36

Harry benutzte die Sattelkammer als Büro. Sie holte ihren Block hervor und schrieb alles auf, was Fair ihr erzählt hatte. Anschließend führte sie auf, was sie über den Mörder von Mike Huckstep und Hogan Freely wußte. Ob dieselbe Person Norman getötet hatte, stand nicht fest, aber er war immerhin Chef der Kontenabteilung der Crozet National Bank. Harrys Vermutung war, daß die drei Morde zusammenhingen.


Sie schrieb:

1. Kennt sich mit Computern aus.

2. Kennt die Gewohnheiten der Opfer.

3. Kennt die Gewohnheiten von uns übrigen, wäre aber nach der Ermordung von Hogan Freely fast erwischt worden.

4. Tötet unter Druck. Reagiert schnell. Hat Kerry k.o. geschla­gen, bevor Kerry ihn sehen konnte, und es dann so hinge­stellt, als sei sie die Mörderin, oder aber der Mörder ist Kerrys Komplize. Nicht auszuschließen.

5. Arbeitet in der Bank oder kennt sich mit Bankgepflogenhei­ten aus, vielleicht von einem anderen Job. Hat möglicher­weise einen Schlüssel.

6. Kennt womöglich Malibu. Könnte sie als Köder benutzen. Vielleicht ist Malibu die Mörderin oder die Partnerin des Mörders.

7. Fühlt sich uns übrigen überlegen. Hat die Medien mit fal­schen Informationen über den Threadneedle-Virus gefüttert und dann zugesehen, wie wir sie gefressen haben.

8. Kann Motorrad fahren.


Um sechs Uhr nahm Harry den Hörer des alten schwarzen Wandapparates ab und rief Susan Tucker an. Murphy setzte sich auf den Schreibblock. Die Katze wußte nichts hinzuzufügen außer »bewaffnet und gefährlich«.

»Susan, entschuldige, daß ich dich geweckt habe.«

»Harry, alles in Ordnung mit dir?«

»Ja. Fair schläft auf der Couch. Er hat Norman Cramer heute früh erdrosselt aufgefunden.« »Was? Moment. Ned - Ned, wach auf.« Susan schüttelte ihren Mann.

Harry hörte, wie er im Hintergrund murmelte, wie zwei Füße über den Boden schlurften und dann der Hörer aufgenommen wurde.

»Harry.«

»Tut mir leid, daß ich dich geweckt habe, Ned, aber ich den­ke, es könnte Kerry nützen, weil du doch ihr Anwalt bist. Fair hat Norman Cramer in seinem Wagen vor der Del-Monte- Fabrik erdrosselt aufgefunden. Heute morgen gegen halb vier. Er wußte nicht, daß er tot war. Er hat die Wagentür aufgemacht, und Norman ist aufs Pflaster gekippt. Fair sagt, große Quet­schungen an seinem Hals und der Zustand seines Gesichts deu­ten auf Erdrosseln hin.«

»Mein Gott.« Ned sagte langsam: »Es war richtig von dir, uns anzurufen.«

»Sind denn alle verrückt geworden? Will der Mörder uns ei­nen nach dem anderen kaltmachen?« entfuhr es Susan.

»Wenn wir uns einmischen oder ihm zu nahe kommen, würde ich sagen, wir sind die nächsten.« Harry klang nicht gerade ermutigend.

»Ich rufe Mrs. H. und Mim an. Dann muß ich Fair wecken. Wie wär's, wenn wir uns alle zum Frühstück im Café treffen - halb acht? Hmm, vielleicht sollte ich Blair auch anrufen. Was sagst du dazu?«

»Ja, zu beidem«, antwortete Susan.

»Gute Idee. Wir sehen uns dort.« Ned hielt inne. »Und danke noch mal.«

Harry rief Mrs. Hogendobber an, die erschüttert war, Big Ma­rilyn, die sowohl erschüttert war als auch wütend darüber, daß so etwas in ihrer Stadt passieren konnte, und Blair, der, aus tiefem Schlummer gerissen, ganz benommen war.

Sie fütterte die Pferde, Mrs. Murphy und Tucker. Dann weck­te sie Fair. Sie machten sich frisch.

»Mrs. Murphy und Tucker, das wird ein schwerer Tag heute. Ihr zwei bleibt zu Hause.« Sie ließ die Küchentür offen, damit die Tiere auf die Veranda konnten. Sie stellte für jedes einen großen Napf Trockenfutter hin.

