34

Zu Beginn des Tages hatte Harry die bizarre Kette der Ereignis­se dem Umstand zugeschrieben, daß es bewölkt war. Das bot allerdings keine Erklärung dafür, wie der Tag endete.

Um halb elf kam Blair Bainbridge auf einer nagelneuen, phan­tastischen Harley-Davidson auf den vorderen Parkplatz des Postamtes gefahren. Die Maschine wirkte schwarz, zumal unter den Wolken, glänzte aber im hellen Sonnenlicht in dunklem Pflaumenblau.

»Was hältst du davon?« fragte Blair.

Harry ging hinaus, um die Maschine zu bewundern. »Was ist bloß in dich gefahren?«

»Der Sommer hat mich gepackt.« Er grinste. »Und weißt du, als ich Mike Hucksteps Harley sah, da überkamen mich die Erinnerungen. Wer sagt denn, daß ich vierundzwanzig Stunden am Tag ein reifer und verantwortungsvoller Mensch sein muß? Wie wär's mit zwanzig Stunden am Tag, und für vier Stunden darf ich wieder wild und ausgelassen sein?«

»Hört sich gut an.«

Miranda öffnete die Vordertür. »Sie werden sich umbringen auf dem Ding.«

»Das will ich nicht hoffen. Gibt es ein Bibelzitat für überhöhte Geschwindigkeit?«

»Auf Anhieb fällt mir keins ein. Ich werde darüber nachden­ken.« Sie schloß die Tür.

»O Blair, sie wird sich den Kopf zerbrechen. Sie wird ihre Bekannten im Bibelforschungskurs anrufen. Sie wird nicht ru­hen, bis sie ein passendes Zitat gefunden hat.«

»Soll ich sie zu einer Spritztour einladen?«

»Ich bezweifle, daß sie annimmt. Wenn es nicht ihr Ford Fal­con ist, will sie nirgends ein- oder aufsteigen.«

»Ich wette mit dir um fünf Dollar.« Damit sprang er die Stu­fen zum Postamt hinauf.

Harry schloß die Tür, während Mrs. Murphy und Tucker Blair begrüßten.

»Mrs. Hogendobber, ich habe zufällig zwei Helme dabei, und ich möchte Sie auf eine Spritztour mitnehmen. Wir können die Gegend unsicher machen.«

»Das ist aber nett.« Doch sie schüttelte den Kopf.

Ehe er sich in sein Thema vertiefen konnte, flog die Vordertür auf, und Norman Cramer stürmte aufgebracht herein.

»Wie können Sie nur? So was Geschmackloses!«

»Wovon reden Sie?« fragte Blair, da sich der Angriff gegen ihn richtete.

»Da, davon rede ich!« Norman deutete wild gestikulierend zu dem schönen Motorrad hinüber.

»Mögen Sie keine Harleys? Okay, Sie sind ein BMW-Typ.«

Blair zuckte die Achseln.

»Alles ging gut hier, bis zu dem Tag, als dieses Motorrad auf­tauchte. Wie können Sie damit herumfahren? Wie können Sie es auch nur anrühren! Was haben Sie gemacht, Rick Shaw heimlich Geld zugesteckt? Ich dachte, herrenloses Eigentum käme auf eine öffentliche Versteigerung, die die Dienststelle des Sheriffs veranstaltet.«

»Moment mal.« Blair entspannte sich. »Das ist nicht die Har­ley von dem Ermordeten. Sie ist nicht mal schwarz. Gehen Sie raus, und sehen Sie sie sich noch mal an. Ich habe diese Ma­schine eben gekauft.«

»Hä?«

»Gucken Sie nach.« Blair hielt Norman die Tür auf.

Die beiden Männer umrundeten das Motorrad, die Frauen und Tiere sahen von drinnen zu.

»Norman dreht allmählich durch.« Harry zog einen Mund­winkel hoch.

