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Das triste, aber praktisch eingerichtete Büro des Sheriffs paßte zu Rick. Er konnte Protz nicht ausstehen. Sein Schreibtisch war fast immer aufgeräumt, weil Rick die meiste Zeit im Streifen­wagen verbrachte. Er konnte Schreibtischarbeit sowenig ausste­hen wie Protz. Meistens haßte er es, drinnen eingesperrt zu sein.

Heute war sein Schreibtisch mit Aktenordnern übersät; der große Aschenbecher quoll über von Zigarettenkippen, und das Telefon klingelte pausenlos. Er war von dem lokalen Fernseh­sender, dem Lokalblatt und der großen Richmonder Zeitung interviewt worden. Dies ließ er über sich ergehen, weil er es für eine unumgängliche Pflicht hielt. Er war kein Sheriff, der sein Gesicht gerne in den Elfuhrnachrichten sah. Manchmal überließ er die Fragen Cynthia.

Der Coroner arbeitete bis spät in die Nacht an der Untersu­chung der Gewebeproben.

Bei der Leiche waren weder Führerschein noch sonstige Aus­weispapiere gefunden worden. Cynthia wußte, daß die Maschi­ne auf Michael Huckstep zugelassen war. Aber handelte es sich bei der Leiche um Michael Huckstep? Sie konnten es vermuten, aber solange sie keine eindeutige Identifizierung hatten, wußten sie es nicht mit Sicherheit. Es hätte ja auch jemand Huckstep umgebracht und sich für ihn ausgegeben haben können.

Rick hatte um eine Liste der vermißten Personen und eine mit gestohlenen Motorrädern gebeten. Er hatte sie bekommen. Nichts auf den beiden Listen aus Kalifornien stimmte mit der abgestellten Harley oder dem Toten überein.

Cynthia hastete ins Büro. Rick bedeutete ihr mit erhobener Hand, zu warten. Er beendete sein Telefongespräch, sobald er konnte.

»Mim«, sagte er.

Cynthia leerte den Aschenbecher in den Papierkorb. »Sie will immer alles als erste erfahren.« Sie stellte den Aschenbecher wieder an seinen Platz. »Wir haben das Motorrad untersucht. Nichts. Keine Fingerabdrücke. Wer immer es zum Postamt fuhr, hat Handschuhe getragen.«

»Motorradfahrer tragen meistens Handschuhe.«

»Was wollte der wohl in Sugar Hollow?«

Rick hielt die Hände in die Höhe, während er auf seinem Drehstuhl kreiste. »Sich die Gegend angucken?« Er drehte sich in die Gegenrichtung, hielt dann an. »Mir wird schwindlig.«

»Ohne Drogen wären wir arbeitslos«, scherzte Cynthia. »Ich wette, er wollte dort einen Deal abwickeln. Sugar Hollow ist hübsch, aber nicht gerade eine Touristenattraktion. Er war mit jemandem dort, der sich in dieser Gegend auskennt - jede Wet­te.«

Sie nahm sich bedächtig eine Zigarette aus Ricks Päckchen, zündete sie an und sagte: »Wir haben sein Motelzimmer durch­sucht. Der Motorradfahrer hatte Blair erzählt, daß er im Best Western wohnt. Der Geschäftsführer, der Nachtportier und die Zimmermädchen haben Mike Huckstep - unter diesem Namen hatte er sich eingetragen - seit Tagen nicht gesehen. Sie achten wohl nicht besonders auf das Kommen und Gehen der Leute. Sie sind sich nicht einig, wann er zuletzt gesehen wurde, aber er soll ganz ruhig und höflich gewesen sein, als er sich anmeldete - und er hat für eine Woche im voraus bezahlt.«

»Irgendwas im Zimmer?«

»Drei T-Shirts und eine saubere Jeans. Sonst nichts. Kein No­tizblock, kein Bleistift, nicht mal Socken und Unterwäsche. Keine Taschenbücher oder Illustrierten. Null.«

»Ich habe mir das Protokoll Ihrer Befragungen des Personals von Ash Lawn sowie von Harry und Blair noch mal durchgele­sen. Wissen Sie.« er kippte auf seinem Stuhl nach hinten und legte die Füße auf die Ordner auf dem Schreibtisch -, ». das paßt nicht zusammen.«

»Sie meinen die Aussagen?«

»Nein, nein, die sind in Ordnung. Ich meine den Mord. Er führt zu nichts. Vielleicht war es ein verpatzter Deal, und der Mörder hat sich gerächt und das Geld genommen. Der Tote hatte kein Geld in seinen Taschen.«

»Könnte sein.« Ihre Stimme verlor sich, wurde dann wieder fest. »Aber Sie glauben nicht, daß es ein verpatzter Drogendeal war, oder?«

»Sie sind schon zu lange mit mir zusammen. Sie und meine Frau durchschauen mich total.« Er legte die Hände hinter den Kopf. »Nein, Coop, das glaube ich nicht. Ich empfinde einen Mord als persönliche Beleidigung. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß jemand damit durchkommt. Die Regeln, wie man auf dieser Welt zurechtkommt, sind denkbar einfach. Du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen - scheint mir vernünf­tig. Klar, es gibt Zeiten, da könnte ich meiner Frau den Schädel einschlagen und umgekehrt - aber ich tu's nicht, und sie tut's nicht. Ich zähl bis zehn, manchmal auch bis zwanzig. Wenn ich mich beherrschen kann, nehm ich an, daß andere es auch kön­nen.«

»Ja, aber ich glaube, Mord hat mit etwas zu tun, das tiefer liegt. Etwas Infantilem. Unterschwellig sagt ein Mörder: >Ich will meinen Willen. < So einfach ist das. Mörder können nicht begreifen, daß andere Menschen rechtmäßige Bedürfnisse ha­ben, die sich von ihren eigenen unterscheiden und zu ihnen im Widerspruch stehen. Immer heißt es nur ich, ich, ich. Oh, sie können sich reif, besorgt oder wie auch immer stellen, aber unterschwellig sind sie Kinder in gewaltiger, bebender Wut.«

Rick fuhr mit den Händen über seinen fliehenden Haaransatz. »Haben Sie heimlich Bücher über Psychologie gelesen, Coop?«

»Nee.«

Das Telefon klingelte. Ein Beamter ging außerhalb von Ricks Büro dran, rief dann herüber: »Cynthia, die Kfz-Meldestelle in Kalifornien. Soll ich's in Ricks Büro legen?«

»Ja bitte.« Sie drückte auf einen Knopf. »Hier Deputy Coo­per.« Sie hielt inne, hörte zu. »Das wäre prima.« Sie gab die Faxnummer ihrer Dienststelle durch. »Vielen Dank.« Sie legte auf. »Mike Huckstep. Sie faxen uns seine Papiere und seinen Führerschein. Dann haben wir endlich eine Personenbeschrei­bung.«

Rick grunzte. »Wer zum Teufel ist Mike Huckstep?«

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