»Nimm mich mit«, winselte Tucker.

»Vergiß es«, sagte Mrs. Murphy unbewegt. »Sobald sie aus der Einfahrt sind, hab ich einen Plan.«

»Sag's mir jetzt.«

»Nein, die Menschen stehen noch hier.«

»Sie verstehen dich doch gar nicht.«

»Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.«

Harry küßte beide Tiere, dann sprang sie in den alten Trans­porter, während Fair in seinen großen Chevy-Kombi stieg. Sie fuhren zu dem Café in der Innenstadt. Er hatte in der Klinik angerufen. Dem Pferd ging es gut, daher beschloß er, der Grup­pe beim Frühstück Gesellschaft zu leisten.

»Mir nach«, befahl Murphy, sobald die Automotoren nicht mehr zu hören waren.

»Ich hab nichts dagegen, zu tun, worum du mich bittest, aber ich hasse es, Befehle entgegenzunehmen«, knurrte Tucker.

»Hunde sind folgsam. Katzen sind unabhängig.«

»Du hast sie ja nicht mehr alle.«

Trotzdem folgte Tucker Mrs. Murphy, als sie durch die vorde­ren Weiden und an der Reihe hoher Platanen am Ufer des Ba­ches, der die Weideflächen teilte, entlangsauste.

»Wo gehen wir hin?«

»Zu Kerry McCray. Der schnellste Weg ist, wenn wir uns nach Süden wenden. Auf diese Weise können wir auch die Straße meiden, aber wir müssen den Bach überqueren.«

»Du machst dir die Pfoten naß?«

»Wenn es sein muß«, gab die Katze entschlossen zur Antwort.

Im Dauerlauf kamen die beiden Tiere schnell voran. An dem breiten Bach blieb Murphy stehen.

»Das Wasser ist hoch. Wie kann es hoch sein, wenn es nicht geregnet hat?«

Tucker ging am Ufer entlang zu einer Biegung. »Hier hast du die Antwort. Ein großer, breiter Biberdamm.«

Mrs. Murphy trat zu ihrer kurzbeinigen Freundin. »Ich will mich nicht mit einem Biber anlegen.«

»Ich auch nicht. Aber die schlafen vermutlich. Wir könnten über den Damm rennen. Bis sie aufwachen, dürften wir drüben sein. Sonst müssen wir stromabwärts, wo es niedrig ist, eine Stelle zum Durchwaten finden.«

»Das dauert zu lange.« Sie atmete tief ein. »Okay, laß uns rennen wie der Blitz. Soll ich zuerst?«

»Klar. Ich bleib direkt hinter dir.«

Damit stürmte Mrs. Murphy los, alle viere in der Luft, aber über einen Biberdamm zu rennen erwies sich als schwierig. Sie mußte hier und da stehenbleiben, weil dicke Äste und kräftige Zweige die Oberfläche holprig machten. Murphy konnte hören, wie es sich im Innern des Biberbaus regte. Sie bahnte sich einen Weg durch das Gehölz, so schnell sie konnte.

»Egal, was passiert, Murphy, fall bloß nicht ins Wasser. Die ziehen dich runter. Wenn schon kämpfen, dann besser oben auf dem Damm.«

»Ich weiß, ich weiß, aber sie sind in der Überzahl. Und sie sind stärker als wir.« Sie rutschte aus, ihr rechtes Vorderbein sank in die Behausung. Sie zog es so schnell wieder heraus, als hätte es Feuer gefangen.

Schlitternd und schlingernd gelangte Murphy auf die andere Seite. Tucker, die schwerer war, hatte zu kämpfen. Plötzlich tauchte am anderen Ende des Dammes ein Biberkopf aus dem Wasser.

»Beeil dich!« schrie die Katze.

Tucker lief, ohne sich umzudrehen, so schnell sie konnte. Der Biber schwamm neben dem Damm her. Er hatte Tucker schon fast eingeholt.

»Laß sie in Ruhe. Sie will den Bach überqueren. Wir tun euch nichts«, flehte die Tigerkatze.