»Wenn Sie zwischen Kerry und Aysha gefangen wären, wür­den Sie wohl auch einen Knall kriegen. Skylla und Charybdis.«

»Der war richtig rot angelaufen. Und wie konnte er so etwas über Rick Shaw sagen? Heiliger Jesus, was den Menschen für Mist durch den Kopf geht.«

»Sie sollen den Namen unseres Erlösers nicht mißbrauchen.«

»Verzeihung. He, da kommt Herbie.«

Der Reverend blieb stehen, um mit den Männern zu plaudern, dann trat er ins Postamt. »Billiges Transportmittel. Diese Dinger verbrauchen höchstens fünf Liter auf hundert Kilometer. Wenn die Benzinsteuer weiter steigt, leg ich mir vielleicht auch so eins zu. Wie wär's mit einem Motorrad mit Beiwagen?«

»Wollen Sie ein Kreuz draufmalen? Ein kleines Schild mit >Priester< an den Lenker hängen?«

»Mary Minor Haristeen, entdecke ich da einen Hauch von Sarkasmus in Ihrer Stimme? Haben Sie nichts von den Reisen des heiligen Paulus gelesen? Stellen Sie sich vor, er hätte ein Motorrad gehabt. Dann hätte er im ganzen Mittelmeerraum Gemeinden gründen können, sogar in Gallien. Das hätte den Prozeß der Christianisierung beschleunigt.«

»Auf einer Harley. Gefällt mir, die Vorstellung.«

Miranda schlenderte zum Schalter. »Sie zwei. Was denken Sie sich wohl als nächstes aus?«

»Stellen Sie sich vor, Jesus hätte ein Auto. Was für eins würde er fahren?« Herbie zog Miranda gerne auf, und er wußte, daß sie ihm als ordiniertem Geistlichen zuhören mußte.

»Das beste Auto der Welt«, sagte Miranda, »meinen Ford Fal­con.«

»Dann könnte er ebensogut wieder auf Sandalen umsteigen.« Harry stieg in das Spiel ein. »Ich wette, er würde einen Subaru Kombi fahren, weil das Gefährt ewig hält, selten zur Inspektion muß und er seine zwölf Jünger reinquetschen könnte.«

»Na, das wäre doch was.« Herb bückte sich, um Tucker zu kraulen, die unter der Schalterklappe hervorkam.

Blair kam wieder zu ihnen herein. Norman auch.

»Verzeihung. Bin ein bißchen gereizt.« Norman senkte den Blick.

»Norman, Sie haben zwei Frauen zuviel in Ihrem Leben, Otto­line nicht mitgerechnet.« Mrs. Hogendobber nahm kein Blatt vor den Mund.

Er wurde rot, dann nickte er.

Blair sagte heiter: »So viele Männer sind auf der Suche nach einer Frau, und Sie haben welche übrig. Wie machen Sie das bloß?«

»Mit Blödheit.« Norman bemühte sich tapfer, zu lächeln, dann verschwand er.

»Was sagt man dazu?« rief Miranda aus.

»Ich glaube, er ist ziemlich am Ende«, erwiderte Harry.

»Deprimiert.« Blair öffnete sein Schließfach.

»Ach was, wenn er Aysha liebt, wird er eine Lösung finden.« Herb glaubte an das Sakrament der Ehe. Schließlich hatte er die halbe Stadt getraut.

»Aber wenn er sie nicht liebt?« fragte Harry.

»Dann weiß ich es auch nicht.« Herb verschränkte die Arme. »Die Ehe ist ein einziger Kompromiß. Vielleicht kann er einen Mittelweg finden. Aysha vielleicht auch. Ihr Streben nach ge­sellschaftlichem Aufstieg stellt sogar meine Geduld auf die Probe.«

Als Herb ging, kam Cynthia Cooper. »Danke für Ihre Noti­zen.«

»Ich konnte nicht schlafen. Mußte irgendwas tun.«

»Ich war auch die ganze Nacht auf«, erklärte Blair. »Wenn ich das gewußt hätte, wäre ich rübergekommen.«

