»Holen Sie schon mal die Schaufeln raus«, rief Harry Mrs. Hogendobber zu, die im selben Moment zum Hintereingang hereinmarschierte, als Rob Collier, der Mann, der die Post anlieferte, das Postamt durch den Vordereingang verließ.
Er steckte den Kopf wieder herein. »Morgen, Mrs. H.«
»Schönen guten Morgen, Rob.« Sie erspähte die riesigen Postsäcke auf dem Fußboden. »Was um alles in der Welt.«
»Ein höllischer Auftakt in den August.«
Als der große Lieferwagen aus der Zufahrt fuhr, konnten die zwei Frauen nur wie gebannt auf den Haufen Post starren.
»Dann mal los. Ich hol den Postkarren und fang mit dem ersten Sack an.«
»Bin gleich wieder da.« Mrs. Hogendobber eilte zur Tür hinaus und war nach knapp fünf Minuten zurück; Zeit genug für Harry, den großen Leinensack auszukippen, und Zeit genug für Mrs. Murphy, sich mit Karacho in den Haufen zu stürzen, so daß Briefe und Zeitschriften umherstoben. Dann wälzte sie sich herum, zerbiß einige Umschläge und zerkratzte andere.
»Tod den Rechnungen!« brüllte die Katze. Sie breitete alle vier Pfoten auf dem schlüpfrigen Haufen aus, blickte nach rechts, dann nach links, bevor sie mit einem mächtigen Satz nach vorn sprang, so daß die Post unter ihr hervorquoll.
»Du hast es erfaßt, Murph.« Harry mußte über die Kapriolen der Tigerkatze lachen.
»Dies ist meine Meinung zur Elektrizitätsgesellschaft.« Sie packte mit den Zähnen eine Rechnung und biß fest zu. »Da hast du 's. Und das hier ist für alle Rechtsanwälte in Crozet. « Sie zog die rechte Pfote über eine Fensterscheibenrechnung und hinterließ fünf parallele Risse.
Tucker beteiligte sich an dem Spaß, aber da sie nicht so wendig war wie Mrs. Murphy, konnte sie nur durch den Postpacken rennen und rufen: »Guck mal, was ich kann!«
»Schluß jetzt, ihr zwei. Dies ist das einzige Postamt in Amerika, wo man Briefe mit Zahnabdrücken bekommt. Aber genug ist genug.«
Mrs. Hogendobber öffnete die Hintertür just in dem Moment, als Pewter durch das Katzentürchen hereinkam. »He, he, ich will auch mitspielen.«
Mrs. Murphy setzte sich in das Postchaos und lachte, als ihre dicke Freundin auf sie zugesaust kam. Mrs. Hogendobber lachte ebenfalls.
»Sehr komisch.« Erbost wand sich Pewter aus dem Haufen.
»Heute morgen sind alle übergeschnappt.« Harry bückte sich, um das Durcheinander zu ordnen, fand aber, daß die Katze die richtige Idee gehabt hatte. »Was ist das für ein unglaublicher Duft?«
»Zimtteilchen. Wir müssen uns stärken. Eigentlich wollte ich warten und sie für unsere Pause rüberholen, aber Harry, wir werden wohl durcharbeiten.« Sie sah auf die große alte Bahnhofsuhr an der Wand. »Und Mim wird in einer Stunde hier sein.«
»Mim wird noch mal wiederkommen müssen.« Harry warf Briefe in den Postkarren und schob ihn auf die Rückseite der Schließfächer. »Wenn Sie keinen Knüller auf Lager haben, machen Sie das Radio an.« Zwinkernd schnappte sich Harry ein heißes Zimtteilchen und begann mit dem Sortieren.
»Ich will mir heute morgen keine Country- und Western- Musik anhören.«
»Und ich möchte mich nicht geistlich erbauen lassen, Miranda.«
»Stellen Sie sich nicht so an.« Mrs. Hogendobber schaltete das Radio ein.