»Das sagen sie alle, und als nächstes tauchen Männer mit Ge­wehren auf, zerstören den Damm und töten uns. Hunde sind der Feind.«

»Nein, der Mensch ist der Feind.« Mrs. Murphy war verzwei­felt. »Zu so einem Menschen gehören wir nicht.«

»Das mag ja stimmen, aber wenn ich einen Fehler mache, könnte meine ganze Familie draufgehen.« Der Biber war jetzt neben Tucker, die das Bachufer fast erreicht hatte. Er packte Tuckers Hinterbein.

Der Hund drehte sich blitzschnell um und knurrte wütend. Der Biber schreckte für einen Moment zurück. Tucker torkelte vom Damm, gerade als das große Tier wieder auf sie losging. Auf festem Boden waren Tucker und Mrs. Murphy schneller als der Biber. Sie fegten davon, daß ihre Füße kaum die Erde berühr­ten.

Am Waldrand blieben sie stehen, um zu verschnaufen.

»Und wie kommen wir zurück?« überlegte Mrs. Murphy laut. »Ich mag nicht auf der Straße laufen. Die Leute fahren wie die Idioten.«

»Wir müssen eine Stelle zum Durchwaten finden, die weit ge­nug stromabwärts liegt, daß der Biber uns nicht hören kann. Schwimmen geht jetzt nicht. Der ganze Bau wird auf dem Po­sten sein.«

»Wir werden über eine Stunde bis nach Hause brauchen, aber darüber wollen wir uns später den Kopf zerbrechen. Wenn wir rennen, können wir in zehn Minuten bei Kerry sein.«

»Ich krieg wieder Luft. Düsen wir los.«

Sie flitzten über die Felder mit wilden Mohrrüben, Prachtker­zen und hoher Goldrute. Ein kleines Backsteinfarmhaus kam in Sicht. Zwei Streifenwagen parkten hinter Kerrys Toyota. Der Kofferraumdeckel stand offen.

»Hoffentlich kommen wir nicht zu spät.« Murphy schaltete auf Höchstgeschwindigkeit.

Tucker, ein rasender Teufel, wenn es sein mußte, sauste neben ihr her.

Sie kamen bei den Autos an, als Kerry gerade von Sheriff Shaw aus ihrem Haus geführt wurde. Cynthia Cooper trug in einer Plastiktüte eine geflochtene seidene Vorhangkordel mit Quasten an den Enden.

»Verdammt!« fauchte Murphy.

»Zu spät?« Tucker, die ihr ganzes Leben mit Mrs. Murphy verbracht hatte, konnte sich denken, daß die Katze gerne ein paar Nachforschungen angestellt hätte, bevor die Polizei eintraf.

»Es gibt noch eine Chance. Du springst Cynthia an, wenn sie die Hand ausstreckt, um dich zu streicheln, und schnappst dir die Plastiktüte. Ich zerfetze sie, so schnell ich kann. Steck deine Nase rein und sag mir, ob Kerrys Geruch an der Kordel ist.«

Ohne zu antworten, stürmte Tucker auf Cynthia los, die beim Anblick des kleinen Hundes lächelte.

»Tucker, wie kommst du denn hierher?« Tucker schloß ihre mächtigen Kinnbacken um die durchsichtige Plastiktüte. Cyn­thia war völlig überrumpelt. »He!«

Tucker riß Cynthia die Tüte aus der Hand und raste damit zu Mrs. Murphy, die weiter hinten auf dem Feld hockte, wo Cyn­thia sie nicht sehen konnte.

Kaum hatte Tucker die Tüte vor Mrs. Murphys Nase fallen lassen, da fuhr die Katze die Krallen aus und riß, was das Zeug hielt. Cooper näherte sich ihnen, ohne allerdings zu wissen, daß Mrs. Murphy auch da war.

Tucker steckte die Nase in die Tüte. »Das ist nicht Kerrys Ge­ruch.«

»Wessen Geruch ist es denn?«

»Gummihandschuhe. Kein Geruch außer Normans Eau de Co­logne.«

»Mrs. Murphy, du bist genau so ein Nichtsnutz wie Tucker.« Cooper hob entrüstet die zerfetzte Tüte auf.

»Wenn du ein Hirn in deinem Schädel hättest, würdest du merken, daß wir versuchen zu helfen.« Murphy rückte von Cyn­thia ab. »Tucker, nur zur Sicherheit, geh Kerry beschnuppern.«

Tucker wich Cynthia aus und lief zu Kerry, die neben dem Streifenwagen stand.

