Fünfzehnter Tag
Kann es eine elfte Augenzeugin gegeben haben? Und weshalb ist sie dann von keinem der übrigen Zeugen erwähnt worden? Der Angestellte der Firma SUNSHINE TOURS, der die Busfahrkarten verkauft hatte, hatte ausdrücklich von sieben Fahrgästen gesprochen. Robert war der Überzeugung, der ungarische Schausteller müsse sich geirrt haben.
Es wäre ein leichtes gewesen, Buszfeketes Aussage einfach für ein Hirngespinst zu halten und zu ignorieren — aber das ließ Roberts gewissenhafte Ausbildung nicht zu. Die Angaben des Ungarn mußten überprüft werden. Wie? Robert überlegte. Hans Beckermann, der Busfahrer, muß es wissen.
Spät am Abend kam Robert in Zürich an. Die Herbstluft war kühl und klar, und am Himmel stand ein voller Mond. Robert mietete einen Wagen und fuhr nach Kappel. Im Dorf bog er hinter der Kirche rechts ab und hielt vor Beckermanns Haus.
Das Haus war dunkel. Robert klingelte und wartete. Nichts. Er klingelte abermals. Schließlich öffnete sich ein Fenster im ersten Stock, und Frau Beckermann blickte hinaus. Sie war bereits im Nachthemd.»Ja, bitte?«
«Erinnern Sie sich an mich, Frau Beckermann? Ich bin der Journalist, der einen Artikel über Ihren Mann schreibt. Entschuldigen Sie die späte Störung, aber ich müßte ihn dringend sprechen.«
«Hans ist tot.«
Robert Bellamy stockte der Atem.»Was sagen Sie?«
«Mein Mann ist tot.«
«Ich… das tut mir leid. Wie ist das passiert?«
«Er ist mit seinem Auto von der Straße abgekommen und in eine Schlucht gestürzt. «Ihre Stimme klang verbittert.»Die Dummköpfe von der Polizei behaupten, er hätte Drogen genommen.«
«Drogen?«Sie müssen entschuldigen, daß ich Ihnen nichts anbiete, aber wir haben keinen Schnaps mehr im Haus. Magengeschwür. Die Ärzte können mir nicht mal Schmerzmittel verschreiben, weil ich gegen alle allergisch bin.
«Die Polizei nimmt also an, daß es ein Unfall war?«
«Ja.«
«Ist eine Autopsie vorgenommen worden?«
«Ja — und dabei wollen sie Drogen entdeckt haben. Aber das kann nicht sein!«
Robert wußte nicht, was er dazu sagen sollte.»Es tut mir schrecklich leid, Frau Beckermann. Ich.«
«Auf Wiedersehen. «Das Fenster schloß sich.
Ein Augenzeuge ist tot. Nein, schon zwei… Leslie Mothershed ist beim Brand seiner Wohnung umgekommen. Robert blieb lange unbeweglich stehen. Er glaubte, die Stimme seines Ausbilders auf der» Farm «zu hören: Nehmen wir mal an, Sie stoßen bei einem Einsatz auf» Zufälle«; ein Gesicht, das Sie überall wiedersehen, ein Wagen, der Ihnen ständig auffällt, und dergleichen mehr… Nun, für uns gehören» Zufälle «in dieselbe Kategorie wie der Weihnachtsmann.»Zufälle «gibt’s nicht! Wenn Sie mit einem sogenannten» Zufall «konfrontiert werden, müssen Sie um Ihr Leben fürchten.
Robert wurde von widersprüchlichen Emotionen hin- und hergerissen. Was da passiert war, mußte Zufall gewesen sein, und trotzdem… Ich muß die Sache mit der geheimnisvollen Frau überprüfen.
Als erstes rief er im kanadischen Fort Smith an. Eine Frauenstimme meldete sich.»Ja?«
«Könnte ich bitte William Mann sprechen?«»Tut mir leid«, antwortete die Frau mit tränenerstickter Stimme.»Mein Mann ist tot. Er hat Selbstmord verübt.«
Selbstmord? Dieser hartgesottene Bankier? Was zum Teufel geht hier vor? fragte Robert sich. Ein entsetzlicher Gedanke stieg in ihm auf. Unvorstellbar, dachte er. Und trotzdem… Er griff erneut zum Telefon.
