Zweiter Tag
8.00 Uhr
Am nächsten Morgen trat Robert an den Schalter der Leihwagenfirma Europcar und mietete einen grauen Opel Omega.
«Wie lange werden Sie ihn brauchen?«hatte der Angestellte, der ihn bediente, gefragt.
Gute Frage. Eine Stunde? Einen Monat? Vielleicht ein bis zwei Jahre?» Das weiß ich noch nicht genau.«
«Wollen Sie den Wagen hier am Flughafen zurückgeben?«
«Kann sein.«
Robert fuhr in Richtung Züricher Innenstadt. Er genoß es, wieder einmal in der Schweiz zu sein. In sieben ONI-Dienstjahren hatten seine Aufträge ihn mehrmals in dieses Land geführt.
Im Zweiten Weltkrieg war die Schweizer Spionageabteilung in die Ressorts D, F und I unterteilt gewesen, die Deutschland, Frankreich und Italien überwacht hatten. Heute bestand ihre Hauptaufgabe in der Überwachung von Spionageaktivitäten der bei den verschiedenen UN-Organisationen in Genf tätigen Ausländer. Robert hatte Freunde in der Spionageabteilung, aber General Hilliards Anweisung lautete: Sie nehmen mit keinem von ihnen Verbindung auf.
Ohne Schwierigkeiten fand er den Weg zum Grandhotel Dolder. Es sah genau so aus, wie er es in Erinnerung hatte: ein von Efeu umranktes, imposantes Schweizer Palais mit Zinnen und Türmen in einem Park mit Blick auf den Zürichsee.
Nachdem er einen Stadtplan von Zürich und eine Straßenkarte der Schweiz gekauft hatte, bezog er ein behagliches Zimmer im Neubauflügel des Hotels. Von dem kleinen Balkon aus hatte man einen wunderschönen Blick auf den See. Robert genoß die
Aussicht, sog die frische Herbstluft ein und dachte über die vor ihm liegende Aufgabe nach.
Er hatte keinerlei Anhaltspunkte. Nicht die geringsten Informationen. Sein Auftrag war wie eine Gleichung mit mehreren Unbekannten. Der Name des Veranstalters der Busrundfahrt. Die Zahl der Fahrgäste. Ihre Namen und Wohnorte. Sind die Augenzeugen alle in der Schweiz? Das ist gerade das Problem. Wir haben keine Ahnung, wo diese Leute sind. Oder wer sie sind. Und es genügte nicht, bloß einige von ihnen aufzuspüren. Sie müssen diese Zeugen finden. Jeden einzelnen! Robert kannte nur den Zeitpunkt und den Ort des Geschehens: Sonntag, 14. Oktober, Uetendorf.
Wenn er sich recht erinnerte, wurden ganztägige Busrundfahrten nur in zwei Großstädten angeboten: Zürich und Genf. Während Robert zum Telefonbuch griff, dachte er: Vielleicht sollte ich einfach unter W wie Wunder nachschlagen.
Er fand über ein halbes Dutzend Veranstalter von Busrundfahrten: SUNSHINE TOURS, SWISS-TOUR, TOUR
SERVICE, TOURALPINO, TOURISMA REISEN… Er würde überall nachfragen müssen. Robert schrieb sich die Adressen auf, suchte sie auf dem Stadtplan und fuhr zu dem nächstgelegenen Unternehmen: TOUR SERVICE.
«Hoffentlich können Sie mir weiterhelfen«, sagte er zu der jungen Angestellten des Reisebüros.»Meine Frau hat letzten Sonntag eine Ihrer Rundfahrten mitgemacht und ihre Handtasche im Bus liegengelassen. Sie war wohl ein bißchen aufgeregt, glaube ich, weil sie den bei Uetendorf abgestürzten Wetterballon gesehen hat.«
Die Angestellte runzelte die Stirn.»Tut mir leid, das muß ein Irrtum sein. Nach Uetendorf führt keine unserer Touren.«
«Oh. Dann muß ich den Namen verwechselt haben.«Pech gehabt.
SUNSHINE TOURS, das zweite Reisebüro, zu dem er fuhr, lag am Bahnhofsplatz. Robert trat an die Theke und wartete, bis ein Angestellter zu ihm kam.»Guten Tag. Ich möchte mich nach einem Ihrer Busfahrer erkundigen. Soviel ich gehört habe, ist bei Uetendorf ein Wetterballon abgestürzt, und Ihr Fahrer hat eine halbe Stunde gehalten, damit die Fahrgäste die Absturzstelle besichtigen konnten.«
«Nein, nein! Er hat nur eine Viertelstunde lang gehalten. Wir legen größten Wert auf Pünktlichkeit.«Volltreffer!
