Der herabzuckende Blitzstrahl rettete Robert Bellamy das Leben. In dem Augenblick, in dem Li Po abdrückte, lenkte der gleißend hell aufflammende Blitz ihn für eine Zehntelsekunde ab. Robert warf sich zur Seite, so daß die Kugel statt seiner Brust seine rechte Schulter traf.
Als Li die Waffe hob, um erneut abzudrücken, schlug ihm
Robert mit dem Fuß die Pistole aus der Hand. Li warf sich auf ihn, und seine Faust krachte gegen Roberts verletzte Schulter. Robert fühlte einen stechenden Schmerz, doch er biß die Zähne zusammen und rammte Li seinen linken Ellbogen ins Gesicht. Der Chinese stöhnte auf. Er holte zu einem Handkantenschlag auf den Nacken seines Gegners aus… doch Robert konnte dem tödlichen Hieb ausweichen.
Die beiden Männer umkreisten einander schweratmend, jeder suchte eine Lücke in der Deckung des anderen. Sie kämpften lautlos nach einem uralten Ritual. Beide wußten genau, daß nur einer von ihnen diesen Zweikampf überleben würde. Robert fühlte, daß seine Kräfte zu schwinden begannen. Die Schmerzen in seiner Schulter wurden immer unerträglicher, und er sah, wie sein Blut auf den Teppichboden tropfte.
Die Zeit arbeitete für Li Po. Ich muß schnell ein Ende machen, dachte Robert. Er trat wieder nach seinem Gegner, aber anstatt auszuweichen, steckte Li den Tritt weg — und kam dadurch so nahe heran, daß er Roberts Schulter mit einem Ellbogenstoß treffen konnte. Robert torkelte zurück. Li setzte energisch nach, bearbeitete ihn mit beiden Fäusten und traf wieder und wieder seine Schulter. Robert war zu schwach, um diesen Hagel von Schlägen abzuwehren. Plötzlich wurde ihm schwarz vor den Augen. Er fiel gegen Li, umklammerte seine Beine und riß ihn mit sich zu Boden.
Die beiden Männer stürzten auf einen Glastisch, der unter ihnen zersplitterte. Robert blieb völlig entkräftet liegen. Mit dir ist’s aus, dachte er. Die anderen haben gewonnen.
Er blieb halb bewußtlos liegen und wartete darauf, daß Li ihn erledigen würde. Als nichts geschah, hob Robert unter Schmerzen unendlich langsam den Kopf. Der Chinese lag neben ihm auf dem Rücken und starrte mit weit aufgerissenen Augen blicklos an die Decke. Ein langer Glassplitter ragte wie ein durchsichtiger Dolch aus seiner Brust.
Robert stemmte sich mühsam in eine sitzende Haltung hoch.
Der Blutverlust hatte ihn geschwächt. Seine Schulter brannte wie Feuer. Ich brauche einen Arzt, dachte er. Es gibt da einen … einen, der in Paris für die CIA arbeitet… einen im American Hospital… Hilsinger! Ja, das ist er. Leon Hilsinger.
Dr. Hilsinger wollte gerade seine Praxis verlassen, als das Telefon klingelte. Da seine Sprechstundenhilfe bereits gegangen war, nahm er den Hörer selbst ab. Der Anrufer sprach schleppend und undeutlich.
«Doktor Hilsinger?«
«Ja.«
«Hier ist Robert Bellamy… brauche Ihre Hilfe. Ich bin schwer verletzt. Helfen Sie mir?«
«Selbstverständlich. Wo sind Sie?«
«Das spielt keine Rolle. Wir treffen uns in einer halben Stunde im American Hospital.«
«Okay, ich komme. Am besten gehen Sie gleich zur Notaufnahme.«
«Doktor… Sie behalten diesen Anruf für sich, ja?«
«Ich gebe Ihnen mein Wort.«
Am anderen Ende wurde aufgelegt.
Dr. Hilsinger wählte eine Nummer.»Eben hat sich Commander Bellamy bei mir gemeldet. Wir treffen uns in einer halben Stunde im American Hospital.«
«Danke, Doktor.«
Dr. Hilsinger legte auf. Dann hörte er, wie die Sprechzimmertür geöffnet wurde, und hob den Kopf. Vor ihm stand Robert Bellamy mit einer Pistole in der linken Hand.
«Wenn ich’s mir recht überlege«, sagte Robert,»behandeln Sie mich doch lieber hier.«
Der Arzt bemühte sich, seine Überraschung zu verbergen.»Sie… Sie gehören ins Krankenhaus.«
«Zu dicht neben dem Leichenhaus. Flicken Sie mich zusammen — und beeilen Sie sich!«
Dr. Hilsinger wollte protestieren, besann sich dann aber eines besseren.»Gut, wie Sie meinen. Am besten gebe ich Ihnen eine schmerzstillende Spritze. Sonst…«
«Kommt gar nicht in Frage!«unterbrach ihn Robert.»Keine Tricks, verstanden? Wenn ich hier nicht lebend rauskomme, tun Sie’s auch nicht. Noch Fragen?«
Dr. Hilsinger schluckte.»Nein.«
«Dann fangen Sie an.«
Der Arzt wies schweigend auf den Untersuchungstisch. Robert schlüpfte langsam und vorsichtig aus seiner Jacke und setzte sich mit der Waffe in der Hand auf den Tisch. Dr. Hilsinger trat mit einem Skalpell auf ihn zu. Roberts Zeigefinger schloß sich um den Abzug der Pistole.
