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Der Labor Day am ersten Montag im September läutete das Ende des Sommers ein. Das Wochenende war angefüllt mit der üblichen Folge von Grillfesten, Partys, Schlauchbootfahrten auf dem James River, Golfturnieren und Schuleinkäufen in letzter Minute.

Gut zwei Wochen waren vergangen, seit Norman erdrosselt worden war. Kerry McCray, deren Verteidigung in den Händen von Ned Tucker lag, war gegen eine Kaution von 100.000 Dol­lar, die ihr sehr viel älterer Bruder Kyle aus Colorado Springs aufgebracht hatte, auf freien Fuß gesetzt worden. Kyle war er­schüttert, als er über die Vorfälle unterrichtet wurde, aber er hielt zu seiner Schwester. Er fürchtete, man würde Kerry schlecht behandeln. Er schwor einen heiligen Eid, daß die Mo­torradkluft ihm gehörte. Die Sachen waren aus dem Labor zu­rückgekommen, wo man keine Blut- oder Pulverspuren darauf gefunden hatte. Die meisten sagten, er würde lügen, um die Haut seiner Schwester zu retten, und ließen die Tatsache außer acht, daß er in den siebziger Jahren ein Motorrad besessen hatte.

Die Sonne ging mit jedem Tag früher unter, und obwohl Har­ry das milde Licht von Herbst und Winter liebte, fand sie die kürzeren Tage hektisch. Oft wachte sie bei Dunkelheit auf und kam bei Dunkelheit nach Hause. Ihre Farmarbeit mußte getan werden, komme, was da wolle.

Fair und Blair wechselten sich höflich ab, Harry auszuführen. Manchmal wurden ihr die Aufmerksamkeiten zuviel. Mrs. Ho­gendobber riet ihr, jede Minute auszukosten.

Cynthia Cooper und Rick Shaw ließen es etwas entspannter angehen. Cynthia deutete an, sobald sich die Termine koordi­nieren ließen, würden sie eine Person kommen lassen, die Ker­rys Schiff zum Sinken bringen könnte.

Mrs. Murphy, Tucker und sogar Pewter zerbrachen sich die Köpfe nach einem fehlenden Glied in der Beweiskette, aber keine konnte es finden. Selbst wenn die Menschen die Wahrheit über die Witterung, die nie versagte - Witterung bleibt Witte­rung -, gekannt hätten und selbst wenn sie gewußt hätten, daß Kerrys Geruch nicht an der Mordwaffe war, sprach alles dafür, daß sie es unberücksichtigt gelassen hätten. Die Menschen nei­gen dazu, nur die Sinne gelten zu lassen, die sie selbst wahr­nehmen. Sie ignorieren die Realität jeder anderen Spezies, und schlimmer noch, sie schließen jegliche widersprüchlichen Be­weise aus. Die Menschen müssen sich sicher fühlen. Die beiden Katzen und der Hund waren in diesem Punkt viel klüger. Nie­mand ist jemals sicher. Warum dann nicht das Leben genießen, wo man nur kann?

Die Postlawine am Dienstag nach dem Feiertag versetzte Har­ry und Mrs. Hogendobber in Erstaunen.

»Herbstkataloge«, stöhnte Harry. »Die werden immer schwe­rer.«

Little Marilyn kam durch den Vordereingang zum Schalter. »Feiertage müssen euch zuwider sein.«

»Nö.« Harry schüttelte den Kopf. »Es sind die Kataloge.«

»Wißt ihr, was ich gemacht habe?« Sie stellte ihre Handtasche auf den Schalter. »Ich hab die Briefe gelesen, die Kerry, Aysha und ich uns geschrieben haben, als wir im Ausland waren, und die Briefe, die Aysha mir geschickt hat, als ich wieder zu Hause war. Ich kann nichts Unausgeglichenes in Kerrys Briefen fin­den. Unsere Briefe sind, wie man es von jungen Frauen, frisch vom College, erwarten würde. Wir haben uns geschrieben, wo wir waren, was wir lasen, wen wir kennenlernten und mit wem wir uns trafen. Ich habe nach einer Antwort gesucht, wie je­mand, den ich so lange kannte, eine Mörderin sein kann.« Sie stützte den Kopf auf die Hand. »Ich habe keine gefunden. Al­lerdings habe ich noch einen Schuhkarton voll. Vielleicht findet sich da drin etwas.«

