30

Beim Auffüllen der Frankiermaschine bekam Harry jedesmal klebrige rote Stempelfarbe an ihre Finger und ihr T-Shirt, und auch der Schalter bekam etwas ab. Sosehr sie auch aufpaßte, Harry schaffte es immer, etwas zu verschütten.

Mrs. Hogendobber holte ein Handtuch und wischte die Trop­fen ab. »Sieht aus wie Blut.«

Harry klappte den Deckel der Maschine zu. »Macht mir eine Gänsehaut - nach allem, was passiert ist.«

Little Marilyn kam mit einem forschen »Hallo« herein. Sie öffnete ihr Schließfach mit solchem Schwung, daß die Tür aus Metall und Glas gegen das Nachbarfach knallte. Sie nahm ihre Post heraus, sortierte sie beim Papierkorb, kam dann an den Schalter. »Ein Brief von Steve O'Grady aus Afrika. Schauen Sie sich auch so gerne ausländische Briefmarken an?«

»Ja. Das ist eine Art Miniaturkunst«, erwiderte Miranda.

»Als Kerry, Aysha und ich nach dem College in Europa wa­ren, sind wir eine Weile in Florenz geblieben, dann haben wir uns getrennt. Ich hatte ein Interrail-Ticket, und ich bin wohl durch jedes Land gesaust, das nicht hinter dem Eisernen Vor­hang lag. Die vielen Postkarten und Briefe hab ich den anderen vor allem geschickt, damit sie die Marken bekamen, nicht so sehr, damit sie mein Gekritzel lasen. Wir haben uns fleißig Briefe geschrieben.«

Miranda bot Marilyn ein Stück frisches Bananenbrot an. »Ihr seid so lange die allerbesten Freundinnen gewesen. Was ist passiert?«

»Nichts. Jedenfalls nicht in Europa. Wir hatten unterschiedli­che Pläne, aber keine war den anderen böse deswegen. Kerry ist als erste nach Hause gefahren. Sie war in London und bekam Heimweh. Aysha lebte in Paris, und ich bin in Hamburg gelan­det. Mom meinte, ich sollte mir entweder einen Job suchen oder den Porsche-Direktor heiraten. Ich hab ihr erklärt, daß der in Stuttgart sitzt, aber sie fand das gar nicht komisch. Ich hab die Briefe noch, die wir uns damals geschrieben haben. Ayshas waren sehr ausführlich. Kerrys Briefe waren eher sachlich. Es war die Geschichte mit Norman, die uns drei Musketiere ausei­nanderbrachte. Auch als ich schon verheiratet war, haben wir noch zusammengesteckt. Als Kerry dann mit Norman zusam­men war und ich von dem Monster geschieden wurde, haben wir viel gemeinsam unternommen.«

»Vielleicht besitzt Norman verborgene Talente«, grübelte Harry.

»Sehr verborgen«, rief Mrs. Murphy aus der Tiefe des Post­karrens.

»Kerry war davon überzeugt. Sie hatten immer Gesprächs­stoff.« Marilyn lachte. »Aysha kriegte auf einmal Torschlußpa­nik - à la >alle deine Freundinnen sind verheiratet, nur du nicht<. Dann hat Ottoline ihr auch noch in den Ohren gelegen.«

Mrs. Murphy steckte den Kopf aus dem Postkarren. »Panik? Das muß ein schwerer epileptischer Anfall gewesen sein.«

Pewter schob sich durch das Katzentürchen. »Ich bin's.«

»Ich weiß«, rief Murphy. Pewter sprang zu ihr in den Postkar­ren.

»Ist es nicht ein Wunder, daß die beiden Katzen Kerry gefun­den haben?« Marilyn beobachtete die beiden Tiere, die sich im Postkarren herumwälzten und balgten.

»Die Wege des Herrn sind wunderbar«, sagte Mrs. H.

Mrs. Murphy und Pewter ließen von ihrer Balgerei ab.

»Man sollte meinen, sie würden erkennen, daß der Allmächti­ge eine Katze ist. Menschen stehen weiter unten in der Hierar­chie der Lebewesen.«

»Das werden die nie kapieren. Zu egozentrisch.« Pewter schlug Murphy auf den Schwanz, und sie nahmen die Balgerei wieder auf.