«Professor Schmidt, bitte.«
«Der Professor ist bei einer Explosion in seinem Labor ums Leben gekommen…«
«Ich hätte gern Dan Wayne gesprochen.«
«Der arme Kerl. Sein Hengst hat ihn letzte Woche totgetrampelt und.«
«Wissen Sie, ob sich Laszlo Buszfeketes Kuriositätenschau noch in Sopron befindet?«
«Sein Unternehmen ist geschlossen. Buszfekete ist tot…«
«Fritz Mandel, bitte.«
«Fritz ist in der Werkstatt tödlich verunglückt…«Die Alarmsirenen schrillten jetzt ohrenbetäubend laut.
«Würden Sie bitte Olga Romantschenko ans Telefon holen?«
«Die Ärmste ist im Park ermordet worden! Und dabei war sie noch so jung.«
«Ich rufe an, um nach Pater Patrinis Zustand zu fragen.«
«Der Pater ist friedlich entschlafen…«
«Ich möchte Kevin Parker sprechen.«
«Kevin ist ermordet worden…«
Tot. Sämtliche Augenzeugen tot. Und er war der Mann, der sie aufgespürt und identifiziert hatte.
Robert war dazu mißbraucht worden, die Zeugen aufzuspüren. Was steckt hinter dieser Sache? Otto Schmidt ist in Deutschland ermordet worden, Hans Beckermann und Fritz Mandel sind in der Schweiz getötet worden, Dan Wayne und Kevin Parker in den USA, Olga Romantschenko ist in der UdSSR ermordet worden, William Mann in Kanada, Leslie Mothershed in England, Pater Patrini in Italien und Laszlo Buszfekete in Ungarn. Das bedeutet, daß die Geheimdienste von mehr als einem halben Dutzend Staaten am größten Täuschungsmanöver der Weltgeschichte beteiligt sind. Auf höchster Ebene muß irgend jemand entschieden haben, sämtliche Zeugen des UFO-Absturzes liquidieren zu lassen. Aber wer? Und warum?
Das Ganze war eine internationale Verschwörung, und Robert Bellamy steckte mitten drin.
Er mußte untertauchen. Zwar konnte er kaum glauben, daß auch er liquidiert werden sollte, denn schließlich war er einer von ihnen. Aber bevor er sich nicht Gewißheit verschafft hatte, durfte er nichts riskieren. Als erstes mußte er zu Ricco nach Rom, um sich einen gefälschten Paß zu besorgen.
Während des Fluges wurde Robert bewußt, wie sehr ihn die Strapazen der letzten zwölf Tage mitgenommen hatten. Er hatte Mühe wachzubleiben.
Als er nach der Landung auf dem Flughafen Leonardo da Vinci das Terminal betrat, erblickte er sie. Wie angewurzelt blieb er stehen. Sie kehrte ihm den Rücken zu, und er glaubte einen Augenblick lang, er habe sich getäuscht. Doch dann hörte er ihre Stimme.
«Nein, danke. Mein Chauffeur holt mich ab.«
Robert ging auf sie zu.»Susan.«
Sie drehte sich erstaunt um.»Robert! Was… was für ein
Zufall!«
«Ich dachte, du seist in Gibraltar«, sagte Robert.
Susan lächelte gezwungen.»Ja, wir sind dorthin unterwegs. Aber Monte hatte hier noch was Geschäftliches zu erledigen. Wir fliegen morgen weiter. Und was tust du in Rom?«
«Ich muß meinen Auftrag abschließen.«Den allerletzten Auftrag. Ich habe gekündigt, Darling. In Zukunft können wir Zusammensein, und nichts kann uns mehr trennen. Verlass Monte und komm wieder zu mir zurück.
Sie musterte ihn prüfend.»Du siehst müde aus.«
Er lächelte.»Ich bin ziemlich viel unterwegs gewesen.«
Schweigend sahen sie einander in die Augen. Der alte Zauber wirkte noch immer. Brennendes Verlangen und Erinnerungen und Lachen und Sehnsucht…
Susan ergriff seine Hand und sagte halblaut:»Robert. Ach, Robert, ich wollte, wir…«
«Susan.«
In diesem Augenblick kam ein stämmiger Mann in der Livree eines Chauffeurs auf Susan zu.»Der Wagen steht draußen, Mrs. Banks. «Und der Zauber verflog.
«Danke. «Sie wandte sich an Robert.»Schade, ich muß jetzt gehen. Paß gut auf dich auf, ja?«
«Klar. «Robert sah ihr nach. Es gab so vieles, was er ihr hätte sagen wollen.
Dann fuhr er mit einem Taxi zum Hotel Hassler.
