Vierzehnter Tag Budapest
Der Flug von Paris nach Budapest mit der ungarischen Fluggesellschaft Malev dauerte eindreiviertel Stunden. Vom Flughafen fuhr Robert mit dem Bus ins Zentrum der ungarischen Hauptstadt. Dabei kam er an dem imposanten Parlamentsgebäude vorbei, einem riesigen neugothischen Bau, der das Pester Ufer der Donau beherrscht. Auf der anderen Seite des Flusses erblickte er die Burg und die berühmte Fischerbastei.
Der Bus hielt vor dem Hotel Duna Intercontinental. Robert durchquerte die Hotelhalle und trat an die Rezeption.
«Entschuldigung, sprechen Sie Englisch?«fragte er einen der livrierten Hotelangestellten.
«Gewiß, Sir. Was kann ich für Sie tun?«»Einer meiner Freunde ist vor paar Tagen in Budapest gewesen und hat mir von einem malerischen kleinen Jahrmarkt vorgeschwärmt. Ich dachte, ich könnte hingehen, wenn ich schon mal hier bin. Können Sie mir sagen, wo ich ihn finde?«
Der Angestellte runzelte die Stirn.»Jahrmarkt?«Er griff nach einer Liste und überflog sie.»In Budapest haben wir im Augenblick Opern- und Theatervorstellungen, Stadtrundfahrten, Ausflüge ins Umland…«Er blickte auf.»Tut mir leid, aber mit einem Jahrmarkt kann ich Ihnen nicht dienen.«
«Haben Sie eine Idee, wer mir sonst weiterhelfen könnte?«
«Vielleicht das Kultusministerium«, schlug der Angestellte vor.
Eine halbe Stunde später sprach Robert mit einem Beamten des Kultusministeriums.
«In Budapest findet gegenwärtig kein Jahrmarkt statt.«
Robert seufzte resigniert. Dann hatte er eine Idee.»Ich habe noch eine Frage. Nehmen wir einmal an, ich wollte mit einem Schaustellerbetrieb nach Ungarn einreisen — müßte ich dann eine Genehmigung beantragen?«
«Gewiß.«
«Und wo bekäme ich die?«
«Auf dem städtischen Gewerbeamt.«
Das Gewerbeamt war auf der Budaer Seite in einem Gebäude an der mittelalterlichen Stadtmauer untergebracht. Robert wartete eine weitere halbe Stunde lang, bis er in das Dienstzimmer eines aufgeblasenen Beamten vorgelassen wurde.
«Sie wünschen?«
«Ich hoffe, daß Sie mir helfen können. Ich belästige Sie nur ungern wegen einer Bagatelle, aber ich bin mit meinem zwölfjährigen Sohn hier, und er hat von einem originellen Jahrmarkt mit Schaustellerbetrieben gehört, der irgendwo in Ungarn stattfinden soll. Ich habe ihm versprochen, mit ihm hinzufahren. Sie wissen ja, wie Kinder sind, wenn sie sich was in den Kopf gesetzt haben…«
Der Beamte musterte ihn von oben herab.»Weswegen wollten Sie mich also sprechen?«
«Offensichtlich scheint niemand zu wissen, wo der Jahrmarkt stattfindet… Aber ich habe mir sagen lassen, daß Sie der einzige sind, der immer weiß, was in Ungarn vor sich geht.«
Der Beamte nickte gewichtig.»Ja. Solche Veranstaltungen müssen immer genehmigt sein. «Er drückte auf den Summerknopf, um seine Sekretärin hereinzurufen, und gab ihr auf ungarisch eine kurze Anweisung.