»Ich sollte die alten Briefe raussuchen.« Little Marilyn ging zur Tür. »Wäre interessant zu vergleichen, wer wir damals wa­ren und wer wir heute sind.«

»Bring sie mal mit, damit ich mir die Briefmarken ansehen kann.«

»Okay.«

Miranda schnitt noch ein Stück Bananenbrot ab. »Marilyn, glaubst du, daß Kerry einen Menschen töten könnte?« »Ja. Ich glaube, jeder von uns könnte töten, wenn es sein müß­te.«

»Aber Hogan?«

Sie atmete tief durch. »Mrs. H. ich weiß es einfach nicht. Es scheint undenkbar, aber.«

»Wo hat Kerry in London gearbeitet - wenn überhaupt?«

»In einer Bank. Der Londoner Zweigstelle einer der großen amerikanischen Banken. Dort hat sie ihre Berufung entdeckt, so hat sie es mir zumindest erzählt.«

»Davon habe ich nie was gehört.« Harrys Gedanken über­schlugen sich.

»Sie ist verschwiegen. Außerdem, wie viele Menschen inter­essieren sich schon für das Bankwesen, und ihr zwei seid be­stenfalls Bekannte. Ich meine, es hat nichts zu bedeuten, wenn sie es dir nicht erzählt hat.«

»Hm, ja«, erwiderte Harry matt.

»So, ich muß weiter, Besorgungen machen.« Marilyn stieß die Tür auf, und ein Schwall schwüler Luft schwappte herein. Und mit ihm Rick und Cynthia.

»Darf ich?« Rick zeigte auf die niedrige Klapptür, die den Kunden- vom Arbeitsbereich trennte.

»Wie höflich, erst zu fragen.« Mrs. Hogendobber hielt die Klapptür auf.

Cynthia folgte ihm. Sie legte einen Ordner auf den Tisch und schlug ihn auf. »Das hier hat mir der Besitzer einer Bar in San Francisco geschickt, wo Huckstep gearbeitet hat.« Sie reichte Harry und Mrs. Hogendobber Zeitungsartikel über George Jar­vis' Selbstmord.

Harry las ihren zuerst, dann schaute sie Miranda über die Schulter.

»Die Sache ist so, daß dieser Jarvis, ein Mitglied des Bohemi­an Club, Typ Säule der Gesellschaft, homosexuell war. Nie­mand hat es gewußt. Er wurde von Mike Huckstep und Malibu, seiner Freundin oder Frau - wir sind nicht sicher, ob sie tatsäch­lich verheiratet waren - erpreßt. Sie muß ein eiskaltes Luder sein; denn sie hat sich versteckt und Mike dabei fotografiert, wie er es mit seinen Opfern trieb, und damit hat die Erpressung angefangen.«

»In dem Trauring stand M&M.« Harry gab Cynthia den Zei­tungsausschnitt zurück.

»Ich will keine voreiligen Schlüsse ziehen. Wir haben in San Francisco das Heiratsregister vom 12. Juni 1986 überprüft. Von Huckstep keine Spur. Es ist wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Die umliegenden Bezirke haben wir ebenfalls über­prüft. Nach und nach werden wir sämtliche Register Kaliforni­ens durchgehen.«

»Wer weiß, vielleicht haben sich die beiden ans Meer gestellt und sich ewige Treue geschworen«, meinte Rick sarkastisch. »Oder sie sind nach Reno gegangen.«

»Wir haben eine Bekanntmachung an alle Polizeireviere Ame­rikas und an die Registerämter aller Bezirke geschickt. Es kommt vielleicht nichts dabei heraus, aber wir lassen nichts unversucht.«

Cynthia zog eine 20 x 30-Hochglanzvergrößerung von einem Schnappschuß hervor. »Mike.«

»Sieht besser aus als an dem Tag, als er nach Ash Lawn ge­brettert kam.«

»Niemand hat Anspruch auf die Leiche erhoben«, teilte Rick ihnen mit. »Wir haben ihn auf dem Bezirksfriedhof beigesetzt. Wir haben uns Zahnarztunterlagen besorgt, um zu beweisen, daß er es wirklich war. Wir mußten ihn schließlich unter die Erde bringen.«

»Hier ist noch ein Foto. Das ist alles, was Frank Kenton ge­funden hat. Er sagt, er hat jeden angerufen, an den er sich aus der Zeit, als Mike an der Bar bediente, erinnern kann.«

Im Hintergrund des Fotos stand eine verschwommene Gestalt mit dem Rücken zum Betrachter. »Malibu?« fragte Harry.