»Hättest du was dagegen, wenn ich die Briefe auch lese?«

Miranda runzelte die Stirn. »Harry, das ist private Korrespon­denz.«

»Deshalb frage ich ja. Marilyn kann jederzeit nein sagen.«

»Ich wäre froh, wenn du sie lesen würdest. Vielleicht fällt dir etwas auf, das mir entgangen ist. Bekanntlich liegen die Lösun­gen, nach denen du suchst, genau vor deiner Nase. Die Brief­marken wolltest du ja sowieso sehen.« »Wenn das so ist, hast du was dagegen, wenn ich mich betei­lige?« erbot sich Mrs. Hogendobber, und natürlich sagte Little Marilyn, sie habe absolut nichts dagegen.

Je zwei Tassen Kaffee und ein Stück von Mrs. Hogendobbers Kirschkuchen später saßen die Damen, von Schuhkartons um­geben, in Little Marilyns Wohnzimmer. Mrs. Murphy quetschte sich in einen Karton und schlief darin ein. Tucker, den Kopf auf den Pfoten, döste auf dem kalten Schieferkamin.

»Da seht ihr, nichts Besonderes.«

»Außer, daß alle sich gewählt ausdrücken.«

Harry fügte hinzu: »Am besten hat mir der Brief gefallen, in dem Aysha schrieb, du sollst ihr tausend Dollar leihen, weil du genug hast, um es zu verleihen.«

Little Marilyn winkte ab. »Das hat sie hinter sich. So, ich bin mit dem letzten fertig. Jetzt kann ich sie wieder ordnen.«

Big Marilyn klopfte an die Tür. Ihre Tochter bewohnte ein Nebengebäude auf dem Grundstück ihrer Mutter. Obwohl Ne­bengebäude das zutreffende Wort war, wurde damit das reizen­de Holzhaus, ein schlichter Bau von Anfang des 19. Jahrhun­derts, mit dem Blechdach und den grünschwarzen Blendläden nur unzureichend beschrieben. »Hallo, Mädels. Was gefun­den?«

»Nein, Mutter. Wir sind gerade dabei, die Briefe wieder weg­zuräumen.«

»Ihr habt euch bemüht, das ist die Hauptsache.« Sie atmete tief ein. »Was ist das für ein verlockender Duft?«

»Kirschkuchen. Den mußt du probieren. Ich habe mein Sorti­ment jetzt um Kuchen erweitert. Market hat meine Doughnuts, Muffins und süßen Brötchen jeden Morgen um halb neun aus­verkauft. Er sagt, er braucht etwas für das Feierabendgeschäft, deswegen experimentiere ich jetzt mit Kuchen.«

»Bloß ein winziges Stückchen. Wegen der Kalorien.« Mim hielt die Finger dicht aneinander, während Miranda ihre Bitte ignorierte und ihr eine ordentliche Portion abschnitt. Dabei platschte ein Tropfen Kirschsaft auf einen Brief.

»Wie ungeschickt von mir.«

»Machen Sie sich deswegen keine Gedanken«, tröstete Little Marilyn sie.

Mrs. Hogendobber legte das Messer auf die Kuchenplatte, dann beugte sie sich vor und wischte den Brief vorsichtig mit einer Serviette ab. »Hmmm.«

»Mrs. Hogendobber, Sie brauchen sich deswegen wirklich keine Gedanken zu machen.«

»Tu ich auch nicht.« Miranda reichte Harry den Brief. »Ko­misch.«

Harry betrachtete den Luftpostumschlag aus Frankreich, der 1988 in St. Tropez abgestempelt worden war. »Da wollte ich immer mal hin.«

»Wohin?« fragte Mim.

»Nach St. Tropez.«

»Der ist von Aysha. Ich glaube, sie hat keine Stadt in Frank­reich ausgelassen.«

»Gucken Sie genauer hin.« Mrs. Hogendobber zeigte auf den Poststempel.

Harry blinzelte. »Die Stempelfarbe.«

»Genau.« Mrs. Hogendobber faltete die Hände, erfreut über Harrys Leistung, als wäre sie eine Musterschülerin.

