DER GROSSE WUCHERER

Die Spinne * Toileftenklubs * Siebzehn-und-vier * Sklaverei in der Schkid * Die Opposition * Häkchen vor den Namen * Sawuschkas Tobsuchlsanfall * Tod dem Brolkönig!


Slajonow war ein kleiner, dicker Bursche mit einem glatten, fettglänzenden Gesicht'und einem genauso fettig wirkenden Lächeln. Er sah wie eine satte, zufriedene Spinne aus.

Niemand interessierte sich dafür, woher es ihn in die Schkid verschlagen hatte. Jedenfalls kroch er wie eine Spinne in die Schule — verstohlen, vorsichtig, von keinem bemerkt.

Er kam während des Mittagessens, setzte sich schnuppernd auf die Bank, musterte seine Nachbarn und verwickelte sie in ein Gespräch. „Bei euch gibt es wohl schlecht zu essen, was?“

„Ja, wir leben nur von Kartoffeln.“

„Na, ich danke. Sonst nichts?“

„Was willst du denn außerdem? Ein Kotelett? Wir können von Glück sagen, daß wir Kartoffeln haben. Durch einen reinen Zufall sind noch welche da. In anderen Schulen sieht es schlechter aus.“ Slajonow versank in nachdenkliches Schweigen. Der Diensthabende brachte feierlich ein Tablett mit Brot herein. Würdevoll mit den Schlüsseln klirrend, folgte ihm Jankel, der Küchenälteste. In den beiden vergangenen Wochen hatte er sich schon ausgezeichnet in sein neues Amt eingearbeitet.

„Wieder bloß ein Achtel!“ murmelte Sawuschka geknickt. Es war ein ewig hungriger, mißmutiger Neuer aus der zweiten Abteilung. Unter Alnikpops vorwurfsvollem Blick verstummte er. Sawuschkas Niedergeschlagenheit übertrug sich auf seine beiden Nachbarn, die genausoviel nörgelten wie er. Kusja und Korenow befanden sich dauernd auf Nahrungssuche, und dieses gemeinsame Interesse hatte sie so eng zusammengeführt, daß sie Blutsbrüderschaft schlossen. Wortlos beobachtete Slajonow das jammernde Dreigespann. Für einen Neuen schickte es sich nicht, in die intimen Unterhaltungen der Schkider einzugreifen.

Jankel ging um die beiden Tische herum und warf jedem dabei verächtlich seine Portion hin. Er wunderte sich insgeheim, daß die Jungen so nach dem Brot gierten. Ihn ließ trocken Brot vollständig kalt — wahrscheinlich, weil in seiner Küchenschublade ein ansehnliches, zwei Pfund schweres Stück lag, das beim Abwiegen übriggeblieben war. „Jankel, gib mir einen Kanten!“ flehte Kusja kläglich. „Geh zum Teufel!“ schnauzte Jankel. Die Brotkanten waren für die Oberklasse reserviert. Das Brot verschwand im Handumdrehen. Nur Slajonow aß seine Portion nicht. Gleichgültig schob er sie beiseite und löffelte lässig seine Suppe.

„Ißt du dein Brot vielleicht nicht?“ forschte Kusja mit sehnsuchtsvollen Blicken auf das verlockende „Achtel“. „Keinen Appetit“, antwortete Slajonow mit derselben Gleichgültigkeit wie zuvor.

„Gib es mir! Ich esse es“, bot sich Kusja eifrig an. Doch Slajonow hatte sich das Brot schon in die Tasche gesteckt. „Ich krieg es schon im Unterricht auf.“ Kusja schwieg beleidigt. Nachdem die als Suppe titulierte Flüssigkeit hinuntergeschlungen war, wurde der zweite Gang aufgetragen — Bratkartoffeln. Ein widerlich süßlicher Geruch zog durch den Eßraum. Die Schkider schnupperten bedrückt. „Wieder mit Seehundstran!“

„Hört das immer noch nicht auf? Da bleiben einem die Kartoffeln im Halse stecken!“

Doch nur die erste Kartoffel schluckte sich mühsam. Dann gewöhnte man sich an den Seehundsgeschmack und konnte die übrigen ohne Ekel in sich hineinschlingen — Hauptsache, der Bauch wurde ordentlich voll.