«Ein Page wird Sie sofort auf Ihr Zimmer begleiten«, sagte der Portier.
«Augenblick. «Robert sah auf seine Armbanduhr. 21 Uhr. Am liebsten wäre er nach oben gegangen, um zu schlafen, aber der neue Reisepaß war wichtiger.
«Ich gehe nicht gleich hinauf«, sagte Robert.»Lassen Sie bitte mein Gepäck raufbringen?«
«Selbstverständlich, Commander.«
Als Robert sich ab wandte, öffnete sich die Aufzugtür, und ein halbes Dutzend amerikanischer Shriner strömten in die Hotelhalle. Die Shriner schwatzten lachend miteinander, wirkten bereits ein wenig angeheitert. Einer von ihnen, ein rotgesichtiger, stiernackiger Mann, winkte Robert fröhlich zu.
«Hallo, Kumpel… wie geht’s immer?«
«Wunderbar«, sagte Robert.»Einfach wunderbar.«
Dann ging er durch die Hotelhalle zum Taxistand hinaus. Als er einstieg, fiel ihm ein unauffälliger grauer Opel ins Auge, der auf der anderen Straßenseite parkte. Ein unauffälliger grauer Opel inmitten von protzigen Luxuslimousinen.
«Via Monte Grappa«, nannte Robert dem Taxifahrer als Ziel. Unterwegs sah er mehrmals aus dem Heckfenster. Nirgends ein grauer Opel… Du siehst schon Gespenster, sagte Robert sich.
An der Einmündung zur Via Monte Grappa stieg Robert aus. Während er die Fahrt bezahlte, erblickte er aus dem Augenwinkel heraus keine hundert Meter von sich entfernt den grauen Opel — obgleich er hätte schwören können, daß er nicht beschattet worden war. Er schlenderte in der Gegenrichtung davon, betrachtete die Auslagen der Geschäfte… In den Schaufensterscheiben spiegelte sich der Opel, der ihm langsam folgte.
Robert bog in eine Einbahnstraße ein und ging sie entlang — entgegen der Fahrtrichtung der Autos, die dicht hintereinander an ihm vorbeibrausten. Der Opelfahrer zögerte nur kurz; dann gab er Gas und fuhr geradeaus weiter — offensichtlich wollte er Robert am anderen Ende der Einbahnstraße abfangen. Robert ging zur Via Monte Grappa zurück und hielt ein Taxi an.»Via Monticelli.«
Das Gebäude war alt und baufällig, ein Überbleibsel aus besseren Zeiten. Robert war bei verschiedenen Einsätzen häufig hiergewesen. Er ging die drei Stufen der Kellertreppe hinunter und klopfte an die Tür. Von innen mußte jemand durch den Spion gesehen haben, denn die Tür wurde abrupt aufgerissen.
«Roberto!«rief ein Mann aus und schloß Robert in die Arme.»Wie geht’s Ihnen, mein Freund?«
Der Mann, der Robert so überschwenglich begrüßte, war ein dicker Mittsechziger mit buschigen Augenbrauen, weißen Bartstoppeln, gelblichen Zähnen und Dreifachkinn. Nachdem sein Gast eingetreten war, schloß er die Tür hinter sich und sperrte ab.
«Ich kann nicht klagen, Ricco.«
Ricco hatte keinen Nachnamen.»Ein Mann wie ich«, prahlte er gern,»braucht nur einen Namen — wie Madonna.«
«Was kann ich heute für Sie tun, mein Freund?«
«Ich bearbeite einen Fall«, sagte Robert,»und hab’s ziemlich eilig. Können Sie mir zu einem Reisepaß verhelfen?«
Ricco lächelte selbstgefällig.»Können Vögel scheißen?«Er watschelte an einen Eckschrank und sperrte die Tür auf.»Aus welchem Land möchten Sie denn sein?«Er sortierte eine Handvoll Reisepässe mit verschiedenfarbigen Umschlägen.»Wir haben einen griechischen Paß, einen türkischen, einen jugoslawischen, einen britischen.«
«Bitte einen amerikanischen«, sagte Robert.
Ricco zog einen blauen Paß aus dem Stapel.»Da haben wir ihn schon. Gefällt Ihnen der Name Arthur Butterfield?«
«Sehr«, behauptete Robert.
«Wenn Sie sich dort drüben hinstellen, fotografiere ich Sie gleich.«
Robert trat an die Wand, während Ricco seine Polaroidkame-ra hervorholte. Eine Minute später hielt Robert sein Paßfoto in der Hand.