Eine Minute später kam die Sekretärin mit einem Ordner zurück, den sie ihrem Chef gab. Nachdem er darin geblättert hatte, sagte er:»Letzten Monat haben wir nur zwei Genehmigungen für Jahrmärkte ausgestellt. Eine ist bereits abgelaufen.«
«Und die andere?«
«Den anderen Jahrmarkt finden Sie zur Zeit in Sopron. Das ist eine Kleinstadt an der Grenze zu Österreich.«
«Können Sie mir sagen, wer die Genehmigung beantragt hat?«
Der Beamte warf einen Blick in den Ordner.»Ein Schausteller namens Buszfekete. Laszlo Buszfekete.«
Nur wenigen Menschen ist es vergönnt, ihr Leben lang genau das zu tun, was ihnen Spaß macht, und Laszlo Buszfekete gehörte zu diesen Glücklichen. Er war ein Hüne von Gestalt — über 1,90 Meter groß — und wog gut zweieinhalb Zentner. Sein Vater hatte einen kleinen Schaustellerbetrieb gehabt, und nach seinem Tod hatte der Sohn ihn übernommen. Ein anderes Leben hatte er nie gekannt.
Laszlo Buszfekete hatte grandiose Träume. Er wollte seinen kleinen Schaustellerbetrieb zum größten und besten Europas ausbauen. Vorläufig konnte er nur mit den üblichen Attraktionen aufwarten: dem Riesenweib, dem tätowierten Mann, den
Siamesischen Zwillingen und der fünftausendjährigen Mumie, die» aus der Grabkammer einer ägyptischen Königspyramide «stammte. Dazu kamen noch der Messerwerfer, der Feuerschlucker und die niedliche kleine Schlangenbeschwörerin Marika. Sein Schaustellerbetrieb unterschied sich also in nichts von anderen vergleichbaren Unternehmen.
Aber das würde sich jetzt alles ändern. Laszlo Buszfekete war nach Zürich geflogen, um sich einen berühmten Entfess-lungskünstler anzusehen. Am letzten Tag seines Aufenthalts in der Schweiz hatte er an einer Busrundfahrt teilgenommen, um die Zeit bis zum Abflug seiner Maschine totzuschlagen. Und diese Fahrt brachte die große Wende in seinem Leben.
Wie seine Reisegefährten war Buszfekete zu dem Schauplatz der sonderbaren Explosion gelaufen, um vielleicht Überlebende des vermeintlichen Flugzeugabsturzes zu retten. Und dann hatte er die Fliegende Untertasse mit den beiden seltsamen Gestalten erblickt, die reglos in der Raumkapsel lagen.
Laszlo Buszfekete hatte einen Rundgang um das UFO gemacht und war dann plötzlich wie angewurzelt stehengeblieben. Ungefähr drei Meter hinter dem Wrack — wo die anderen sie nicht sehen konnten — lag eine winzige abgetrennte Hand mit sechs Fingern und zwei gegeneinander gerichteten Daumen. Instinktiv zog er sein Taschentuch heraus, wickelte die Hand hinein und steckte sie in seine Tasche. Sein Herz klopfte heftig. Er besaß die Hand eines echten Außerirdischen!
Ab sofort ist Schluß mit Riesendamen, tätowierten Männern und Schwert- und Feuerschluckern, dachte Buszfekete. Hereinspaziert, meine Damen und Herrn, bei uns erwartet Sie die größte Sensation, die Sie jemals erleben werden! Sie werden etwas sehen, das noch keines Menschen Auge erblickt hat — eines der unglaublichsten Objekte des Universums…
Es ist kein Tier. Es ist keine Pflanze. Es ist kein Mineral. Was ist es sonst? Es gehört zu den sterblichen Überresten eines außerirdischen Lebewesens, eines Wesens von einem anderen
Planeten. Dies ist kein Science-fiction-Trick, meine Damen und Herrn, dies ist das unverfälschte Original! Für nur tausend Forint können Sie sich mit unserem Ausstellungsstück fotografieren lassen, um…
Er konnte es kaum noch erwarten, nach Ungarn heimzukehren und sich seinen großen Traum zu erfüllen.
Als er zu Hause das Taschentuch auseinanderfaltete, mußte er feststellen, daß die kleine Hand geschrumpft war. Aber als Buszfekete den Schmutz von ihr abspülte, wurde sie zu seiner Verblüffung wieder so fest wie zuvor.
Buszfekete ließ einen prunkvollen Glaskasten mit spezieller Befeuchtungsanlage für die Hand bauen. Nach Ungarn würde er ganz Europa, ja die ganze Welt bereisen, um sie auszustellen. Er dachte bereits an Sonderausstellungen in Museen, an Besichtigungstermine für Wissenschaftler, vielleicht sogar für Staatsoberhäupter. Und alle würden dafür zahlen müssen.