«Und warum interessieren Sie sich dafür?«Robert zückte einen der Ausweise, die ihm Hilliard mitgegeben hatte.»Ich bin Journalist«, stellte er sich vor,»und schreibe für das Magazin Travel and Leisure einen Artikel über die Verläßlichkeit des Schweizer Busverkehrs im Vergleich zu anderen Ländern. Glauben Sie, daß ich Ihren Fahrer interviewen könnte?«
«Wirklich höchst interessant! Wir Schweizer sind stolz auf unsere Effizienz.«
«Und das mit vollem Recht«, versicherte Robert ihm.
«Würden Sie den Namen unserer Firma erwähnen?«
«Das versteht sich von selbst.«
Der Mann hinter der Theke lächelte.»Dann ist wohl nichts gegen das Interview einzuwenden.«
«Könnte ich gleich jetzt mit ihm reden?«
«Heute ist sein freier Tag. «Der Angestellte schrieb in Druckbuchstaben einen Namen und eine Adresse auf einen Zettel.»Er wohnt in Kappel. Das ist ein Dorf ungefähr fünfundzwanzig Kilometer südlich von Zürich. Ich nehme an, daß Sie ihn um diese Zeit zu Hause antreffen.«
Robert ließ sich den Zettel geben.»Herzlichen Dank. Äh, noch etwas… Ich hätte gern alle Fakten, damit der Artikel farbiger wird. Können Sie feststellen, wie viele Tickets für die besagte Rundfahrt verkauft worden sind?«
«Selbstverständlich. «Der Mann zog ein dickes Buch unter der Theke hervor und blätterte darin.»Ah, da haben wir’s schon! Sonntag. Hans Beckermann. Sieben Fahrgäste. Mit dem Iveco, unserem kleinen Bus.«
Sieben unbekannte Fahrgäste und der Fahrer. Robert wagte einen Vorstoß ins Ungewisse.»Haben Sie zufällig auch die Namen der Fahrgäste?«
Der Angestellte schüttelte den Kopf.»Die Leute kommen von der Straße rein, kaufen ihr Ticket und fahren mit. Wir verlangen keinen Ausweis.«
Wunderbar.»Nochmals vielen Dank. «Robert ging zur Tür.
Da der kleine Iveco ein Teil des großen Puzzles war, das Robert zusammensetzen mußte, fuhr er in die Talstraße, von der aus die Busse abfuhren. Dabei bewegte ihn die absurde Hoffnung, dort irgendeinen verborgenen Hinweis zu entdek-ken. Der Bus war braun-silbern lackiert und hatte 14 Sitzplätze. Sehr aufschlußreich, dachte Robert grimmig.
Dann ging er zu seinem Wagen zurück und suchte auf der Karte die Straße nach Kappel. Er verließ Zürich auf der nach Süden führenden Stadtautobahn, benützte die Ausfahrt Aldis-wil und fuhr über Langnau und Hausen weiter. Nach gut halbstündiger Fahrt durch eine in prachtvollen Herbstfarben leuchtende Bilderbuchlandschaft erreichte er Kappel. Das Dorf bestand aus einer Kirche, einem Postamt, einem Restaurant und etwa drei Dutzend über die Hügel verstreuten Häusern.
Nachdem er einen Passanten nach dem Weg zu Hans Beckermann gefragt hatte, bog Robert hinter der Kirche rechts in eine Gasse ab und hielt vor einem bescheidenen einstöckigen Haus mit rotem Ziegeldach. Er parkte seinen Wagen, ging zur Haustür, und klingelte.
Eine dicke Frau mit einem Anflug von Oberlippenbart machte ihm auf.»Sie wünschen?«
«Entschuldigen Sie die Störung — aber ist Herr Beckermann zu Hause?«
Sie musterte ihn mißtrauisch.»Was wollen Sie von ihm?«
Robert setzte sein liebenswürdigstes Lächeln auf.»Sie sind bestimmt Frau Beckermann. «Er zeigte ihr seinen gefälschten
Presseausweis.»Ich schreibe für ein Reisemagazin einen Artikel über Schweizer Busfahrer, und Ihr Mann ist meiner Redaktion als besonders guter und sicherer Fahrer empfohlen worden.«
Die dicke Frau wurde sofort freundlicher.»Mein Hans ist ein ausgezeichneter Fahrer«, sagte sie stolz.