Mrs. Hogendobber setzte ihre Brille auf. »Alles, was ich er­kennen kann, sind lange Haare.«

»Frank weiß wenig über sie. Sie hatte einen Teilzeitjob in der Anvil-Bar, die ihm gehört - ein Schwulentreffpunkt. Für die Stammgäste hätte Malibu ebensogut ein Stück Tapete sein kön­nen, zudem schien sie ein zurückhaltender Typ zu sein. Frank sagt, er kann sich nicht erinnern, auch nur ein einziges persönli­ches Gespräch mit ihr geführt zu haben.«

»Hat er von der Masche der beiden gewußt?« Harry starrte auf die Gestalt.

»Er ist schließlich dahintergekommen. Huckstep und Malibu sind im letzten Moment abgehauen. Ich vermute, daß sie mit einer ganzen Wagenladung Geld verschwunden sind. Sie sind nach Los Angeles gezogen, wo sie ihr >Gewerbe< fortgeführt haben dürften, auch wenn sie offenbar nie dabei erwischt wur­den. Leichtes Spiel in so einer großen Stadt.«

Rick nahm den Faden auf, als Cynthia fertig war. »Wir glau­ben, daß sie in der Gegend um Charlottesville war, als Mike hierherkam. Wir wissen nicht, ob sie noch in der Nähe ist. Oh, noch eine Kleinigkeit. Wir haben ein paar Einzelheiten über Mikes Herkunft zusammengefügt. Seine Sozialversicherungs­nummer hat uns dabei geholfen. Frank Kenton hatte die Num­mer in seinen Unterlagen. Mike ist in Fort Wayne, Indiana, aufgewachsen. Er hat an der Northwestern University Informa­tik als Hauptfach belegt und nur Einsernoten gehabt.«

Harry klatschte in die Hände. »Der Threadneedle-Virus!«

»Das ist ein kühner Schluß, Harry«, warnte Rick, dann über­legte er einen Moment. »Allerdings, Kerry hätte genau an der richtigen Stelle gesessen, um mitzumachen.«

Harry legte einen Postsack zusammen. »Wenn sie so schlau war, deren Tricks auszuhecken oder mit dem Computer-Genie gemeinsame Sache zu machen, dann war es ganz schön blöd von ihr, sich erwischen zu lassen. Irgendwie paßt das nicht zu­sammen.«

»Die Mordwaffe paßt auf alle Fälle.« Cynthia nahm ein Stück Bananenbrot, das Miranda ihr anbot.

»Also, ihr zwei« - Mirandas Stimme war mit Humor gewürzt -, »Sie sind doch nicht hier, um uns ein Foto von einem Rücken zu zeigen. Ich weiß, daß Sie zwei Morde aufzuklären haben. Sie würden die größte Mühe darauf verwenden, Hogans Mörder zu finden, nicht den Mörder des Fremden. Also müssen Sie glau­ben, daß die beiden Morde zusammenhängen, und Sie müssen uns auf irgendeine Weise brauchen.«

Ricks Kiefer erstarrte mitten im Kauen. Mrs. Hogendobber war gerissener, als er ihr zugetraut hatte. »Na ja. « »Uns können Sie vertrauen.« Miranda bot ihm noch ein Stück Bananenbrot an.

Er schluckte. »Ohne Frage. Es ist bloß.«

Cynthia unterbrach ihn. »Wir sollten es ihnen lieber sagen.«

Hierauf wurde es still.

»Na gut«, stimmte Rick zögernd zu. »Sie sagen es ihnen. Ich

esse.«

Cynthia schnappte sich ein Stück Brot, bevor er den ganzen Laib verschlingen konnte.

»Wir haben unsere Leute an die Computer der Crozet Natio­nal Bank gesetzt. Es ist nicht viel dabei herausgekommen, denn der Dieb hat seine Spuren verwischt. Aber eine interessante Sache haben wir gefunden. Ein Konto, das auf Mr. und Mrs. Michael Huckstep eröffnet wurde.«

Harry stieß einen Pfiff aus.

Miranda fragte: »Mr. und Mrs.?«

Cynthia fuhr fort: »Wir haben die Unterschriftskarten heraus­gesucht. Aber wir können die Echtheit seiner oder ihrer Unter­schrift nicht überprüfen.«

»Können Sie sie nicht mit der Unterschrift auf seinem Führer­schein vergleichen?« fragte Harry.

»Oberflächlich, ja. Sie stimmen überein. Aber um die Echtheit festzustellen, brauchen wir einen Handschriftensachverständi­gen. Wir haben eine Frau aus Washington hierherbestellt.« Sie hielt inne, um Atem zu holen. »Und was die Unterschrift von Mrs. Huckstep angeht. sie stimmt, wiederum oberflächlich, mit keiner Handschrift von jemandem in der Bank überein.«

»Wann hat er oder sie das Konto eröffnet?« fragte Harry.