Er hatte noch niemand von seinem Glücksfund erzählt, nicht einmal seiner Geliebten Marika, der heißen kleinen Schlangenbeschwörerin, die mit Kobras und Puffottern arbeitete. Natürlich waren die Giftdrüsen der Tiere entfernt worden — aber das wußten die Zuschauer nicht, weil er auch eine Kobra mit intakten Giftdrüsen hielt, der das Publikum kostenlos zusehen durfte, wie sie Ratten erlegte und verschlang.
Kein Wunder, daß die Zuschauer begeistert waren, wenn die schöne Marika ihre Lieblingsschlangen über ihren aufreizend halbnackten Leib kriechen ließ. Zwei, drei Nächte in der Woche kam Marika in Laszlo Buszfeketes Wohnwagen und kroch wie ihre Lieblinge züngelnd über seinen Körper. Sie hatten sich auch in der vergangenen Nacht geliebt, und Buszfekete war von Marikas unglaublicher Gelenkigkeit noch immer ganz erschöpft. Aber nun wurde er von einem Besucher aus seinen Erinnerungen gerissen.
«Mr. Buszfekete?«sprach ihn jemand auf englisch an.
«Was kann ich für Sie tun?«»Sie sind letzte Woche in der Schweiz gewesen?«
Buszfekete stutzte. Hat jemand gesehen, daß ich die Hand aufgehoben und mitgenommen habe?» Ja, das stimmt.«
«Sie haben letzten Sonntag eine Busrundfahrt mitgemacht?«fragte der Unbekannte weiter.
«Richtig«, bestätigte Buszfekete vorsichtig.
Robert Bellamy atmete auf. Damit war er praktisch am Ziel. Dies war der letzte Augenzeuge. Robert hatte einen unmöglichen Auftrag übernommen und gute Arbeit geleistet. Verdammt gute Arbeit, wenn ich das mal sagen darf. >Wir haben keine Ahnung, wie viele Zeugen es gibt, wie sie heißen oder wo sie sich im Augenblick befinden.< Und er hatte sie alle aufgespürt! Er fühlte sich, als wäre eine Riesenlast von seinen Schultern genommen worden. Jetzt war er frei. Er konnte nach Hause zurückkehren und ein neues Leben beginnen.
«Was wollen Sie denn nun wissen, Mister?«
«Eigentlich nichts Besonderes«, versicherte Robert Bellamy ihm.»Ich hatte mich für Ihre Mitreisenden interessiert, Mr. Buszfekete, aber mittlerweile weiß ich schon alles über sie und.«
«Über die kann ich Ihnen einiges erzählen«, erklärte Laszlo Buszfekete.»Meine Mitreisenden waren: ein italienischer Geistlicher aus Orvieto, ein Deutscher — ein Chemieprofessor aus München, wenn ich mich recht erinnere —, eine junge Russin, die in der Stadtbibliothek Kiew arbeitet, ein Rancher aus Texas, ein kanadischer Bankier aus Fort Smith und ein Lobbyist namens Parker aus Washington.«
Großer Gott! dachte Robert. Wäre ich gleich an diesen Mann geraten, hätte ich viel Zeit gespart.»Sie haben ein erstaunlich gutes Gedächtnis«, meinte er anerkennend.