«Das habe ich auch gehört, Frau Beckermann. Deshalb möchte ich ihn bitten, mir ein Interview zu geben.«
«Mein Hans soll ein Zeitungsinterview geben?«Diese Vorstellung brachte sie sichtlich durcheinander.»Bitte, kommen Sie herein!«
Sie führte Robert in ein kleines, mustergültig aufgeräumtes Wohnzimmer.»Nehmen Sie bitte einen Augenblick Platz. Ich hole meinen Mann.«
Ein Zimmer mit niedriger Balkendecke und dunklen Bodendielen, auf denen schlichte Holzmöbel standen. Vor den Fenstern hingen Spitzenstores.
Robert blieb nachdenklich an dem offenen Kamin stehen. Dies war nicht nur seine beste, dies war die einzige Spur. Falls Beckermann mir nicht weiterhelfen kann, bleibt mir bloß noch eine Anzeige: Die sieben Busfahrgäste, die letzten Sonntag den Absturz eines Wetterballons beobachtet haben, werden gebeten, sich morgen um 10 Uhr in meinem Hotelzimmer einzufinden, frühstück wird serviert.
Ein hagerer, glatzköpfiger Mann kam herein. Sein Gesicht war blaß, und er trug einen buschigen schwarzen Schnurrbart, der gar nicht zu seiner sonstigen Erscheinung paßte.»Guten Tag, Herr…?«
«Smith. Guten Tag!«Robert bemühte sich um einen jovialen Tonfall.»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Herr Beckermann. Sehr erfreut!«
«Meine Frau sagt, daß Sie einen Zeitungsartikel über Busfahrer schreiben wollen. «Der Mann bemühte sich hörbar, Hochdeutsch zu sprechen.
Robert lächelte einschmeichelnd.»Genau! Ihre langjährige unfallfreie Fahrpraxis interessiert uns sehr, und wir…«
«Den Unsinn können Sie sich sparen!«unterbrach Beckermann ihn grob.»Sie interessiert das Ding, das gestern nachmittag abgestürzt ist, stimmt’s?«
Robert gelang es, leicht verlegen zu wirken.»Ja, Sie haben recht, darüber wollte ich auch mit Ihnen sprechen.«
«Warum sagen Sie das nicht gleich? Kommen Sie, setzen Sie sich.«
«Danke. «Robert nahm auf dem Sofa Platz.
«Sie müssen entschuldigen, daß ich Ihnen nichts anbiete«, fuhr Beckermann fort,»aber wir haben keinen Schnaps mehr im Haus. «Er tippte sich auf seinen Magen.»Magengeschwüre. Die Ärzte können mir nicht mal Schmerzmittel verschreiben, weil ich gegen alle allergisch bin. «Er setzte sich Robert gegenüber.»Aber Sie sind nicht hergekommen, um mit mir über meine Gesundheit zu reden, nicht wahr? Was wollen Sie also wissen?«
«Ich möchte mit Ihnen über die Fahrgäste reden, die letzten Sonntag in Ihrem Bus gesessen haben, als Sie in der Nähe von Uetendorf an der Absturzstelle des Wetterballons hielten.«
Hans Beckermann starrte ihn verständnislos an.»Wetterballon? Welcher Wetterballon? Wovon reden Sie überhaupt?«
«Von dem Ballon, der.«
«Sie meinen das Raumschiff.«
Jetzt starrte Robert ihn fassungslos an.»Das… Raumschiff?«
«Ja, die Fliegende Untertasse.«
Robert brauchte einen Augenblick, um die Bedeutung dieser Worte zu erfassen. Dann lief ihm ein kalter Schauder über den Rücken.»Soll das heißen, daß Sie eine Fliegende Untertasse gesehen haben?«
«Ja. Mit Leichen drin.«
Gestern ist in den Schweizer Alpen ein NATO-Wetterballon niedergegangen. Seine Gondel enthielt einige höchst geheime militärische Versuchsobjekte. Robert bemühte sich, ruhig weiterzusprechen.»Herr Beckermann, wissen Sie bestimmt, daß Sie eine Fliegende Untertasse gesehen haben?«
«Natürlich! Ein richtiges UFO!«
«Und Sie haben darin Tote gesehen?«
«Keine toten Menschen. Fremdartige Wesen. Es ist schwierig, sie zu beschreiben. «Beckermann schauderte.»Sie sind sehr klein gewesen, aber sie haben riesige Augen gehabt. Und sie haben silberne Anzüge getragen. Eigentlich harmlos, aber irgendwie doch erschreckend.«
Robert hatte staunend zugehört.»Haben Ihre Fahrgäste das auch gesehen?«
«O ja! Wir haben’s alle gesehen. Ich habe eine gute Viertelstunde dort gehalten.«
Robert stellte seine nächste Frage — und wußte im voraus, daß sie sinnlos war.»Herr Beckermann, kennen Sie zufällig die Namen irgendwelcher Fahrgäste, die Sie an diesem Sonntag befördert haben?«
«Hören Sie, ich bin bloß der Busfahrer. Die Leute kaufen ihr Ticket in Zürich, und wir fahren bis Interlaken und dann weiter nach Bern. Sie können in Bern aussteigen oder nach Zürich zurückfahren. Ihre Namen brauchen sie nie anzugeben.«
«Es gibt also keine Möglichkeit, auch nur einen der Fahrgäste zu identifizieren?«fragte Robert, der nun der Verzweiflung nahe war.
