Die National Security Agency liegt diskret versteckt auf einem weitläufigen, mehr als dreiunddreißig Hektar umfassenden Gelände in Fort Meade, Maryland, und residiert dort in zwei Gebäuden, deren Grundfläche doppelt so groß ist wie die des CIA-Komplexes in Langley, Virginia. Zu den Hauptaufgaben der NSA gehören die technische Abschirmung amerikanischer Nachrichtenverbindungen und die Sammlung weltweiter Geheimdienstinformationen — und letzteres besorgt sie so gründlich, daß dort jeden Tag über vierzig Tonnen Dokumente in den Reißwolf wandern.
Es war noch dunkel, als Commander Robert Bellamy das erste Tor erreichte, das in einen zweieinhalb Meter hohen, mit
Stacheldraht bewehrten Maschendrahtzaun eingelassen war. Am Tor stand ein Wachhäuschen mit zwei bewaffneten Posten. Einer trat an den Wagen heran.»Sie wünschen, Sir?«
«Commander Bellamy. General Hilliard erwartet mich.«
«Bitte Ihren Dienstausweis, Commander.«
Robert Bellamy zog das Dokument, das ihn als Angehörigen des Marinenachrichtendiensts auswies, aus der Brieftasche und reichte ihn dem Mann. Der Posten studierte ihn aufmerksam und gab ihn dann zurück.»Danke, Commander.«
Bevor er den elektrischen Toröffner betätigte, nickte er dem zweiten Mann im Wachhäuschen zu, der daraufhin nach einem Telefonhörer griff, um zu melden:»Commander Bellamy ist unterwegs.«
Eine Minute später erreichte Robert Bellamy das geschlossene Tor im Elektrozaun.
Ein bewaffneter Posten trat an den Wagen.»Commander Bellamy?«
«Ja.«
«Bitte Ihren Dienstausweis, Commander.«
Robert wollte protestieren, aber dann dachte er: Wozu sich aufregen? Schließlich ist das ihr Zoo. Er zog wieder seinen Ausweis heraus und hielt ihn dem Posten unter die Nase.
«Danke, Commander. «Der Uniformierte winkte, und das Tor öffnete sich.
Robert Bellamy fuhr weiter und erblickte kurze Zeit später einen dritten Maschendrahtzaun. Mein Gott, dachte er, ich bin im Lande Oz!
Und wieder trat ein bewaffneter Uniformierter an den Wagen heran. Doch bevor Robert seinen Ausweis zücken konnte, warf der Posten einen Blick auf sein Kennzeichen und sagte:»Bitte fahren Sie geradeaus weiter zum Verwaltungsgebäude, Commander. Sie werden dort erwartet.«
«Danke.«
Das Tor öffnete sich, und Robert fuhr bis zu einem riesigen weißen Gebäude. Vor dem Haupteingang erwartete ihn ein Mann in Zivil.»Lassen Sie den Wagen einfach stehen, Commander!«rief er ihm zu.»Wir kümmern uns darum.«
Robert Bellamy stieg aus. Der Mann, der ihn begrüßte, war ein großer, hagerer, auffällig blasser Mittdreißiger. Er sah aus, als hätte er monatelang nicht mehr das Sonnenlicht erblickt.
«Mein Name ist Harrison Keller. Ich bringe Sie zu General Hilliard.«
Sie betraten die weitläufige, zwei Stockwerke hohe Eingangshalle. An der Tür saß ein Zivilist hinter einem Schreibtisch.»Commander Bellamy…«
Robert Bellamy drehte sich um. Er hörte den Auslöser einer Kamera klicken.
«Danke, Sir.«
Robert wandte sich an seinen Begleiter.»Was…?«
«Das dauert bloß ‘ne Minute«, versicherte ihm Harrison Keller.
Sechzig Sekunden später bekam Robert eine blau-weiße Ausweiskarte mit seinem Photo überreicht.
«Ihren Ausweis tragen Sie bitte deutlich sichtbar, solange Sie sich in diesem Gebäude aufhalten, Commander.«
«Wird gemacht.«
Nun marschierten sie einen endlos langen weißen Korridor hinunter. Robert stellte fest, daß dieser Flur lückenlos von Videokameras überwacht wurde.