«Ich habe nicht gelächelt«, stellte er fest.
Ricco zog die Augenbrauen hoch.»Wie bitte?«
«Ich habe nicht gelächelt. Machen Sie noch eine Aufnahme.«
Ricco zuckte mit den Schultern.»Klar. Wie Sie wünschen.«
Bei der zweiten Aufnahme lächelte Robert.»Schon besser«, sagte er, als Ricco sie ihm zeigte. Gleichzeitig steckte er das erste Paßfoto unauffällig ein.
«Jetzt kommt der High-tech-Teil«, verkündete Ricco. Robert beobachtete, wie er an seine Werkbank ging, auf der ein Laminiergerät stand. Dort legte er das Paßfoto in den aufgeschlagenen Reisepaß.
Robert trat an den mit Gerätschaften überladenen Zeichentisch des Paßfälschers und steckte ein Schneidmesser und eine kleine Flasche Flüssigkleber in seine Jackentasche.
Ricco begutachtete das fertige Produkt.»Nicht schlecht«, meinte er und reichte Robert den Paß.»Das macht fünftausend Dollar.«
«Qualitätsarbeit ist ihren Preis wert«, bemerkte Robert, während er zehn Fünfhunderter abzählte.
«Es ist immer ein Vergnügen, mit euch Geschäfte zu machen. Sie wissen, wie ich zu Ihnen stehe.«
Das wußte Robert allerdings genau. Ricco war ein erfahrener Paßfälscher, der für ein halbes Dutzend Geheimdienste arbeitete und keinem gegenüber loyal war. Robert steckte seinen Paß ein.
«Alles Gute, Mr. Butterfield«, sagte Ricco lächelnd.
«Danke.«
Sobald sich die Tür hinter dem Amerikaner geschlossen hatte, griff Ricco nach dem Telefonhörer. Solche Informationen konnte man immer verkaufen.
Draußen auf der Straße zog Robert schon nach hundert Metern den neuen Paß aus der Tasche und warf ihn in einen Müllcontainer. Düppel. Damit hatte er als Pilot im Einsatz feindliche Raketen von seiner Maschine abgelenkt. Viel Spaß bei der Fahndung nach Arthur Butterfield!
An der nächsten Straßenecke parkte wieder der graue Opel. Unmöglich. Vorhin hatte er sie doch abgehängt — und trotzdem hatten sie ihn wiedergefunden. Sie mußten irgendeine Möglichkeit haben, seine Bewegungen zu orten. Dafür gab es nur eine Erklärung: Sie peilten einen Minisender an, den er, ohne es zu ahnen, bei sich trug.
Ob sie ihn in seiner Kleidung versteckt hatten? Nein, dazu hatten sie keine Gelegenheit gehabt. Robert ging in Gedanken seinen Tascheninhalt durch: Bargeld, Schlüssel, Geldbörse, Taschentuch, Kreditkarte… Die Kreditkarte! Ich bezweifle, daß ich sie brauchen werde, General. Los, nehmen Sie schon! Tragen Sie die Karte unbedingt immer bei sich.
Dieser heimtückische Hundesohn! Kein Wunder, daß sie mich mühelos wiedergefunden haben.
Der graue Opel war nirgends mehr zu sehen. Robert zog die Kreditkarte aus seiner Geldbörse, um sie zu untersuchen. Sie war etwas dicker und steifer als eine gewöhnliche Kreditkarte und enthielt eine ertastbare Innenschicht. Vermutlich wurde sie ferngesteuert aktiviert. Gut, dachte Robert, dann wollen wir den Kerlen mal was zu tun geben.
Entlang der Straße parkten mehrere Lastwagen, die Waren aus- oder einluden. Robert achtete im Vorbeigehen auf die Kennzeichen. Als er zu einem französischen Lastwagen kam, stellte er mit einem raschen Blick in die Runde fest, daß er nicht beobachtet wurde, und warf die Kreditkarte nach hinten in den Laderaum.
Dann hielt er ein Taxi an.»Hassler, per favore.«
In der Hotelhalle trat Robert an die Reception.»Sehen Sie bitte nach, ob heute abend noch ein Flug nach Paris geht?«
«Sofort, Commander.«
«Danke. «Robert wandte sich an den Portier.»Bitte meinen Schlüssel. Zimmer 314. Und ich reise in ein paar Minuten ab.«
«Wie Sie wünschen, Commander. «Der Portier griff in Fach 314 und holte den Schlüssel und einen Umschlag heraus.»Dieser Brief ist für Sie abgegeben worden.«
Robert griff zögernd danach. Auf dem zugeklebten Umschlag stand nur sein Name: Commander Robert Bellamy. Er tastete ihn nach Metall oder Plastiksprengstoff ab. Dann riß er ihn vorsichtig auf. Der Briefumschlag enthielt lediglich die Werbepostkarte eines römischen Restaurants. Eigentlich war er ganz harmlos — bis auf seinen Namen auf dem Umschlag.