«Ganz ruhig!«sagte Dr. Hilsinger nervös.»Ich will bloß Ihr Hemd aufschneiden.«
Die Schußwunde sah schlimm aus und blutete immer noch leicht.
«Die Kugel steckt noch drin«, stellte Dr. Hilsinger fest, nachdem er Robert untersucht hatte.»Sie werden die Schmerzen nicht aushallen, wenn ich Ihnen keine…«
«Nein!«Er würde sich nicht betäuben lassen.»Holen Sie sie einfach raus.«
«Gut, wie Sie wollen.«
Robert beobachtete, wie der Arzt an den Sterilisator trat und eine abgewinkelte lange Zange herausnahm. Er hockte auf der Tischkante und kämpfte gegen die Benommenheit an, die ihn zu überwältigen drohte. Dabei schloß er kurz die Augen. Als er sie wieder öffnete, stand Dr. Hilsinger mit der Zange in der Hand vor ihm.
«Also los!«Der Arzt stieß die Zange in die Wunde, und Robert schrie vor Schmerzen laut auf. Vor seinen Augen flimmerten bunte Lichter. Er war kurz davor, das Bewußtsein zu verlieren.
Dann hörte er wie aus einem Nebel Dr. Hilsingers Stimme.
«Sie ist draußen.«
Robert blieb eine Weile zitternd sitzen, atmete tief ein und aus und kämpfte gegen eine Ohnmacht an.
Dr. Hilsinger beobachtete ihn.»Alles in Ordnung?«
Robert konnte nicht gleich sprechen.»Ja… flicken Sie’s zusammen.«
Als der Arzt die Wunde desinfizierte und nähte, wäre Robert fast wieder bewußtlos geworden. Er biß die Zähne zusammen. Halt durch! Gleich ist’s vorbei! Und dann war es zum Glück überstanden. Der Arzt versorgte die Schußwunde mit einem dicken Pflasterverband.
«Geben Sie mir meine Jacke«, verlangte Robert.
Dr. Hilsinger starrte ihn an.»Sie müssen hierbleiben. Sie können nicht mal gehen.«
«Bringen Sie mir die Jacke. «Roberts Stimme war so schwach, daß er sich kaum verständlich machen konnte. Er beobachtete, wie der Arzt mit seiner Jacke näher kam, und sah ihn dabei doppelt.
«Sie haben eine Menge Blut verloren«, stellte Dr. Hilsinger fest.»Wenn Sie jetzt gehen, riskieren Sie Ihr Leben.«
Und wenn ich bleibe, riskiere ich’s auch, dachte Robert. Vorsichtig zog er seine Jacke an und versuchte aufzustehen. Seine Beine waren wie Gummi. Er klammerte sich an dem Untersuchungstisch fest.
«Sie schaffen’s nie!«warnte ihn Dr. Hilsinger.
Robert sah zu der verschwommenen Gestalt auf.»Doch, ich… ich schaff’s!«
Aber er wußte, daß Dr. Hilsinger wieder telefonieren würde, sobald er die Praxis verlassen hatte. Roberts Blick fiel auf eine offene Tür, die zu einem fensterlosen Waschraum führte. In ihrem Schloß steckte ein Schlüssel.
«Gehen Sie dort hinein und schließen Sie die Tür!«befahl Robert dem Arzt.
Dr. Hilsinger gehorchte schweigend.
Robert ließ sich auf alle viere nieder und kroch auf die Tür zu. Die Pistole hielt er weiterhin in der linken Hand. Immer wieder hielt er erschöpft inne, doch dann biß er die Zähne zusammen und robbte weiter.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er am rechten Türrahmen anlangte. Geräuschlos legte er die Pistole auf den Boden und hob langsam die linke Hand. Mit einer raschen Bewegung drehte er den Schlüssel herum.
Geschafft! Ihm schwindelte.»Ich werde nicht ohnmächtig«, murmelte er.
Er wurde ohnmächtig.
Er schwebte im Raum, trieb schwerelos durch weiße Wolken und empfand grenzenlosen Frieden. Wach auf. Er wollte nicht aufwachen. Er wollte nicht aus diesen wunderbaren Empfindungen herausgerissen werden. Wach auf. Irgend etwas Hartes drückte gegen seine Rippen. Etwas in seiner Jackentasche. Er zog es heraus, ohne die Augen zu öffnen, und hielt es in der Hand. Es war der Kristall. Er versuchte weiterzuträumen.
Robert. Eine sanfte, beruhigende Frauenstimme. Er befand sich auf einer wunderschönen grünen Wiese; die Luft war voller Musik, und der Himmel über ihm war voll heller Lichter. Eine große, schöne Frau in einem schneeweißen Gewand kam auf ihn zugeschritten. Sie hatte ein zartes ovales Gesicht mit einem hellen, fast durchsichtigen Teint. Ihre Stimme war sanft und melodisch.
Jetzt tut dir keiner mehr etwas, Robert. Komm zu mir. Ich warte hier auf dich.
Robert öffnete langsam die Augen. Im Waschraum hörte er Dr. Hilsinger rumoren. Er blieb noch einige Sekunden liegen; dann setzte er sich auf. Eine plötzliche Erregung erfaßte ihn. Er wußte jetzt, wer die elfte Zeugin war — und er wußte, wo sie ihn erwartete.