«Wie groß ist dieses Gebäude?«
«Es hat fast zweihunderttausend Quadratmeter Grundfläche, Commander.«
«Was?«
«Ja. Dieser Flur ist mit rund dreihundert Metern der längste der Welt. Wir sind hier völlig autark. Wir haben ein Einkaufszentrum, eine Cafeteria, acht Schnellimbisse, einen PX, ein Krankenhaus mit OP, eine Zahnarztpraxis, eine Filiale der State Bank of Laurel, eine chemische Reinigung, ein Schuhgeschäft, einen Friseur und noch ein paar weitere Einrichtungen.«
Sie kamen an einem Saal mit einem Meer von Computern vorbei. Verblüfft blieb Robert stehen.
«Eindrucksvoll, nicht wahr? Dabei ist das nur einer unserer Computerräume. In dem gesamten Komplex stehen elektronische Geräte — Computer und Dechiffriermaschinen — im Wert von drei Milliarden Dollar.«
«Und wie viele Menschen arbeiten hier?«
«Ungefähr sechzehntausend.«
Wozu braucht ihr dann mich, verdammt noch mal? fragte sich Robert Bellamy.
Schließlich gelangten sie zu einem Privataufzug, dessen Tür Keller mit einem Schlüssel aufsperrte. Sie fuhren ein Stockwerk höher und wanderten abermals einen endlos langen Gang entlang, bis sie die Bürosuite am Ende des Korridors erreichten.
«Wir sind da, Commander. «Sie betraten ein großes Vorzimmer mit vier Arbeitsplätzen für Sekretärinnen. Zwei Sekretärinnen saßen bereits an ihren Schreibtischen. Harrison Keller nickte einer von ihnen zu, die daraufhin per Knopfdruck die Tür zum Dienstzimmer ihres Chefs entriegelte.
«Bitte gehen Sie gleich hinein, Gentlemen. Der General erwartet Sie.«
Robert Bellamy folgte Keller ins Allerheiligste. Er fand sich in einem geräumigen Büro wieder, dessen Decke und Wände mit schallschluckendem Material verkleidet waren. Davon abgesehen war der Raum behaglich möbliert und mit vielen Photos und persönlichen Andenken ausgestattet. Offensichtlich verbrachte der Mann, der jetzt vom Schreibtisch aufstand, hier einen großen Teil seiner Zeit.
General Mark Hilliard, der stellvertretende NSA-Direktor, mußte Mitte Fünfzig sein: ein hagerer Riese mit kantigem Gesicht und eisigen, stahlgrauen Augen. Zu seinem dunkel-grauen Anzug trug der General ein weißes Hemd und eine graue Krawatte. Richtig geraten! dachte Robert zufrieden.
«General, dies ist Commander Bellamy«, sagte Harrison Keller.
«Danke, daß Sie vorbeigekommen sind, Commander.«
Als ob er mir eine Einladung zum Tee geschickt hätte.
Die beiden Männer schüttelten sich die Hände.
«Nehmen Sie bitte Platz. Ich möchte wetten, daß Sie eine Tasse Kaffee vertragen könnten.«
Der Mann kann Gedanken lesen.»Ja, Sir.«
«Harrison?«
«Nein, vielen Dank. «Keller nahm auf einem Stuhl in einer Ecke des Raums Platz.
Auf ein Klingelzeichen des Generals brachte ein Orientale in weißer Jacke ein Tablett mit Kaffee und dänischen Törtchen herein. Robert fiel auf, daß er keinen Ausweis an seiner Jacke trug. Was für ein Sakrileg!
«Der Direktor hat mich gebeten, mit Ihnen zu sprechen.«
Der Direktor. Edward Sanderson. In Geheimdienstkreisen eine legendäre Figur. Ein brillanter, skrupelloser Drahtzieher, dem Dutzende von gewagten Coups in allen Erdteilen zugeschrieben wurden. Ein Mann, der nur selten öffentlich auftrat und über den heimlich um so mehr geflüstert wurde.
«Wie lange sind Sie beim Marinenachrichtendienst, Commander?«fragte General Hilliard.
Robert verzog keine Miene.»Sieben Jahre. «Er hätte einen Monatssold darauf verwettet, daß der General ihm die Uhrzeit seines Eintritts ins Office of Naval Intelligence hätte sagen können.
