblich Unglück brachte.«

»Gib mal her.« Susan nahm Harry das Buch aus der Hand. »Du bist mir zu langsam.« Ihre Augen überflogen das eng Ge­druckte. »Harry, hier ist was.« Sie deutete auf den Eintrag in der Mitte der Seite.

Sie lasen laut: »Im Jahre 1732 wurde in der Threadneedle Street in London der Grundstein für die Bank von England ge­legt.«

Harry sprang auf und griff in der Küche zum Telefon. »Hallo, Coop. Hören Sie sich das an.«

Susan, die unterdessen auch aufgestanden war, hielt Harry das Buch zum Vorlesen hin.

Als sie fertig war, sagte Harry: »Susan und ich - was?«

Coop unterbrach sie. »Behalten Sie's für sich. Es muß unter Ihnen und Susan bleiben.«

Harry erwiderte gekränkt: »Wir haben nicht vor, es an die große Glocke zu hängen.«

»Ich weiß, aber in Ihrer Begeisterung könnten Sie es ausplau­dern.« Coop entschuldigte sich. »Tut mir leid, daß ich Sie ange­blafft habe. Wir sind unterbesetzt. Die Leute gehen der Reihe nach in die Sommerferien. Ich bin überlastet und lasse es an Ihnen aus.«

»Ist schon okay.«

»Sie haben gute Arbeit geleistet. Threadneedle hat etwas zu bedeuten. vermutlich. Es hat was mit Banken zu tun. Wissen Sie, diese ganze Sache ist verdreht. Der Threadneedle-Virus schien zuerst ein Jux zu sein. Dann sind in der Crozet National Bank zwei Millionen Dollar nicht aufzufinden. Auf der Route 29 häufen sich die Autounfälle, und im Leichenschauhaus liegt ein mausetoter Mike Huckstep, von dem wir wenig wissen. Alles kommt auf einmal.«

»Sieht ganz so aus.« Harry hatte Susan den Hörer hingehalten, so daß sie alles mitbekam.

»Kopf hoch, Coop«, ermunterte Susan sie.

»Wird schon gehen. Ich lasse bloß Dampf ab«, sagte sie. »Hö­ren Sie, danke für Ihre Hilfe. Wir sehen uns bald.«

»Klar. Bis dann.«

»Bis dann.«

Harry legte auf. »Arme Coop.«

»Auch das geht vorbei.«

»Das weiß ich. Sie weiß es auch, aber ich will nicht, daß mein Geld dabei flötengeht. Ich hab mein Geld auf der Crozet Natio­nal Bank. Nicht viel, aber es ist alles, was ich habe.«

»Mir geht's genauso.« Susan stützte tief in Gedanken das Kinn in die gewölbte Hand. Kurz darauf fragte sie: »Du wirst langsam richtig gut am Computer, nicht?«

Harry nickte.

Susan fuhr fort: »Ich bin auch nicht schlecht. Das war sozusa­gen Notwehr, weil Danny und Brookie ständig an dem Ding sitzen. Anfangs habe ich gar nicht verstanden, wovon sie rede­ten. Es ist wirklich toll, daß sie das alles in der Schule lernen. Für sie gehört es einfach zum Alltag.«

»Willst du an den Computer der Crozet National Bank ran?«

»Du hast es erraten«, sagte Susan grinsend. »Aber wir können da nicht rein. Hogan wäre vielleicht einverstanden, aber Nor­man Cramer würde sterben, wenn jemand seine Schätzchen anrührt. Ich nehme an, seine Mitarbeiter wären auch nicht gera­de begeistert. Wenn wir was verpfuschen würden, was dann?«

»Das hat schon jemand anders für uns besorgt«, sagte Harry. »Wir könnten uns natürlich reinschleichen.«

»Harry, du bist verrückt. Die Bank hat eine Alarmanlage.«

»Ich könnte mich reinschleichen«, prahlte Mrs. Murphy; sie hatte die Ohren nach vorn gestellt, ihre Augen blitzten.

»Sie könnte das. Laßt sie das machen«, pflichtete Tucker ihr bei.

»Ihr Kerlchen habt wohl schon wieder Hunger.« Harry tät­schelte Tuckers Kopf und rieb ihre langen Ohren.

»Immer wenn wir was sagen, denkt sie, wir wollen austreten oder essen.« Mrs. Murphy seufzte. »Tucker, wir können allein in die Bank gehen.«

»Wann willst du hin?«

»Morgen nacht.«

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