Der Seehundstran war Vikniksors ganzer Stolz.

„Stellt euch nicht so an, Jungens!“ schalt er, wenn sie dagegen rebellierten. „Freut euch, daß ihr wenigstens Seehundstran bekommt — in anderen Heimen gibt es nicht einmal den. Und ganz ohne Fett kann der Mensch nicht leben.“

„Und damit haben wir unser Fett gekriegt!“ witzelte Japs. Angeekelt starrte er auf die Kartoffelschüssel. Bei dem Geruch drehte sich ihm der Magen um.

Die Kartoffeln sahen wirklich verlockend aus, aber der widerwärtige Beigeschmack verdarb einem jeden Appetit. Japs kämpfte einen Augenblick mit sich, doch der Abscheu war stärker als sein Hunger. Er spießte eine Kartoffel auf die Gabel und schleuderte sie erbost über den Tisch. Die gelbe Scheibe hinterließ eine Fettspur, als sie über das Wachstuch rutschte und Brotkanten, der vollständig in sein Essen vertieft war, an die Stirn klatschte.

Durch das schallende Gelächter wurde Alnikpop aufmerksam. Er wandte sich um, spähte nach dem Missetäter aus, sah, daß sich Brotkanten die Stirn wischte, und blickte zu Japs hinüber. „Vor die Tür!“ befahl er kurz.

„Warum denn?“ versuchte Japs zu protestieren, aber Alnikpop hatte bereits Bleistift und Notizbuch hervorgeholt, um ihm einen Tadel einzuschreiben.

„Na, dann schreib doch, wenn du es nicht lassen kannst, Prophet!“ Damit verließ Japs den Raum.

Das Mittagessen war zu Ende, aber Kusja konnte das Brot in Slajonows Tasche noch immer nicht vergessen. Er wich ihm nicht von der Seite.

Als die Jungen in die Klassen hinaufgingen, hielt Slajonow plötzlich Kusja zurück.

„Weißt du was?“

„Na?“ Kusja spitzte die Ohren.

„Ich gebe dir jetzt meine Brotportion. Und dafür kriege ich deine vom Abendtee.“ Kusja runzelte die Stirn.


Japs kämpfte einen Augenblick mit sich.


„Du Gauner! Zum Abendtee gibt es ein Viertelbrot, und du willst mir jetzt ein Achtel andrehen.“ Slajonow änderte sofort den Ton.

„Wie du willst. Ich zwinge dich schließlich nicht dazu.“ Er hatte das Brot schon hervorgeholt. Jetzt steckte er es wieder in die Tasche.

Kusja schwankte. Nimm es nicht! Nachher mußt du noch mehr hungern! warnte ihn seine Vernunft. Aber der Hunger war stärker — er siegte.

„Gib es her, zum Teufel!“ schrie er, als er sah, daß Slajonow in den Saal gehen wollte.

„Spinne“ machte sofort kehrt und steckte Kusja das Brot in die ausgestreckte Hand.

„Du bist mir also dein Abendbrot schuldig“, sagte er gelassen. Kusja wollte ihm das unheilvolle Brot zurückgeben, aber seine Zähne hatten sich schon hineingegraben.


Abends betätigte sich Kusja mit knurrendem Magen als Zahnmusiker. Das Brot, das er zum Abendessen bekommen hatte, war in Slajonows Tasche gewandert. Er hatte unbeschreiblichen Hunger, konnte aber nirgendwo etwas Eßbares auftreiben. Er war der schüchternste, gedrückteste Junge aus der zweiten Abteilung — deshalb brachte er es nicht fertig, sich Brot oder sonst etwas zu verschaffen. Andere wären auf den Gedanken gekommen, die Küche nach Essenresten zu durchstöbern, aber Kusja vermochte sich nicht dazu aufzuraffen. Er war die verkörperte Demut und Erniedrigung. Kaum zu glauben, daß er früher Einbrüche und Gewalttaten begangen haben sollte! Aus reiner Demut schien er eine fremde Schuld auf sich genommen zu haben, die er nun in der Schkid büßte.