«Und davor sind Sie Staffelchef bei den Marinefliegern in Vietnam gewesen?«
«Ja, Sir.«
«Sie sind abgeschossen worden. Niemand hat damit gerechnet, daß Sie durchkommen würden.«
Den könnt ihr vergessen<, hatte der Arzt gesagt. >Der hat nicht die geringste Chance.< Und er wäre am liebsten gestorben, so unerträglich waren die Schmerzen. Und dann beugte Susan sich über ihn. >Los, wach schon auf, Seemann. Du willst doch nicht sterben?< Robert zwang sich dazu, seine Augen zu öffnen, und starrte die schönste Frau an, die er je gesehen hatte. Sie hatte ein ebenmäßiges ovales Gesicht, dichtes schwarzes Haar, glänzende braune Augen und ein sanftes Engelslächeln. Er versuchte zu sprechen, aber das war zu anstrengend…
«Wir haben ein Problem, Commander. Wir brauchen Ihre Hilfe.«
Der General erhob sich und ging zwischen Tür und Schreibtisch auf und ab.»Was ich Ihnen jetzt erzähle, ist geheimer als top secret.«
«Ja, Sir.«
«Gestern ist in den Schweizer Alpen ein NATO-Wetterballon niedergegangen. Seine Gondel enthielt einige streng geheime militärische Versuchsobjekte.
Die Schweizer Behörden haben die Objekte aus der Gondel geborgen, aber leider scheinen mehrere Leute Zeugen geworden zu sein. Für uns ist entscheidend wichtig, daß keiner von ihnen mit anderen über seine Beobachtungen spricht. Denn dadurch könnten bestimmte andere Staaten wertvolle Informationen erhalten. Alles klar bisher?«
«Gewiß, Sir. Ich soll mit den Augenzeugen reden und ihnen einschärfen, mit niemandem über ihre Beobachtungen zu sprechen. «
«Nicht ganz, Commander.«
«Tut mir leid, dann.«
«Ich möchte, daß Sie die Zeugen lediglich aufspüren. Andere werden ihnen dann begreiflich machen, daß sie schweigen müssen.«
«Ich verstehe. Sind die Augenzeugen alle in der Schweiz?«
General Hilliard blieb vor Robert stehen.»Das ist gerade das
Problem, Commander. Wir haben keine Ahnung, wie viele Zeugen es gibt, wie sie heißen oder wo sie sich im Augenblick befinden. Oder wer sie sind.«
«Wie bitte, Sir?«
«Wir wissen lediglich, daß die Augenzeugen in einem Ausflugsbus gesessen haben. Sie haben zufällig den Absturz des Wetterballons in der Nähe der Gemeinde…«Er sah fragend zu Harrison Keller hinüber.
«Uetendorf.«
Der General wandte sich wieder an Robert.»Die Fahrgäste sind für ein paar Minuten ausgestiegen, um die Absturzstelle anzuschauen, und dann weitergefahren. Als ihre Rundfahrt zu Ende war, haben sie sich in alle Winde verstreut.«
«General Hilliard«, fragte Robert langsam,»soll das etwa heißen, daß es keine Unterlagen darüber gibt, wer diese Leute sind oder wo sie sich jetzt aufhalten?«
«Ganz recht.«
«Und ich soll rüberfliegen und sie finden?«
«Genau! Sie sind mir nachdrücklich empfohlen worden. Sie sprechen ein halbes Dutzend Sprachen fließend und haben in der Vergangenheit bei Auslandseinsätzen hervorragende Arbeit geleistet. Der Direktor hat veranlaßt, daß Sie zur NSA abkommandiert werden.«
Riesig.»Darf ich voraussetzen, daß ich mit den Schweizer Behörden zusammenarbeite?«
«Nein, Sie arbeiten allein.«
«Allein? Aber…«
«Wir dürfen niemanden sonst in diesen Auftrag hineinziehen. Ich kann die Bedeutung der Objekte in der Ballongondel nicht genug unterstreichen, Commander. Wir stehen unter allergrößtem Zeitdruck. Ich möchte, daß Sie mir jeden Tag melden, wie Sie vorankommen.«
General Hilliard schrieb eine Telefonnummer auf ein weißes Kärtchen und gab es Robert.»Unter dieser Nummer bin ich
Tag und Nacht zu erreichen. Wir haben ein Flugzeug bereitgestellt, das Sie nach Zürich bringt. Sie werden jetzt in Ihre Wohnung begleitet, damit Sie das Nötigste packen können, und danach zum Flugplatz gefahren.«
Soviel zu Danke, daß Sie vorbeigekommen sind.< Am liebsten hätte Robert gefragt:»Wer füttert meinen Goldfisch, solange ich weg bin?«- aber er hatte das Gefühl, daß die Antwort lauten würde:»Sie haben keinen Goldfisch.«
«Ich vermute wohl richtig, Commander, daß Sie durch Ihre ONI-Tätigkeit gute Verbindungen zu ausländischen Nachrichtendiensten besitzen?«
«Ja, Sir. Ich habe viele Freunde, an die ich mich wenden kann, um.«
«Sie nehmen mit keinem von ihnen Verbindung auf. Sie nehmen mit überhaupt niemandem Kontakt auf. Die Zeugen, nach denen Sie fahnden, sind zweifellos Bürger verschiedener Staaten. «Der General wandte sich an Keller.»Harrison…«
Keller trat an einen stählernen Karteischrank an der Rückwand des Raums, schloß ihn auf, nahm einen großen braunen Umschlag heraus und gab ihn Robert.
