Erster Tag Montag, 15. Oktober
Er lag wieder in dem überfüllten Lazarett des Stützpunkts Cu Chi in Vietnam, und Susan, in ihrer weißen Schwesternuniform zum Anbeißen hübsch, beugte sich über sein Bett und flüsterte:»Los, wach schon auf, Seemann! Du willst doch nicht sterben?«
Und der sanfte Zauber ihrer Stimme ließ ihn beinahe seine Schmerzen vergessen. Susan flüsterte ihm noch etwas ins Ohr, aber eine laute Glocke schrillte dazwischen, so daß er nicht verstand, was sie sagte. Er streckte die Arme aus, um sie zu sich herabzuziehen, aber seine Hände griffen ins Leere.
Das Schrillen des Telefons weckte Robert Bellamy unwiderruflich. Er öffnete widerstrebend die Augen, weil er nicht von seinem Traum lassen wollte, doch das Telefon auf seinem Nachttisch klingelte unbeirrbar weiter. Er sah auf den Wecker. Vier Uhr. Wütend riß er den Hörer von der Gabel.»Verdammt, wissen Sie eigentlich, wieviel Uhr es ist?«
«Commander Bellamy?«Eine tiefe Männerstimme.
«Ja…«
«Ich habe eine Mitteilung für Sie, Commander. Sie sollen sich heute morgen um sechs Uhr im National Security Agency Headquarters in Fort Meade bei General Hilliard melden. Ist das klar, Commander?«
«Ja.«Und nein. Hauptsächlich nein.
Commander Robert Bellamy war verwirrt, als er jetzt langsam auflegte. Was zum Teufel konnte die NSA von ihm wollen? Er arbeitete im Office of Naval Intelligence (ONI), dem Marinenachrichtendienst. Und was konnte so dringend sein, daß eine Besprechung um sechs Uhr morgens notwendig war? Er ließ sich zurücksinken, schloß die Augen und versuchte, den Traum weiterzuträumen. Er war so real gewesen! Natürlich wußte Bellamy, was den Traum ausgelöst hatte. Gestern abend hatte Susan ihn angerufen.
«Robert…«
Der Klang ihrer Stimme trieb seinen Puls wie immer in die Höhe. Er holte tief Luft.»Hallo, Susan.«
«Geht’s dir gut, Robert?«
«Klar. Phantastisch. Wie geht’s Moneybags?«
«Laß das, bitte.«
«Meinetwegen. Wie geht’s Monte Banks?«
Er brachte es einfach nicht über sich, dein Mann zu sagen. Er war ihr Mann.
«Danke, gut. Ich wollte dir bloß sagen, daß wir für einige Zeit verreisen werden. Du mußt dir keine Sorgen machen.«
Das war wieder typisch Susan! Er hatte Mühe, das Zittern in seiner Stimme zu verbergen.»Wohin wollt ihr diesmal?«
«Wir fliegen nach Brasilien.«
In Moneybags’ privater Boeing 727.
«Monte hat dort geschäftlich zu tun.«
«Tatsächlich? Ich dachte, das Land gehört ihm schon.«
«Hör auf, Robert. Bitte.«
«Entschuldigung.«
Eine kurze Pause am anderen Ende.»Ich wollte, deine Stimme wäre fröhlicher.«
«Das wäre sie, wenn du hier wärst.«
«Ich wünsche dir, daß du eine wunderbare Frau findest und glücklich wirst.«
«Ich hatte eine wunderbare Frau, Susan. «Mit dem verdammten Kloß im Hals konnte er kaum sprechen.»Und weißt du, was passiert ist? Sie ist mir weggelaufen.«
«Wenn du so weitermachst, ruf ich dich nie mehr an!«
Panik stieg in Robert hoch.»Das darfst du nicht sagen. Bitte nicht!«Susan war sein letzter Halt. Die Vorstellung, nie mehr mit ihr sprechen zu dürfen, war ihm unerträglich. Er bemühte sich um einen unbekümmerten Tonfall.»Okay, ich ziehe los, suche mir ‘ne üppige Blondine und bumse uns beide zu Tode.«
«Ich mache mir Sorgen um dich, Darling.«
«Wirklich nicht nötig. Mir geht’s echt gut. «Fast wäre er an seiner Lüge erstickt. Wenn sie gewußt hätte, wie ihm tatsächlich zumute war! Aber darüber konnte er mit keinem Menschen sprechen. Am wenigsten mit Susan. Von ihr bemitleidet zu werden, hätte er nicht ertragen.