»Am dreißigsten Juli. Er hat 4218,64 Dollar in bar einge­zahlt.« Rick wischte sich den Mund mit einer Serviette ab, die Miranda bereitgelegt hatte. »Die für die Eröffnung des Kontos zuständige Bankangestellte war Kerry McCray.«

»Sieht schlecht aus.« Harry atmete aus.

»Und wenn.« Mrs. Hogendobber preßte die Finger aneinan­der. »Ach, vergessen Sie's.«

»Nein, reden Sie weiter«, forderte Rick sie auf.

»Und wenn Kerry das Konto eröffnet hat? Das muß nicht hei­ßen, daß sie ihn kannte.« »Kerry beharrt darauf, daß sie nie ein Konto für Mr. und Mrs. Huckstep eröffnet hat, obwohl sie den ganzen dreißigsten Juli in der Abteilung war«, sagte Rick mit schwerer Stimme. »Auf jedem Konto ist eine Identifikationsnummer der Angestellten. Kerrys Nummer ist auf Hucksteps Konto.«

»Ist das fehlende Geld auf seinem Konto?« erkundigte sich Harry.

»Nein«, antworteten beide.

Cynthia ergänzte: »Wir können keine fünf Cents finden.«

»Hm, ich frage das nicht gerne, aber war es auf Hogan Freelys Konto?« Harry zuckte unter Mirandas verachtungsvollem Blick zusammen.

»Nein«, erwiderte Rick.

»Nach allem, was wir wissen, könnte das Geld, das am ersten August verschwand, auf einem Konto deponiert sein, dessen Code wir nicht knacken können, um zu einem späteren, unver­fänglichen Datum abgerufen zu werden«, fügte Cynthia hinzu.

»Vielleicht ist das Geld auf einer anderen Bank oder sogar in einem anderen Land«, sagte Miranda.

»Wenn zwei Millionen Dollar oder mehr auf einem Privatkon­to aufgetaucht wären, würden wir es längst wissen.«

»Rick, und was ist mit einem Firmenkonto?«

»Harry, das ist etwas komplizierter, weil die großen Unter­nehmen laufend beträchtliche Beträge umbuchen. Ich denke, früher oder später würden wir es aufspüren, aber der Dieb und höchstwahrscheinlich der Mörder, ein und dieselbe Person, müßte jemanden in einer oder mehreren der 500 größten Gesell­schaften sitzen haben«, erklärte Rick.

»Oder jemanden in einer anderen Bank.« Harry konnte sich keinen Reim darauf machen. Sie hatte keinen Schimmer.

»Möglich.« Cynthia ließ ihre Knöchel knacken. »Verzei­hung.«

»Was können wir tun?« Miranda wollte gerne helfen.

»Hier kommt jeder durchgestapft. Halten Sie Augen und Oh­ren offen«, bat Rick.

»Das tun wir sowieso.« Harry lachte. »Wissen Sie, Big Mari­lyn hat uns gebeten, auf eingeschriebene Briefe zu achten. Könnten Aktienzertifikate sein. Nichts.« »Danke für die Information über Threadneedle.« Rick stand auf. »Ich glaube nicht, daß Kerry das allein hätte durchziehen können.«

Miranda schluckte.

Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, flüsterte Harry: »Nor­man?«

Rick zuckte die Achseln. »Wir haben absolut nichts gegen ihn in der Hand. Aber wir überprüfen jeden einzelnen in dieser Bank, bis hin zum Pförtner. Halten Sie die Augen offen.« Rick hob die Trennklappe, und Cooper folgte ihm.

»Wenn die Menschen schon für tausend Dollar töten, beden­ken Sie, was sie für zwei Millionen tun würden.« Cynthia klopfte Harry auf den Rücken. »Merken Sie sich, wir sagten, passen Sie auf. Wir sagten nicht, mischen Sie sich ein.«

Als sie gegangen waren, fingen Miranda und Harry beide auf einmal an zu reden.

»Diesen beiden zu sagen, sie sollen sich raushalten, das ist, als würde man einem Hund sagen, er soll nicht mit dem Schwanz wedeln«, sagte Mrs. Murphy zu Pewter.

»Außer Tucker«, stichelte Pewter.

Tucker entgegnete von ihrem Platz unter dem Tisch: »Das nehm ich dir übel.«

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