6

Eine Kaltfront schob riesige Wolken über die Berge, zusammen mit einer erfrischenden Brise. Obwohl es erst Anfang August war, lag ein Hauch von Herbst in der Luft. In ein, zwei Tagen würde die Schwüle zurückkehren, doch fürs erste gönnte Mutter Natur, überraschend wie immer, Mittelvirginia eine Atempause.

Harry und Fair lenkten ihre Pferde zurück zum Stall. Die schwarzäugigen Susannen schwankten im Verein mit wilden Möhren und dem hohen, purpurfarbigen Wasserdost auf dem Feld. Tucker lief nebenher. Mrs. Murphy hatte beschlossen, Simon zu besuchen, das Opossum, das auf dem Heuboden wohnte. Da oben wohnte auch eine große schwarze Schlange, um die Mrs. Murphy immer einen weiten Bogen machte. Die Eule schlief hoch in der Kuppel. Katze und Eule konnten sich nicht riechen, aber da sie einen unterschiedlichen Tag- und Nachtrhythmus hatten, ließen sich schroffe Worte meistens vermeiden.

Tucker, die selig war, weil sie die Menschen für sich hatte, hielt gut mit, bei jedem Tempo. Corgis, robust und erstaunlich schnell, fühlen sich bei Pferden ebenso wohl wie bei Rindern. Diesen Wesenszug hatte Harry bremsen müssen, als Tucker ein Welpe war, sonst hätte ein rascher Tritt dem Dasein des Hundes womöglich ein Ende bereitet, obwohl die Rasse behende genug ist, um auszuweichen. Tucker trottete munter an der Seite von Poptart, der großen grauen Stute. Sie hoffte, daß ihre Mutter mit Fair flirten würde. Tucker liebte Fair, aber Harry hatte Flirten am Tag ihrer Scheidung abgelegt. Tucker wußte, daß Harry normalerweise offen und aufrichtig war, aber ein kleiner Flirt könnte nicht schaden. Sie wünschte, die zwei würden wieder zusammenfinden.

»…direkt über die Ohren. So was Komisches hast du noch nicht gesehen, und als sie aufsetzte, hat sie so laut >Scheiße< geschrien« - Fair grinste beim Erzählen -, »daß die Jury es nicht überhören konnte. Little Marilyn hat kein Band errungen.«

»War ihre Mom dabei?«

»Mim und die alte Garde. Vollzählig. Zungenschnalzend und außer sich. Man sollte meinen, sie wäre vernünftig genug, sich von ihrer Mutter zu lösen und ihre eigenen Wege zu gehen.«

Harry erwiderte nachdenklich: »Dreiunddreißig Jahre sind ei­ne lange, lange Reifezeit. Sie hätte in dem Haus bleiben kön­nen, wo sie mit ihrem Exmann gewohnt hat, aber sie hat gesagt, die Farben der Wände würden sie an ihn erinnern. Drum ist sie wieder in das Nebengebäude auf Mims Farm gezogen. Das könnte ich nicht.«

»Manchmal tut sie mir leid. Du weißt schon, sie hat alles und nichts.«

»Mir tut sie auch leid, bis ich meine Rechnungen bezahlen muß; dann bin ich zu neidisch für Mitleid.« Eine tiefe Wolke zog über ihren Kopf hinweg. Harry hatte das Gefühl, hinauflan­gen und eine Handvoll Zuckerwatte greifen zu können. »An einem Tag wie heute pfeif ich aufs Geld. Die Natur ist voll­kommen.«

»Ja, das ist wahr.« Fair erspähte vor ihnen die alte Palisade, die Harry und ihr Vater vor fünfzehn Jahren errichtet hatten: große, stabile Akazienstämme, zusammengebunden mit einem dicken Seil, das Harry alle paar Jahre erneuerte. Das Hindernis war etwa einen Meter hoch. Es wirkte größer, weil es so sperrig war. Fair trieb Gin Fizz zu einem scharfen Galopp, hielt auf das Hindernis zu und schwebte hinüber.

Harry folgte ihm. Tucker sauste wohlweislich um das Ende herum.

»Wer hat in der Kategorie beim Wohltätigkeitsjagdrennen gewonnen?« erkundigte sich Harry.