»Sie Teufel.« Cynthia wäre dafür gestorben, ihn das zu ihr sa­gen zu hören. »Also, die Graphologin aus Washington hat die Handschrift auf der Unterschriftskarte mit der auf Mike Huck­steps Einkommensteuererklärung und auf seinem Führerschein­antrag verglichen. Sie sind echt. Und Mrs. Hucksteps Unter­schrift ist nicht seine Handschrift. Er hat keine Unterschrift gefälscht. Und Kerrys Unterschrift ist es auch nicht. Die Karte wurde von zwei Personen unterschrieben.«

»Wie haben Sie das so schnell herausgefunden?«

»So schnell ging das gar nicht. Versuchen Sie mal, die Fi­nanzbehörde dazu zu bringen, einer kleinen Sheriffdienststelle in Mittelvirginia zuzuhören. Rick hat schließlich unseren Kon­greßabgeordneten angerufen, und das hat die Dinge ins Rollen gebracht. Mit dem Kfz-Amt gab es keine Probleme.«

»Ist Mike tatsächlich in die Bank gegangen und hat Karten un­terschrieben?«

»Na ja, niemand in der Bank erinnert sich, einen Mann gese­hen zu haben, auf den seine Beschreibung paßt. Oder es will keiner zugeben.«

»Coop, wie hat er unterschrieben?« fragte Blair. »Mit vorge­haltener Pistole?« »Konnten Sie Laura schon befragen?« fragte Mrs. H. »Sie könnte sich vielleicht an etwas erinnern.«

»Sie war äußerst kooperativ. Sobald der Schock abgeebbt war, hat sie geholfen, soviel sie konnte, weil sie möchte, daß Hogans Mörder gefaßt wird. Dudley und Thea tun, was sie können. Leider sagt Laura, sie hat niemanden gesehen, auf den Huck­steps Beschreibung zutrifft. Hogan hat gelegentlich mit Laura über Bankprobleme gesprochen, aber das waren gewöhnlich Probleme mit Leuten. Die Spannungen zwischen Norman Cra­mer und Kerry McCray haben ihn beunruhigt. Davon abgese­hen, meint sie, schien alles normal.«

»Und es gibt keine Auffälligkeiten bei irgend jemandem in der Crozet National Bank?« Mrs. Hogendobber spielte mit ihren Armreifen.

»Nein. Keine Polizeiakten.«

Harry seufzte. »Wir stecken immer noch in einer Sackgasse.«

»Wissen Sie, Harry, Sie sind die einzige, die den Mörder ge­sehen hat«, entgegnete Cooper.

»Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht.«

»Wie meinen Sie das?« Blair und Miranda sprachen durchein­ander, aber im Kern sagten beide dasselbe.

»Derjenige, der das Motorrad fuhr, als es Harry bei Sugar Hollow fast gerammt hätte, war höchstwahrscheinlich unser Mann. Es sei denn, Huckstep ist weggefahren und später zu­rückgekommen.«

»Ich hab weiter nichts gesehen als einen schwarzen Helm mit einem schwarzen Visier und jemand ganz in schwarzem Leder. Ein richtiger Hell's Angel.«

»Warum haben Sie nichts gesagt?« wollte Miranda wissen.

»Hab ich ja. Ich hab's Rick und Cynthia erzählt. Ich habe mir das Hirn zermartert nach irgendwas, einem Hinweis, einer Auf­fälligkeit, aber es ging ja alles so schnell.«

Als Blair gegangen war, um in der Gegend herumzufahren, blieb Cynthia noch ein bißchen. Die Leute kamen und gingen wie immer, und um fünf schlossen die Frauen das Postamt und gingen nach Hause.

Susan Tucker kam mit Danny und Brooks herübergefahren. Sie verließen Harrys Haus gegen acht. Dann rief Fair an. Der Abend kühlte zu Harrys Freude etwas ab, und sie ging früh schlafen.

Das Schrillen des Telefons ärgerte sie. Der große altmodische Wecker zeigte halb fünf. Sie nahm den Hörer ab. »Hallo.«

»Harry. Ich bin's, Fair. Ich komm rüber.« »Es ist halb fünf.«

»Norman Cramer ist erdrosselt worden.«

»Was?« Harry setzte sich kerzengerade auf.

»Ich erzähl dir alles, wenn ich da bin. Bleib, wo du bist.«

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