«Stimmt. «Buszfekete lächelte geschmeichelt.»Oh, und dann war da noch die andere Frau!«
«Die junge Russin?«
«Nein, nein, die andere. Die große, schlanke Frau ganz in
Weiß.«
Robert überlegte kurz. Keiner der anderen Fahrgäste hatte von einer zweiten Frau gesprochen.»Sie täuschen sich.«
«Nein, bestimmt nicht!«beteuerte der Ungar.»An der Absturzstelle sind zwei Frauen gewesen.«
«Sie müssen sich täuschen.«
Buszfekete war gekränkt.»Als der Fotograf uns alle vor dem UFO aufgenommen hat, hat sie neben mir gestanden. Sie war ‘ne richtige Schönheit. «Er dachte nach.»Komisch, ich kann mich nicht daran erinnern, sie im Bus gesehen zu haben. Wahrscheinlich hat sie irgendwo hinten gesessen. Sie hat so blaß ausgesehen, daß ich mir Sorgen um sie gemacht habe.«
Robert runzelte die Stirn.»Ist sie mitgekommen, als Sie alle zum Bus zurückgegangen sind?«
«Wenn ich’s mir recht überlege, hab’ ich sie danach nicht mehr gesehen. Aber vielleicht bin ich ja wegen dieser Sache mit dem UFO so aufgeregt gewesen, daß ich nicht mehr auf sie geachtet habe.«
Irgend etwas stimmte hier nicht. Könnten es elf statt zehn Augenzeugen gewesen sein? Das muß ich überprüfen, dachte Robert.»Danke, Mr. Buszfekete.«
«Ich habe den Namen des Ungarn«, teilte Robert Bellamy General Hilliard mit.»Er heißt Laszlo Buszfekete und hat auf einem Jahrmarkt im ungarischen Sopron eine Kuriositätenschau.«
«Ist das der letzte Augenzeuge?«
Robert zögerte einen Augenblick.»Ja, Sir. «Er wollte noch weitere Nachforschungen anstellen, bevor er General Hilliard über die mysteriöse» Frau in Weiß«informierte.
«Danke, Commander. Gute Arbeit.«
BLITZMELDUNG
TOP SECRET ULTRA NSA AN DIREKTOR HRQ PERSÖNLICH
1. AUSFERTIGUNG VON 1 AUSFERTIGUNG(EN) BETREFF: OPERATION DOOMSDAY
10. LASZLO BUSZFEKETE — SOPRON
Sie kamen lange nach Mitternacht, als die Kuriositätenschau bereits seit Stunden geschlossen hatte, und entfernten sich eine Viertelstunde später ebenso leise, wie sie gekommen waren.
Laszlo Buszfekete träumte, er stehe am Eingang des großen weißen Zelts und beobachte das Gedränge der Menschenmassen, die an der Kasse anstanden, um Eintrittskarten zu lösen.
Nur hereinspaziert, meine Damen und Herrn! Sehen Sie den echten Körperteil eines außerirdischen Lebewesens. Ein echter Körperteil eines echten E.T.s. Nur 1000 Forint für einen Anblick, den Sie nie vergessen werden.
Und dann war Laszlo mit Marika im Bett, und sie waren beide nackt, und er fühlte, wie die Spitzen ihrer Brüste über seine Haut strichen und ihre Zunge über seinen Körper glitt. Ihre Lippen schienen überall gleichzeitig zu sein. Er griff nach Marika, und seine Hände schlossen sich um etwas Kaltes und Schleimiges, und er schrak hoch und riß die Augen auf und schrie — und in diesem Augenblick stieß die Kobra zu.
Seine Leiche wurde am nächsten Morgen aufgefunden. Das große Terrarium der Giftschlange war leer.
BLITZMELDUNG
TOP SECRET ULTRA HRQ AN DIREKTOR NSA PERSÖNLICH 1. AUSFERTIGUNG VON 1 AUSFERTIGUNG(EN)
BETREFF: OPERATION DOOMSDAY
10. LASZLO BUSZFEKETE — LIQUIDIERT TEXTENDE
General Hilliard telefonierte mit Janus.»Ich habe soeben Commander Bellamys Abschlußbericht erhalten. Er hat den letzten Zeugen aufgespürt. Wir haben uns um alle gekümmert.«
«Ausgezeichnet. Ich informiere die anderen. Und Sie setzen inzwischen den Rest unseres Plans in die Tat um.«
«Sofort, Sir.«
BLITZMELDUNG
TOP SECRET ULTRA NSA AN DIREKTOREN:
SIFAR, ML6, GRU, CIA, COMSEC, DCI, CGHQ, BND PERSÖNLICH 1. AUSFERTIGUNG VON 1 AUSFERTIGUNG(EN)
BETREFF: OPERATION DOOMSDAY
11. COMMANDER ROBERT BELLAMY — LIQUIDIEREN
Der Gejagte