»Tucker Haristeen.« Kerry traten Tränen in die Augen. »We­nigstens eine Freundin, die zu mir hält.«

Tucker leckte ihr die Hand. »Es tut mir leid.«

Rick kam auf Tucker zu, und der Hund sprintete aus seiner Reichweite. »Tucker, komm wieder her. Komm schon, Mäd­chen.«

»Denkste.« Bellend begab sich der Hund wieder zu Mrs. Mur­phy, die flach auf dem Bauch in der Obstwiese lag.

»Komm, wir gehen zurück, bevor sie uns zur Strafe ins Tier­heim stecken.«

»Das würden sie nicht tun.« Tucker sah zu den Menschen hinüber.

»Coop schon«, meinte Murphy kichernd.

»Kerrys Geruch ist nicht an der Kordel. Nachdem ich sie un­tersucht habe, bin ich doppelt sicher.«

Während sie gemächlich zu ihrer Farm zurückwanderten, be­klagten die beiden Tiere Kerrys Schicksal. Der Mörder hatte die Mordwaffe in ihren Kofferraum gelegt. Angesichts ihrer Dro­hungen, Norman umzubringen, von denen inzwischen jeder Mensch und jedes Tier in Crozet wußte, hatte sie nicht die Spur einer Chance, für unschuldig befunden zu werden. Auch wenn zu bezweifeln stand, daß sie Hogan Freely erschossen hatte - was Norman betraf, würde es keinen Zweifel geben.

Als sie am Bach anlangten, waren beide niedergeschlagen.

»Meinst du, wir sind weit genug weg von dem Biber?«

»Murphy, ein Stückchen weiter unten ist es nicht so tief. Wenn wir herumtrödeln und eine Stelle zum Durchwaten su­chen, wo du mit einem Satz rüber kannst, sind wir noch den ganzen Tag hier. Mach dir einfach die Pfoten naß und fertig.«

»Du hast leicht reden. Du magst Wasser.«

»Augen zu und durch, wenn es so schlimm ist.«

Tucker spritzte durch den Bach. Murphy folgte nach heftigem Jammern. Auf der anderen Seite mußte Tucker auf sie warten, bis sie jede Pfote zuerst ausgiebig geschüttelt und dann abge­leckt hatte.

»Das kannst du machen, wenn wir zu Hause sind.«

Mrs. Murphy saß auf ihrem Hinterteil und hielt die rechte Hinterpfote in die Luft. »Ich lauf nicht mit diesem modrigen Geruch an mir rum.«

Tucker setzte sich hin, da sie Mrs. Murphy schon nicht von ihrer Toilette abbringen konnte. »Glaubst du, Norman war in die Sache verwickelt?«

»Ist doch sonnenklar.«

»Bloß für uns.« Tucker streckte den Kopf in die Höhe.

»Die Menschen werden annehmen, daß Kerry ihn getötet hat. Einige werden vielleicht denken, daß er dem Mörder in der Bank zu dicht auf der Spur war - oder daß er ihr Komplize war und kalte Füße gekriegt hat.«

»Kerry hätte ihn umbringen und dabei Gummihandschuhe be­nutzen können. Es ist möglich, daß wir uns irren.«

»Ist es nicht alles eine Charakterfrage?«

»Ja.«

»Tucker, wenn Norman nicht derjenige war, der hinter dem Computervirus steckte, glaubst du, er war der Typ, um dem Mörder auf die Spur zu kommen? An dem Fall dranzubleiben?«

»Er war kein totaler Feigling. Er hätte etwas rauskriegen kön­nen. Da er in der Bank arbeitete, hätte er es jemandem erzählt. Es hätte sich herumgesprochen, und - «

Mrs. Murphy, die ihre Toilette beendet hatte, stand auf und schüttelte sich. »Das ist richtig. Aber wir müssen uns auf unsere Instinkte verlassen. Drei Männer sind ohne Anzeichen eines Kampfes ermordet worden. Ich könnte mich in den Hintern beißen, weil ich nicht in die Gasse gerannt bin, um das Auto zu sehen. Ich hab das Auto des Mörders in der Nacht, als Hogan erschossen wurde, gehört. Pewter und ich, wir haben es beide gehört.«

»Ich hab dir schon mal gesagt, Murphy, du hast genau das Richtige getan.« Tucker machte sich wieder auf den Weg. »Ich glaube nicht, daß der Mörder noch einmal zuschlägt, es sei denn, bei noch einem Bankangestellten.«

»Wer weiß?«

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