«Er enthält zwanzigtausend Dollar in bar und fünfzigtausend in verschiedenen europäischen Währungen. Außerdem finden Sie darin mehrere falsche Ausweise, die unter Umständen nützlich für Sie sein können.«
General Hilliard hielt ihm eine schwarze Kreditkarte mit weißem Querstreifen hin.»Das ist eine Kreditkarte, mit der Sie.«
«Ich bezweifle, daß ich sie brauchen werde, General. Das Bargeld dürfte reichen, und ich habe außerdem meine ONI-Kreditkarte.«
«Los, nehmen Sie sie schon!«
«Ja, Sir. «Robert begutachtete die Karte. Sie war von einer Bank ausgestellt, von der er noch nie gehört hatte. Unten auf der Karte stand eine Telefonnummer.»Der Name des Karten-inhabers fehlt«, stellte Robert fest.
«Diese Karte entspricht einem Blankoscheck. Als Benutzer brauchen Sie sich nicht auszuweisen. Sie veranlassen lediglich, daß diese Telefonnummer angerufen wird. Tragen Sie die Karte unbedingt immer bei sich.«
«Wird gemacht.«
«Noch etwas, Commander.«
«Sir?«
«Sie müssen diese Zeugen finden. Jeden einzelnen! Ich werde dem Direktor melden, daß Sie Ihre Arbeit aufgenommen haben.«
Damit war die Besprechung zu Ende.
Harrison Keller begleitete Robert ins Vorzimmer hinaus. Dort saß ein Offizier der Marineinfanterie. Er erhob sich, als die beiden Männer hereinkamen.
«Das hier ist Hauptmann Dougherty. Er bringt Sie zum Flugplatz. Viel Erfolg!«
«Danke.«
Die beiden Männer schüttelten sich die Hand. Keller machte kehrt und verschwand in General Hilliards Dienstzimmer.
«Kann’s losgehen, Commander?«fragte Hauptmann Dougherty.
«Ja.«Aber bin ich wirklich bereit? Er hatte schon früher schwierige Auslandsaufträge durchgeführt — aber noch keinen so verrückten wie diesen. Noch nie hatte er eine unbekannte Zahl von Augenzeugen aus unbekannten Ländern aufspüren müssen.
«Ich habe Befehl, Sie direkt in Ihre Wohnung und dann zur Andrews Air Force Base zu bringen«, sagte Hauptmann Dougherty.»Dort wartet eine Maschine, um Sie.«
Robert Bellamy schüttelte den Kopf.»Ich muß erst noch in meiner Dienststelle vorbeischauen.«
Der Hauptmann zögerte.»Okay. Ich komme mit und warte dort auf Sie.«
Man hätte glauben können, die NSA-Leute wagten nicht, ihn aus den Augen zu lassen. Weil er wußte, daß ein Wetterballon abgestürzt war? Das kam ihm ziemlich unsinnig vor. Robert gab seinen Ausweis am Ausgang ab und trat in den frischen Oktobermorgen hinaus. Wo sein Wagen gestanden hatte, parkte jetzt eine riesige Limousine.
«Um Ihren Wagen kümmern wir uns, Commander«, teilte Hauptmann Dougherty ihm mit.»Wir fahren mit diesem hier.«
Aus alledem sprach eine gewisse arrogante Rücksichtslosigkeit, die Robert ein vages Gefühl der Beunruhigung einflößte.
«Okay«, sagte er.
Sie fuhren zu seiner Dienststelle im Office of Naval Intelligence. Die blasse Morgensonne verschwand hinter Regenwolken. Der Tag versprach beschissen zu werden. In mehr als nur einer Beziehung, dachte Robert.