Der Sprecher verkündete die Nachrichten. ». ein Verlust von acht Millionen Dollar für dieses Geschäftsquartal, der schlimmste in der neunundsechzigj ährigen Geschichte der FI. Eintausendfünfhundert Beschäftigte, fünfundzwanzig Prozent der Belegschaft des renommierten Unternehmens, mußten entlassen werden...«
»Verdammt.« Harry pfefferte eine Postkarte in Market Shifletts Schließfach.
»Ich kann mir vorstellen, die Leute, die die blauen Briefe kriegen, sagen noch was viel Schlimmeres.«
Die Nachrichten wurden nach einem Werbespot für den neuen Dodge Ram fortgesetzt. Die tiefe Stimme tönte: »Threadneedle, der gefürchtete Computervirus, hat heute bereits am frühen Morgen zugeschlagen. Leggett's Warenhaus hat einige geringfügige Probleme gemeldet, ebenso die Spar- und Darlehenskasse von Albemarle County. Das ganze Ausmaß des Durcheinanders wird sich erst im Laufe des Arbeitstages erweisen. Doch es wurden bereits erste Unregelmäßigkeiten gemeldet.«
»Wissen Sie was, wenn irgend so ein Computergenie Amerika wirklich einen Dienst erweisen wollte, würde er oder sie das Finanzamt zerstören.«
»Wir zahlen zu viele Steuern, Harry, aber Sie entwickeln sich langsam zu einer Anarchistin.« Miranda wischte etwas Vanilleglasur von ihren Lippen, die heute leuchtend korallenrot geschminkt waren, passend zu ihren quadratischen korallenroten Ohrringen. Mrs. Hogendobber kleidete sich gern adrett, im Stil der fünfziger Jahre.
»Alles in allem zehn Prozent, wenn man mehr als hunderttausend verdient, und fünf Prozent, wenn man weniger verdient. Wer unter fünfundzwanzigtausend im Jahr verdient, sollte keine Steuern zahlen müssen. Wenn wir das Land damit nicht stützen können, sollten wir es vielleicht besser umstrukturieren - wir werden langsam zu einem Dinosaurier, genau wie FI. Zu groß, um zu überleben. Wir stolpern über unsere eigenen Riesenquanten.«
Mrs. Hogendobber kippte den nächsten Sack aus. »Ich weiß nicht, aber ich stimme Ihnen zu, daß bei uns der Wurm drin ist. Oh, was will sie denn hier?« Sie sah Kerry McCray durch die Tür kommen.
»Hoffentlich brauchen Sie Ihre Post noch nicht«, rief Mrs. Hogendobber hinaus.
»Die hab ich sowieso zerrissen.« Mrs. Murphy leckte sich die Lippen.
»Echt?« Pewter war beeindruckt.
»Klar, hier.« Mrs. Murphy schob ein Couvert herüber, das deutliche Spuren von Reißzähnen aufwies.
»Wetten, das ist ein Staatsvergehen«, bemerkte die graue Katze weise.
»Das will ich hoffen«, erwiderte Mrs. Murphy frech.
»Ich bin nicht wegen der Post hier«, sagte Kerry. »Wollte bloß Bescheid sagen, daß Samstag abend in der Opernreihe in Ash Lawn Don Giovanni gegeben wird und daß Sie unbedingt kommen müssen. Der Sänger der Hauptpartie hat eine so klare Stimme. Ich verstehe nicht soviel von Musik wie Sie, Mrs. Hogendobber, aber er ist gut.«
»Danke, daß Sie an mich gedacht haben, Kerry. Ich will versuchen zu kommen.«
Harry lugte hinter den Schließfächern um die Ecke. »Na, Kerry, warst du schon mit dem Sänger aus?«
Kerry bekam einen roten Kopf. »Ich habe ihm die Universität von Virginia gezeigt.«
»Sei einfach du selbst, Schätzchen. Dann wird er bald über beide Ohren in dich verknallt sein.«
Kerry errötete abermals, dann ging sie hinaus und über die Straße zur Bank.