«Wissen Sie zufällig noch, wer Ihnen das gegeben hat?«
«Tut mir leid«, entschuldigte sich der Portier,»aber wir haben heute abend soviel Betrieb gehabt…«
Das war nicht weiter wichtig. Der Mann hatte bestimmt ein Durchschnittsgesicht gehabt. Er hatte die Karte in dem Briefumschlag an der Reception abgegeben und gewartet, um zu sehen, in welches Fach er gelegt wurde. Jetzt würde er oben in Zimmer 314 auf Robert warten. Es wurde Zeit, dem Feind ins Gesicht zu sehen.
Robert hörte unbekümmert lärmende Stimmen, drehte sich um und sah die Shriner, denen er zuvor begegnet war, lachend und singend in die Hotelhalle kommen. Sie hatten sich offensichtlich noch ein paar Drinks genehmigt. Der rotgesichtige Stiernackige rief Robert zu:»Hallo, Kumpel! Sie haben ‘ne Riesenparty verpaßt.«
Roberts Verstand arbeitete auf Hochtouren.»Ihr geht wohl gern auf Parties?«
«Ho-ho!«
«Oben bei mir steigt gleich eine«, behauptete Robert Bellamy.»Drinks. Mädchen… was ihr wollt! Kommt einfach mit, Jungs.«
«So spricht ‘n echter Amerikaner, Kumpel. «Der stiernackige Shriner schlug Robert auf den Rücken.»Habt ihr das gehört, Jungs? Unser Freund hier gibt ‘ne Party!«
Sie zwängten sich gemeinsam in den Lift und fuhren in den dritten Stock hinauf.
«Diese Italiener versteh’n was vom süßen Leben«, sagte der Shriner unterwegs.»Aber schließlich haben sie die Orgien erfunden, stimmt’s?«
«Bei mir erlebt ihr ‘ne richtige Orgie«, versprach Robert ihm.
Sie polterten den Flur entlang hinter Robert her zu Zimmer 314. Er steckte den Schlüssel ins Schloß und drehte sich nach der Gruppe um.»Okay, kann der Spaß losgehen?«
Allgemeine lärmende Zustimmung.
Robert drehte den Schlüssel um, stieß die Tür auf und trat zur Seite. Das Zimmer war dunkel. Er knipste das Licht an. Vor dem Bett stand ein hagerer Fremder, der eine mit einem Schalldämpfer ausgerüstete Mauser in der Hand hielt. Der Mann starrte die Gruppe verblüfft an und schob die Pistole dann hastig wieder unter seine Jacke.
«Hey, wo ist der Schnaps?«fragte einer der Freimaurer.
Robert deutete auf den Unbekannten.»Er hat ihn. Das ist euer Mann!«
Die Shriner umringten den Hageren.»Wo bleiben die Drinks, Kumpel?… Wo sind die Mädchen?… Wann geht’s los mit der Party?«
Der Hagere versuchte, zu Robert vorzudringen, aber die angeheiterten Amerikaner versperrten ihm den Weg. Er konnte nur hilflos zusehen, wie Robert nach draußen verschwand.
Unten in der Hotelhalle rannte Robert gerade zum Ausgang, als der junge Mann an der Reception ihm nachrief:»Commander Bellamy! Ich habe Ihren Flug bei der Air France gebucht: Flug 212 um ein Uhr morgens.«
«Danke«, sagte Robert hastig.
Dann war er zur Tür hinaus und stand auf dem kleinen Platz oberhalb der Spanischen Treppe. Ein Taxi setzte eben seinen Fahrgast ab. Robert Bellamy stieg ein.»Piazza Farnese.«
Robert wußte jetzt, womit er zu rechnen hatte. Er sollte liquidiert werden. Er war vom Jäger zum Gejagten geworden, aber er hatte einen großen Vorteil: Sie hatten ihn gut ausgebildet. Er kannte alle ihre Methoden, ihre Stärken und ihre Schwächen — und er würde sein Wissen nutzen, um zu überleben.