»Aysha, heftig unterstützt von ihrer Mutter und Norman. Man hätte meinen können, wir seien in Ascot.«

»Gut. Sag mal, hab ich dir schon erzählt, daß Aysha als Frem­denführerin in Ash Lawn war, als ich neulich dort gewesen bin?«

»Sie war auf dem William and Mary College, stimmt's?« er­innerte sich Fair, während er ins Schrittempo zurückfiel.

»Kerry war auch da, irgendein Kuddelmuddel bei der Eintei­lung, und Laura Freely. Die Aufsicht hatte Little Marilyn, aber der Höhepunkt des Tages war, als dieser Motorradfahrer auf­kreuzte und vom Gelände eskortiert werden mußte.« Sie sprach nicht weiter. Wenn sie Ash Lawn erwähnte, wurde Fair daran erinnert, daß sie mit Blair dort war, was eine eisige Reak­tion zur Folge hätte.

»Ein Motorradfahrer?«

»So ein Hell's-Angel-Typ.«

»In Ash Lawn?« Fair lachte. »Vielleicht ist er ein Nachkom­me von James Monroe. Was hast du da überhaupt mit Blair gemacht?«

»Oh - Blair hatte es noch nicht gesehen. Er wollte etwas Ent­spannendes machen.«

Fair kniff die Lippen zusammen. »Oh.«

»Komm, Fair, hab dich nicht so. Er ist mein Nachbar. Ich mag ihn.«

»Ja, Fair, guck nicht so böse«, gab der Hund seinen Senf dazu.

»Hast du was mit diesem Kerl, oder was?« Harry und ihr Ex­mann waren seit dem Kindergarten unzertrennlich gewesen, und sie kannte seine Launen. Sie wollte nicht, daß Fair in eine von seinen männlichen Schmollereien verfiel. Männer gaben nie zu, daß sie schmollten, aber genau das tat er. Manchmal brauchte sie Tage, um ihn da herauszuholen. Sie beschloß, zum Angriff überzugehen. »Erstens, ich muß dir nicht antworten. Ich stell dir ja auch keine Fragen.«

»Weil ich mit niemandem zusammen bin.«

»Im Moment.«

»Das war einmal. Ich bin mit niemandem zusammen, und ich will keine außer dir. Ich gestehe meinen Fehler ein.«

»Mach einen Plural draus«, riet Harry sarkastisch.

»Na gut - ich gestehe meine Fehler ein und bereue sie. Du wirst darüber wegkommen, und wir werden.«

»Fair, mach mir keine Vorschriften. Ich hasse es, wenn du mir sagst, was ich zu tun, zu fühlen und zu denken habe. Damit hat unser ganzer Ärger angefangen, dabei will ich gar nicht sagen, daß ich nicht auch meine Fehler habe. Als Ehefrau war ich eine regelrechte Niete. Kann nicht kochen, will es auch nicht lernen. Kann nicht bügeln, aber waschen krieg ich ganz gut hin. Ich halte das Haus sauber, aber manchmal ist mein Kopf in Unord­nung, und ich hab deinen Geburtstag öfter vergessen, als ich zugeben mag. An unseren Hochzeitstag hab ich auch nie ge­dacht. Und je mehr du dich von mir zurückzogst, desto härter hab ich gearbeitet, damit ich nicht mit dir reden mußte - ich hatte Angst zu explodieren. Ich hätte explodieren sollen.«

Er dachte darüber nach. »Ja - vielleicht.«

»Geschehen ist geschehen. Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt, aber sie bringt uns bestimmt nicht zusammen, wenn du mich bedrängst.«

»Du bist die einzige Frau auf der Welt, die so mit mir spricht.«

»Ich schätze, die anderen schmachten dich an, klimpern mit den Wimpern und sagen dir, wie wunderbar du bist. Mit gur­renden Stimmen, nehm ich an.«

Er unterdrückte ein Grinsen. »Sagen wir einfach, sie über­schütten mich mit Aufmerksamkeit. Und ich muß es mir gefal­len lassen. Ich kann sie deswegen nicht in der Luft zerreißen. Aber mit dir langweile ich mich nie, wie ich mich mit der, hm, konventionellen Sorte langweile.«