»Wo ist die Zeit geblieben?« Harry warf die Umschläge etwas schneller in die Postfächer.
»Sie sind zu jung, um sich Gedanken über die Zeit zu machen. Das ist meine Aufgabe.«
Harry schnappte sich noch ein Zimtteilchen. Pewter hatte dieselbe Idee. »He, Schweinchen. Das ist meins.«
»Ach, lassen Sie sie doch.«
»Miranda, Sie waren diejenige, die Katzen nicht leiden konnte. Die meinte, sie seien verwöhnt und hinterlistig, und à propos Zeit, soweit ich mich erinnere, ist das noch keine zwei Jahre her.«
Pewter, deren goldene Augen glänzten, wälzte sich schnurrend zu Mirandas Füßen, die heute in zehenfreien Sandalen mit Keilabsätzen à la Joan Crawford steckten. »Oh, Mrs. Hogendobber, ich liiiiiebe Sie.«
»Ich muß gleich kotzen«, murrte Mrs. Murphy.
»Unser kleiner Liebling möchte nur ein ganz kleines Häppchen.« Mrs. Hogendobber zupfte etwas süßen, flockigen, großzügig mit Vanilleglasur überzogenen Teig ab. Der Zimtduft durchzog den Raum, als das Gebäck auseinanderbrach. »Hier, Pewter. Und wie steht's mit dir, Mrs. Murphy?«
Mrs. Murphy lehnte ab. »Danke, sehr liebenswürdig, aber ich bin Fleischfresserin.«
»Ich eß alles.« Die schwanzlose Tucker wackelte aufgeregt mit dem Hinterteil.
Mrs. Hogendobber hielt ein Stückchen in die Höhe, und Tucker stellte sich auf die Hinterbeine, was Corgis nicht leichtfallt. Sie verschlang ihre Belohnung.
Der Rest des Tages verging mit dem üblichen Kommen und Gehen; jeder äußerte eine Meinung zu dem Threadneedle-Virus, der, wie so vieles, was im Fernsehen berichtet wurde, eine Seifenblase sei. Die Leute äußerten auch ihre Meinung, ob Boom Boom Craycroft, die schwüle Sirene von Crozet, sich wieder an Blair Bainbridge heranmachen würde, nachdem er jetzt aus Afrika und sie aus Montana zurück war.
Um fünf vor fünf erschien Mim Sanburne wieder. Sie hatte morgens um halb neun schon hereingeschaut, ihre übliche Zeit. Postämter schließen um siebzehn Uhr, aber dies war das Postamt von Crozet, und wenn jemand etwas brauchte, blieben Harry und Mrs. Hogendobber eben etwas länger.
»Mädels«, erklang Mims gebieterische Stimme, »der Virus hat die Crozet National Bank infiziert.«
»Unsere kleine Bank?« Harry konnte es nicht glauben.
»Ich habe Norman Cramer getroffen, und er hat gesagt, das verflixte Ding hat dauernd Informationen von anderen Unternehmen angezeigt, Futtermittelfirmen. Blödes Zeug, aber sie haben auf der Stelle mit den >Ungültig<--Befehlen gekontert und den Virus rasch außer Gefecht gesetzt.«
»Ein Schlaukopf, dieser Norman«, sagte Mrs. Hogendobber.
Harry kicherte. »Klar, er hat sich rettungslos in Aysha verknallt. Sehr schlau!«
»Ich habe nie eine Frau so hart arbeiten sehen, um einen Mann an Land zu ziehen. Man hätte meinen können, er sei ein Wal und nicht« - Mim überlegte einen Moment - »ein schmallippiger Barsch.«
»Drei zu null für Sie, Mrs. Sanburne«, jubelte Harry.