Als erstes mußte er es schaffen, die Verfolger irgendwie von seiner Fährte abzubringen. Den Männern, die ihn jagten, hatte man wahrscheinlich falsche Informationen gegeben: Sie
glaubten wohl, Robert werde wegen Drogenschmuggels oder wegen Mordes oder Spionage gesucht. Ihre Auftraggeber würden sie gewarnt haben: Bellamy ist gefährlich. Riskiert nichts! Schießt ohne Vorwarnung.
Robert ließ den Fahrer halten, stieg aus und nahm an der nächsten Ecke ein anderes Taxi.»Stazione Termini. «Sie jagten ihn, aber sie würden noch keine Zeit gehabt haben, ein Fahndungsfoto zu verbreiten. Bisher war er noch gesichtslos.
Das Taxi hielt vor dem Bahnhofsgebäude an der Via Giolitto, und der Fahrer verkündete:»Stazione Termini, Signore.«
«Halten Sie einen Augenblick. «Robert blieb sitzen und beobachtete den Platz vor dem Bahnhofsgebäude, auf dem nur die gewöhnliche Betriebsamkeit zu herrschen schien. Privatautos und Taxis kamen an und setzten Fahrgäste ab oder nahmen welche auf und fuhren davon. Gepäckträger luden Koffer ein und aus. Ein Polizist mit Trillerpfeife war damit beschäftigt, Autofahrer aus dem Parkverbot zu weisen.
Trotzdem störte Robert irgend etwas an dieser Szene. Dann wurde ihm plötzlich klar, was hier nicht stimmte. Genau vor dem Haupteingang parkten drei unauffällige Limousinen, deren Fahrer nirgends zu sehen waren, im absoluten Halteverbot. Und der sonst so eifrig trillernde Polizeibeamte übersah sie geflissentlich.
«Ich hab’s mir anders überlegt«, erklärte Robert dem Fahrer.»Via Veneto 110A. «Dort würden sie ihn am allerwenigsten vermuten.
Die amerikanische Botschaft und das Generalkonsulat befinden sich in der Via Veneto in einem rosa Gebäude, dessen Vorgarten zur Straße hin von einem schwarzen schmiedeeisernen Zaun begrenzt wird. Die Botschaft war um diese Zeit geschlos-sen, aber die Paßabteilung des Konsulats hatte für Notfälle Tag und Nacht geöffnet. Hinter dem Schreibtisch in der Eingangshalle im Erdgeschoß saß ein Marineinfanterist.
«Ich brauche einen neuen Paß«, erklärte ihm Robert Bellamy.»Ich hab’ meinen verloren.«
Der Marineinfanterist wies auf den Flur.»Letzte Tür rechts. Dort helfen sie Ihnen weiter, Sir.«
«Danke.«
In der Paßabteilung traf er auf ein halbes Dutzend Männer und Frauen mit den unterschiedlichsten Anliegen.
«Brauche ich für Albanien ein Visum? Ich möchte dort Verwandte besuchen.«
«Ich muß diesen Paß unbedingt noch heute abend verlängert bekommen, sonst kann ich morgen nicht weiterfliegen…«
«Ich weiß nicht, wo er geblieben ist. Ich muß ihn in Mailand im Hotel liegengelassen haben.«
«Sie haben mir den Paß auf offener Straße aus der Handtasche geklaut.«
Robert stand da und hörte zu. In Italien war Paßdiebstahl gang und gäbe. Mehrere dieser Leute würden einen neuen oder verlängerten Reisepaß erhalten. An der Spitze der Schlange befand sich ein gutgekleideter Fünfziger, dem ein Konsulatsbeamter eben einen neuen Paß überreichte.
«Bitte sehr, Mr. Cowan. Tut mir leid, daß Sie ein so unangenehmes Erlebnis gehabt haben. Aber in Rom gibt’s eben viele Taschendiebe.«
«Auf den hier passe ich auf, darauf können Sie Gift nehmen!«beteuerte Cowan.
«Tun Sie das, Sir.«
Robert beobachtete, wie Cowan den Reisepaß in die Jackentasche steckte und sich zum Gehen wandte. Er drehte sich um, wartete, bis sich der Mann dicht hinter ihm befand, und verließ den Raum. Der Mann folgte ihm auf dem Fuße. Als ihnen im Korridor eine Frau entgegenkam, trat Robert einen Schritt zurück und prallte gegen den Mann, als sei er gestoßen worden.
«Oh, entschuldigen Sie vielmals!«sagte Robert, indem er Cowan die Jacke glattzog.