«Ich rufe dich aus Brasilien an«, versprach sie ihm.
Danach entstand eine lange Pause. Sie konnten nicht voneinander lassen, weil es zuviel zu sagen gegeben hätte — zu viele Dinge, die besser unausgesprochen blieben.
«Ich muß jetzt fort, Robert.«
«Susan?«
«Ja?«
«Ich liebe dich, Baby. Ich werde dich immer lieben.«
«Ja, ich weiß. Ich liebe dich auch, Robert.«
Und darin lag die bittersüße Ironie des Ganzen. Sie liebten sich noch immer so sehr.
Ihr beiden führt die perfekte Ehe, hatten alle ihre Freunde immer gesagt. Was war also schiefgegangen?
Commander Robert Bellamy stand auf und ging barfuß durch das stille Wohnzimmer. Hier wurde Susans Abwesenheit besonders schmerzhaft spürbar, denn überall hingen und standen gerahmte Fotos von Susan und ihm: von der Kamera festgehaltene Augenblicke einer glücklicheren Zeit. Die beiden beim Angeln in den schottischen Highlands, vor einer Buddhastatue am Ufer eines thailändischen Klongs, auf einer Kutschfahrt im Regen durch den Park der Villa Borghese. Und auf jedem Photo lächelten sie und umarmten sich: zwei innig Verliebte.
Er ging in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine ein.
Auf der Wanduhr war es 4.15 Uhr. Nach kurzem Zögern wählte er eine Nummer. Am anderen Ende klingelte es sechsmal, bevor sich Admiral Whittaker meldete.»Hallo?«
«Admiral.«
«Ja?«
«Hier ist Robert. Entschuldigen Sie, daß ich Sie geweckt habe, Sir. Ich habe gerade einen ziemlich merkwürdigen Anruf von der National Security Agency bekommen.«
«Von der NSA? Was will die von Ihnen?«
«Das weiß ich auch nicht. Ich soll mich um sechs Uhr bei General Hilliard melden.«
Nachdenkliches Schweigen.»Vielleicht werden Sie dorthin versetzt.«
«Das kann ich mir nicht vorstellen. Wozu auch? Warum sollte die NSA mich…?«:
«Jedenfalls scheint die Sache sehr dringend zu sein, Robert. Rufen Sie mich nach der Besprechung noch mal an?«
«Wird gemacht. Danke, Sir.«
Whittaker legte auf. Du hättest den Alten nicht damit belästigen sollen, dachte Robert. Der Admiral war vor zwei Jahren als Direktor des Marinenachrichtendienstes ausgeschieden. Höchst unfreiwillig ausgeschieden. Man munkelte, die Navy habe ihm als Trostpflaster irgendwo ein kleines Büro zugewiesen und lasse ihn die Muscheln an den Rümpfen eingemotteter Kriegsschiffe zählen.
Daher war es höchst unwahrscheinlich gewesen, daß der Admiral über gegenwärtige Geheimdienstaktivitäten Bescheid wußte. Aber er stand Robert näher als jeder andere — natürlich abgesehen von Susan. Und Robert hatte das Bedürfnis gehabt, mit jemandem zu reden.
Der Kaffee war fertig. Er schmeckte bitter. Robert fragte sich, ob die Bohnen wohl aus Brasilien kamen.
Er nahm die Kaffeetasse mit ins Bad und betrachtete dort sein Spiegelbild. Vor sich hatte er einen Mann Anfang Vierzig, groß, hager und sportlich durchtrainiert, mit kantigem Gesicht, kräftigem Kinn, schwarzem Haar und wachen, forschenden dunklen Augen. Schräg über seine Brust zog sich eine tiefe Narbe — ein Andenken an eine Bruchlandung mit dem Flugzeug. Aber das war gestern gewesen. In der Zeit mit Susan. Jetzt war heute — die Zeit ohne Susan.
Robert duschte, rasierte sich und trat an seinen Kleiderschrank im Schlafzimmer. Was soll ich heute anziehen? fragte er sich. Uniform oder Zivil? Aber welchen Unterschied macht das schon? Er entschied sich für einen dunkelgrauen Flanellanzug mit weißem Hemd und grauer Seidenkrawatte. Während er sich anzog, überlegte er, daß er eigentlich nur sehr wenig über die National Security Agency wußte — außer daß der PuzzlePalast über allen übrigen US-Geheimdiensten stand und noch geheimniskrämerischer als die anderen war. Was will die NSA von mir? Ich werd’s früh genug erfahren.