»Danke.«

»Gehst du mit mir am Samstag auf Mims Party?«

»Oh« - ihr Gesicht zeigte Verwirrung -, »eigentlich gern, aber ich bin schon verabredet.«

»Mit Blair?«

»Wenn du's genau wissen willst: ja.«

»Verdammte Scheiße!«

»Er hat mich zuerst gefragt, Fair.«

»Ich muß auf die Warteliste, um mich mit meiner Frau zu ver­abreden!«

»Deiner Exfrau.«

»Für mich fühlst du dich nicht nach Ex an.« Er war wütend. »Ich kann den Kerl nicht ausstehen. Neulich ist Mim über seine lockigen Haare aus dem Häuschen geraten. Na und? Lockige Haare? Eine feine Empfehlung für eine Beziehung.«

»Für Marilyn Sanburne.« Harry konnte sich diese Bemerkung nicht verkneifen. Sie wünschte, sie wäre ein besserer Mensch, aber sie weidete sich an Fairs Unbehagen.

»Dann bitte ich um Thanksgiving, Weihnachten und Silve­ster.« »Und was ist mit dem Labor-Day-Wochenende?« neckte sie ihn.

»Da hab ich eine Laminitis-Konferenz in Lexington«, sagte er. Er meinte die Hufkrankheit.

»Ich hab bloß Spaß gemacht.«

»Ich nicht. Reservierst du die Termine für mich?«

»Fair, laß es uns einfach nehmen, wie es kommt. Ich sage ja zur nächsten Sommerparty - irgendwer muß ja eine geben -, und von da sehen wir weiter.« Sie seufzte. »Wenn man bedenkt, wie die Tage verfliegen, sollte ich auch für Thanksgiving zusa­gen.«

»Tempus fugit«, stimmte er zu. »Weißt du noch, wie Mrs. Heckler uns ihre Glückwünsche vorgesungen hat?«

»Ja.« Sie wurde wehmütig. »Ist es nicht komisch, an was wir uns erinnern? Ich erinnere mich an den alten Pullover, den Dad zu jedem Schultreffen angezogen hat.«

»Sein Crozet-Football-Pullover.« Fair lächelte. »Ich glaube nicht, daß er ein einziges Spiel verpaßt hat. Dein Dad war ein guter Sportler. Er hatte Auszeichnungen in Football, Baseball, und hat er nicht auch Basketball gespielt?«

»Ja. Ich glaube, damals haben alle alles gemacht. Das war besser. Und gesünder. Heute träumen Zehntkläßler von einem Übernahmevertrag. Spielt denn niemand mehr zum Vergnügen? Dad hat es ganz bestimmt aus Spaß getan.«

»In welchem Jahr hat er seinen Abschluß gemacht?«

»Fünfundvierzig. Er war zu jung für den Krieg. Das hat ihn sein Leben lang gewurmt. Er hat ein paar von den Jungs ge­kannt, die nicht mehr nach Hause gekommen sind.«

»Gott sei Dank ist mein Vater aus dem Koreakrieg zurückge­kehrt - es scheint, daß sich niemand an den Krieg erinnert, au­ßer denen, die gekämpft haben.«

»Ich bin auch froh, daß er zurückgekommen ist. Wo wärst du sonst?« Sie lenkte Poptart neben Gin Fizz und boxte Fair in den Arm.

»Hiebe aus Liebe? Mutter, kannst du ihm nicht mit den Fin­gern durch die Haare fahren oder so was?« empfahl Tucker. Tucker hatte zuviel ferngesehen. Sie behauptete, das tue sie, um die Gewohnheiten der Menschen zu studieren, aber Mrs. Murphy sagte, die könnte sie zur Genüge direkt vor ihrer Nase stu­dieren. Tucker liebte Fernsehen, weil sie dabei so schön ein­schlafen konnte.

»Tucker, jaul nicht so laut«, bat Harry.

»Du bist unmöglich!« Der Hund rannte vor ihnen her. Tucker konnte Mrs. Murphy in der Tür zum Heuboden sitzen sehen. »Der Inbegriff von Romantik.«

Mrs. Murphy lachte. »Du oderMom?«

»Was weißt du schon von Liebe«, erwiderte der Hund.

»Ich weiß, daß sie einen in alle möglichen Schwulitäten bringt.«

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