«Nichts passiert«, antwortete Cowan.
Robert wandte sich ab und verschwand mit dem Paß des Mannes in der Tasche auf die Herrentoilette nebenan. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß er allein war, betrat er eine der Kabinen und holte das bei Ricco geklaute Schneidmesser und die Flasche Flüssigkleber aus der Jackentasche. Als erstes schlitzte er vorsichtig die Oberkante der Plastikbeschichtung auf und zog Cowans Paßfoto heraus. Dann schob er sein eigenes Foto hinein, klebte die Folie wieder zu und begutachtete das Ergebnis. Perfekt. Jetzt war er Henry Cowan. Fünf Minuten später stieg er auf der Via Veneto in ein Taxi.»Leonardo da Vinci.«
Die Uhren des Auslandsterminals zeigten 0.30 Uhr an, als Robert Bellamy aus seinem Taxi stieg. Er blieb vor dem Gebäude stehen und suchte die Umgebung nach irgend etwas Auffälligem ab. Auf den ersten Blick schien alles normal zu sein. Keine Streifenwagen, keine verdächtig aussehenden Männer.
Robert betrat das Terminal und blieb gleich hinter der automatischen Tür stehen. An vielen Schaltern internationaler Fluggesellschaften herrschte noch Betrieb. Soweit Robert sehen konnte, gab es auch hier keine betont unauffälligen Personen, die betont unauffällig herumstanden. Trotzdem blieb er mißtrauisch. Er wußte keine rechte Erklärung für sein Mißtrauen, aber irgendwie erschien ihm alles zu normal.
Genau gegenüber befanden sich die Schalter der Air France. Ich habe Ihren Flug bei der Air France gebucht: Flug 212 um ein Uhr morgens. Robert trat an einen Alitalia-Schalter.»Guten Abend.«
«Guten Abend. Was kann ich für Sie tun, Signore?«»Sie können mir einen Gefallen tun«, sagte Robert.»Würden Sie bitte Commander Robert Bellamy ausrufen? Er möchte ans Fluggasttelefon kommen.«
«Gern«, antwortete die Hosteß und griff nach einem Mikrofon.
Am übernächsten Schalter wollte eine dicke Mittvierzigerin mehrere Koffer aufgeben und diskutierte erregt mit einem Angestellten der Fluggesellschaft, weil sie fürs Übergewicht zahlen sollte.»In Amerika verlangen sie nie was für Übergewicht!«
«Tut mir leid, Madam, aber wenn Sie diese Koffer alle aufgeben wollen, müssen Sie fürs Übergewicht zahlen.«
Robert trat näher heran. Er hörte die Durchsage der Alitalia-Hosteß.»Commander Robert Bellamy bitte ans weiße Fluggasttelefon. Commander Robert Bellamy bitte ans weiße Fluggasttelefon. «
Ein Mann mit Reisetasche und typisch amerikanischem Aussehen ging an ihm vorbei.»Entschuldigen Sie…«, sagte Robert.
Der Mann blieb stehen.»Ja?«
«Ich höre, daß meine Frau mich ausrufen läßt, aber…«Er zeigte auf die Koffer der Dicken.»Ich muß bei meinem Gepäck bleiben. Könnten Sie bitte an das weiße Telefon dort drüben gehen und ihr bestellen, daß ich sie in einer Stunde in unserem Hotel abhole? Damit täten Sie mir einen großen Gefallen.«
«Wird gemacht«, sagte der Mann bereitwillig.
Robert beobachtete, wie er ans weiße Telefon ging und den Hörer abnahm. Er hielt ihn ans Ohr und sagte:»Hallo… Hallo …?«
Im nächsten Augenblick tauchten vier riesige Kerle in dunklen Anzügen auf, stürzten sich auf den Ahnungslosen und drückten ihn gegen die Wand.
«Hey, was soll das?«»Machen Sie keine Schwierigkeiten«, sagte einer der Männer.
«Hey, was bilden Sie sich ein? Lassen Sie mich gefälligst los!«
«Regen Sie sich nicht auf, Commander. Wir müssen.«
«Commander? Da haben Sie den Falschen erwischt! Ich heiße Melvyn Davis. Ich komme aus Omaha!«
«Los, mitkommen!«
«Augenblick! Ich bin reingelegt worden. Der Mann, den Sie suchen, ist dort drüben!«Er deutete zu dem Schalter hinüber, an dem Robert gestanden hatte.
Aber dort stand niemand mehr.