Der Busfahrer dachte kurz nach.»Nun, ich kann Ihnen sagen, daß keine Kinder mitgefahren sind. Nur Männer.«
«Ausschließlich Männer?«
Beckermann schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn.»Nein, das stimmt nicht! Eine Frau war dabei.«
Toll! Das ist wirklich ein großer Fortschritt, dachte Robert. Und die nächste Frage lautet: Warum zum Teufel hast du diesen Auftrag übernommen?
«Können Sie sich in bezug auf die Fahrgäste an irgend etwas erinnern? Was jemand gesagt oder getan hat?«
Beckermann schüttelte den Kopf.»Wissen Sie, man gewöhnt sich an, gar nicht auf sie zu achten. Außer sie machen einem Schwierigkeiten — wie dieser Deutsche.«
«Welcher Deutsche?«fragte Robert gespannt.
«Ein alter Stänkerer! Die anderen sind ganz aufgeregt gewesen wegen des UFOs und den toten Wesen, aber dieser Alte hat die ganze Zeit rumgenörgelt, wir sollten weiterfahren. Er müßte nach Bern, hat er gesagt, um an einer Vorlesung zu arbeiten, die er am nächsten Morgen an der Universität halten sollte.«
Immerhin ein Anfang.»Fällt Ihnen sonst noch etwas zu ihm ein?«
«Nein.«
«Gar nichts?«
«Er hat einen schwarzen Mantel getragen.«
Großartig.»Herr Beckermann, ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Würden Sie mit mir nach Uetendorf fahren?«
«Heute ist mein freier Tag. Ich wollte…«
«Ich würde mich auch erkenntlich zeigen.«
«Ja?«
«Zweihundert Franken.«
«Tut mir leid, ich…«
«Gut. Vierhundert Franken.«
Beckermann überlegte kurz.»Na ja, warum eigentlich nicht? Ist doch ein schöner Tag für einen kleinen Ausflug, oder?«
Sie fuhren gen Süden. Die Landschaft hinter Luzern war atemberaubend schön, aber Robert hatte heute keinen Blick dafür.
Sie kamen durch Brüling und Briens Richtung Interlaken. Dann erreichten sie den Thuner See, auf dessen blauem Wasser sich Segler und Surfer tummelten.
«Wie weit ist’s noch?«fragte Robert.
«Wir sind bald da«, versprach Hans Beckermann ihm,»gleich hinter Thun, der nächste Ort.«
Robert spürte, daß sein Herz rascher zu schlagen begann. Er sollte etwas zu sehen bekommen, das alle menschliche Vorstellungskraft überstieg: Besucher aus dem Weltraum! Sie ließen Thun rechts liegen und bogen in Richtung Uetendorf ab, und als einige Minuten später jenseits der Straße ein Wäldchen auftauchte, zeigte Hans Beckermann darauf und sagte:»Dort drüben!«
Robert bremste und parkte den Wagen am Straßenrand.
«Auf der anderen Seite. Hinter den Bäumen.«
Roberts Aufregung wuchs.»Gut, sehen wir uns die Sache mal an.«
Robert folgte dem Busfahrer einen kleinen Abhang hinauf in das Wäldchen. Schon nach wenigen Metern war die Straße nicht mehr zu sehen. Als sie auf eine Lichtung hinaustraten, verkündete Beckermann:»Genau hier ist’s gewesen!«
Vor ihnen auf dem Boden erblickten sie die Überreste eines riesigen Wetterballons.