Mim war neugierig. »Wovon redet ihr beiden?«

Harry ging zu ihr hinüber und legte der älteren Marilyn den Brief in den Schoß. Mim holte ihre Halbbrille hervor und hielt sich den Brief vor die Nase.

»Sehen Sie sich die Farbe des Stempels an.« Harry suchte in den Stapeln nach einem anderen Brief aus Frankreich. »Ah, hier ist einer. Paris. Sehen Sie, hier die Farbe. Der ist von Kerry.«

»Anders, nur ein bißchen, aber auf jeden Fall anders.« Mim setzte die Brille ab. »Sind Stempelfarben nicht wie Farbpartien? Dieser Brief ist aus Paris. Der andere aus St. Tropez.«

»Ja, aber Poststempelfarben sind bemerkenswert konstant.« Harry war jetzt auf Händen und Knien auf dem Boden. Sie zog Briefe hervor. »Die Briefe von 1986 sind echt. Aber hier, hier ist einer aus Florenz, Dezember 1987.« Harry reichte Little Marilyn diesen Brief und zugleich einen aus Italien aus dem Jahr zuvor.

»Die sind tatsächlich eine Idee verschieden.« Little Marilyn war verwundert.

Sekunden später knieten Harry und Mrs. Hogendobber beide auf dem Boden und warfen die Briefe auf getrennte Stapel, nach Jahrgängen sortiert.

»Ihr beide seid fix. Laßt mich helfen.« Little Marilyn beteilig­te sich.

»Willst du im Postamt arbeiten?« witzelte Harry.

Mim blieb im Sessel sitzen. Die Knie taten ihr weh, und sie mochte es nicht zugeben. Schließlich hatten sie alle Stapel sor­tiert.

»Es besteht kein Zweifel. Kerrys Poststempel sind echt. Ays­has sind echt bis 1987. Dann ändern sich die Stempelfarben.« Harry rieb sich das Kinn. »Das ist eigenartig.«

»Das ist doch sicher ein Irrtum.« Mim war von der Tragweite dieser Entdeckung verwirrt.

»Mim, ich arbeite im Postamt, seit George es 1958 übernom­men hat. Dieser Poststempel ist gefälscht. Jeder gute Schreib­warenhändler kann einen runden Stempel machen. Das ist ganz einfach. Aysha hat die Stempelfarben fast hingekriegt, vermut­lich hat sie sich an den Poststempeln auf den Briefen orientiert, die sie von Little Marilyn und Kerry aus Europa bekommen hat, aber verschiedene Länder haben verschiedene Rezepturen. Denk nur an das Briefpapier selbst. Ist dir schon mal aufgefal­len, daß das Papier von einem privaten Brief aus England ein bißchen anders ist als unseres?«

Big Marilyn stellte die Schlüsselfrage: »Aber wie sind die Briefe hierhergekommen?«

»Das ist einfach, wenn man eine Freundin in Crozet hat.« Har­ry kreuzte die Beine wie ein Inder. »Sie brauchte nichts weiter zu tun, als die Briefe in einem großen Umschlag herzuschicken und von ihrer Freundin verteilen zu lassen.«

»So ungern ich es zugebe, aber als George Postvorsteher war, hat er eine Menge Leute hinter den Schalter gelassen. Das tun wir auch, ehrlich gesagt, wie ihr sehr wohl wißt. Es dürfte nicht viel dazu gehört haben, diese Briefe in das entsprechende Schließfach zu stecken, wenn gerade keiner hinsah. Einige Brie­fe sind an Little Marilyn zu Händen von Ottoline Gill adres­siert.« »Hm, ich glaube, wir wissen also, wer ihre Freundin war«, sagte Harry.

»Warum hätte ihre Mutter bei so einem Trick mitmachen sol­len?« Mim war verblüfft. Aber Mim war ja auch gesichert in ihrer gesellschaftlichen Stellung.

»Weil sie niemanden wissen lassen wollte, was Aysha wirk­lich machte. Vielleicht paßte es nicht ins Bild«, erwiderte Har­ry.

Little Marilyns Augen wurden weit. »Wo war sie dann, und was hat sie gemacht?« fragte sie.

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