Robert stieg in einen Flughafenbus, der ihn nach Rom zurückbringen würde. Während der Fahrt überlegte er fieberhaft, was er als nächstes tun sollte.
Er mußte unbedingt mit Admiral Whittaker sprechen. Vielleicht konnte er ihm sagen, was hier gespielt wurde. Wer war dafür verantwortlich, daß Unschuldige ermordet wurden, weil sie Zeugen eines UFO-Absturzes geworden waren? Etwa General Hilliard? Dustin Willard Stone? Handelten die Killer auf Anweisung von Edward Sanders, dem NSA-Direktor, oder John Dessault, dem ONI-Direktor? Oder steckten alle unter einer Decke? War vielleicht sogar der Präsident eingeweiht? Auf alle diese Fragen brauchte Robert eine Antwort.
Die Busfahrt ins Zentrum der Hauptstadt dauerte eine Stunde. Als der Bus vor dem Hotel Eden hielt, stieg Robert aus.
Ich muß aus Italien raus, überlegte er sich. Hier in Rom gab es nur einen Mann, dem er vertrauen konnte: Oberst Francesco Cesare, Abteilungsleiter im italienischen Nachrichtendienst SIFAR. Er würde Robert zur Flucht verhelfen.
Oberst Cesare arbeitete noch. Zwischen einem halben Dutzend ausländischer Nachrichtendienste gingen Fernschreiben hin und her — und alle betrafen Commander Robert Bellamy. Der Oberst hatte in der Vergangenheit mit Robert zusammengearbeitet und schätzte ihn sehr. Mit einem Seufzer überflog er noch einmal die vor ihm liegende Blitzmeldung. Liquidieren.
Im selben Augenblick kam seine Sekretärin herein.
«Commander Bellamy ist am Telefon und möchte Sie sprechen. Auf Leitung eins.«
Der Oberst starrte sie an.»Bellamy? Persönlich? Gut, ich danke Ihnen. «Er wartete, bis seine Sekretärin den Raum verlassen hatte, bevor er den Hörer von der Gabel riß.
«Robert?«
«Ciao, Francesco. Was ist los, verdammt noch mal?«
«Das möchte ich von dir wissen, amico. Ich habe deinetwegen alle möglichen dringenden Meldungen bekommen. Was hast du angestellt?«
«Das ist eine lange Geschichte«, sagte Robert.»Die kann ich dir jetzt nicht erzählen. Was hast du über mich gehört?«
«Daß du übergelaufen bist. Daß du dich hast umdrehen lassen und singst wie ein Kanarienvogel.«
«Hör zu, Francesco. In den letzten Tagen habe ich zehn unschuldige Menschen in den Tod geschickt. Und ich soll die Nummer elf werden.«
«Wo bist du jetzt?«
«Ich bin in Rom. Ich schaff s irgendwie nicht, aus eurer Scheißstadt rauszukommen.«
«Cacciatura!« Cesare schwieg einen Augenblick.»Wie kann ich dir helfen?«fragte er dann.
«Bring mich in ein sicheres Haus, in dem wir miteinander reden und überlegen können, wie ich hier rauskomme. Läßt sich das arrangieren?«
«Klar, aber du mußt vorsichtig sein. Verdammt vorsichtig! Ich hole dich selbst ab.«
Robert seufzte hörbar erleichtert auf.»Danke, Francesco. Ich bin dir wirklich dankbar.«»Dafür bist du mir einen Gefallen schuldig. Wo steckst du im Augenblick?«
«In der Lido Bar in Trastevere.«
«Rühr dich nicht von der Stelle. Ich hole dich in genau einer Stunde ab.«
«Danke, amico.« Robert hängte ein. Das würde eine verdammt lange Stunde werden.
Eine halbe Stunde später hielten zwei Limousinen vor der Lido Bar. In beiden Wagen saßen je vier mit Maschinenpistolen bewaffnete Männer. Oberst Cesare stieg aus der ersten Limousine.»Alles muß blitzschnell ablaufen! Unbeteiligte dürfen nicht zu Schaden kommen.«
Vier der Männer verschwanden lautlos um die Ecke, um den Hinterausgang des Gebäudes zu überwachen.
Robert Bellamy sah vom Dach eines Gebäudes auf der anderen Straßenseite zu, wie Cesare und seine Leute mit schußbereiten Waffen in die Bar stürmten.
Okay, ihr Schweinehunde, dachte Robert grimmig, dann spielen wir also nach euren Regeln.