»Das Beste war, wie ich in Farmington das elfte Loch gespielt habe. Aysha, die in ihrem Leben keinen Golfschläger angeguckt hatte, machte den Caddy für Norman und seinen Golfpartner, diesen gutaussehenden Buchhalter David Wheeler. Und sie war da am Brunnen und hat die Golfbälle ins Wasser gelegt. Ich sagte: Aysha, was machst du da?<, und sie erwiderte: >Oh, ich wasche Normans Bälle. Sie haben so viele Grasflecken.<«
Darauf bogen sich die drei Frauen vor Lachen.
Pewter, die hinten auf dem Tisch lag, hob den Kopf. Mrs. Murphy war neben ihr zusammengerollt, hatte aber die Augen offen.
»Was hältst du von Norman Cramer?«
Mrs. Murphy erwiderte wie aus der Pistole geschossen: »Eine Niete.«
»Warum war Aysha dann so scharf drauf, ihn zu kriegen?« fragte Tucker, die auf dem Boden lag.
»Gute Familie. Aysha will Queen der White Hall Road sein, bevor sie vierzig ist.«
»Mach fünfzig draus, Murphy, sie muß jetzt Mitte Dreißig sein.« Pewter stupste die Tigerkatze mit der Hinterpfote an. Murphy stieß sie zurück.
»Hast du Don Giovanni schon gesehen?« erkundigte sich Mrs. Hogendobber bei Mim. »Ich geh vielleicht morgen hin, am Freitag.«
»Ich fand's phantastisch. Little Marilyn kann Opern nicht ausstehen, aber sie hat durchgehalten. Jim ist natürlich eingeschlafen. Als ich ihn weckte, sagte er, seine Pflichten als Bürgermeister unserer schönen Stadt hätten ihn ausgelaugt. Das einzige musikalische Ereignis, bei dem Jim nicht durchschläft, ist die Kapelle des Marine Corps. Die Pikkoloflöte rüttelt ihn jedesmal wach. So, ich hab heute abend eine Bridgeparty. «
»Warten Sie, eine Frage. Wie sieht die Hauptpartie aus?« Harry war neugierig.
»Sie hatte eine Perücke auf. «
»Ich meine, die männliche Hauptpartie.«
»Oh, der sah gut aus. Aber Harry, Sie werden doch nicht an so was denken. Sie haben doch schon zwei Männer, die verrückt nach Ihnen sind. Ihren Exmann und Blair Bainbridge, und ich muß sagen, der ist der bestaussehende Mann, den ich in meinem Leben gesehen habe, ausgenommen Clark Gable und Gary Cooper.«
Harry tat Mims Bemerkung mit einer Handbewegung ab. »Verrückt nach mir? Ich sehe Fair ab und zu, und Blair ist mein Nachbar. Bauschen Sie das bloß nicht zu einer Romanze auf. Sie sind meine Freunde, weiter nichts.«
»Wir werden sehen«, lautete die überlegene Antwort. Und damit verabschiedete sich Mim.
Harry wusch sich die Hände. Ihre Fingerspitzen waren von der kastanienbraunen Stempelfarbe des Postamts verschmiert. »Wir sollten die Farbe unseres Stempelkissens jedes Jahr wechseln. Ich kann dieses Braun nicht mehr sehen.«
»Und Sie beklagen sich über die Steuern. bedenken Sie, was das kosten würde.«
»Ja schon, aber dauernd sehe ich die Briefmarken anderer Länder und die Farbe der Poststempel, und einige sind sehr hübsch.«
»Solange die Post pünktlich ankommt.«, sagte Miranda. »Und wenn man bedenkt, wie viele Briefe der US-Postdienst an einem einzigen Tag befördert, an einem normalen Geschäftstag, das ist schon erstaunlich.«
»Okay, okay.« Harry lachte und hielt ihre Hände zur Begutachtung in die Höhe. »Ich möchte an meine Finger keine kostspielige Stempelfarbe verschwenden.«
»Sagen wir, Sie haben rosige Fingerspitzen von einer Farbe, die in der Natur nicht zu finden ist.«
»Okay, ich mach Schluß für heute.«