Neben ihm saß Korenow, sein Blutsbruder, am Tisch und schmatzte, daß es Kusja übel wurde. Korenow schien überhaupt nicht zu merken, daß sein Freund kein Brot hatte. „Gib mir einen Happen, ja?“ bettelte Kusja zaghaft.

„Wo hast du denn dein Brot?“ fuhr Korenow ihn an.

„Ich war es dem Neuen schuldig.“

„Wieso?“

„Na, gib mir doch ein Stück!“

„Nein, tu ich nicht.“ Korenow schmatzte weiter.

Der gequälte Kusja faßte einen Entschluß. Er wandte sich quer über den Tisch an Slajonow.

„Leih mir eines bis morgen. Bis zum Morgentee.“

Slajonow blickte gleichgültig auf, holte dann Kusjas Viertelbrot aus der Tasche, brach es mitten durch — der ganze Tisch war Zeuge — und warf Kusja die eine Hälfte hin. Die andere Hälfte steckte er sorgfältig wieder in die Tasche.

„He, warte! Gib mir das Brot!“ rief Sawuschka dazwischen. Er hatte seine Portion schon lange verdrückt und war noch immer nicht satt.

„Gib es mir. Du kriegst es morgen wieder“, wiederholte er. „Dafür bekomme ich aber deine ganze Morgenportion“, warnte ihn Slajonow kaltblütig, während er ihm die andere Hälfte von Kusjas Brot reichte.

„Klar, mach' ich. Keine Sorge.“


Am nächsten Tage hatte Slajonow nach dem Morgentee zwei Viertelbrote übrig. Eines lieh er den Hungermäulern Sawuschka und Kusja, das zweite verkaufte er an einen Jungen aus der ersten Abteilung. Das gleiche passierte beim Mittag-und beim Abendessen.

Slajonows Einkommen wuchs. Zwei Tage später leistete er sich bereits einen Luxus — er kaufte sich für ein Achtelbrot ein Notizheft, um seine Schuldner einzuschreiben. Ihre Zahl vergrößerte sich mit unwahrscheinlicher Geschwindigkeit. Schon am nächsten Tage verdoppelte er seine Lebensmittelration, und nach einer Woche hatte er in seiner Bank einen Brotvorrat angelegt. Er war plötzlich aus einem kleinen, unauffälligen Neuling zu einer gewichtigen Autorität geworden.

Er begann, seine Mitschüler überheblich anzufauchen. Sie schwiegen dazu und schnallten den Riemen enger.

Es blieb ihnen nichts anderes übrig — die ganze erste und die halbe zweite Abteilung waren bereits an ihn verschuldet. Slajonow lief niemals mehr allein herum. Er war dauernd umschwänzelt von einem ergebenen Schuldnergefolge, dem er ab und zu gnädig ein Stückchen Brot spendierte.

Doch er ging sparsam mit seiner Gnade um. Er hatte nicht die Absicht, die Kameraden zu mästen, hielt aber die Almosen für notwendig, um ihre Wut einzudämmen.

Mit jedem Tage verstrickten sich Slajonows Opfer immer tiefer in ihre Schulden. Im gleichen Maße wuchs die Macht des „großen“ Wucherers, wie ihn die älteren nannten.

Doch sein Einfluß reichte nicht über die zweite Abteilung hinaus. Die mächtigsten und standfestesten Abteilungen — die dritte und die vierte-sahen ihn verächtlich über die Schulter an. Sie hielten es für unter ihrer Würde, sich um ihn zu kümmern. Slajonow erkannte die Gefahr dieser Situation genau. Jeden Augenblick konnten die beiden Klassen — oder auch nur eine von ihnen — sein florierendes Geschäft ruinieren. Das paßte ihm gar nicht. Er ersann deshalb einen Plan, der so gerissen war, daß selbst die Schlauköpfe aus der vierten Abteilung nicht dahinterkamen und ihm auf den Leim gingen.

Eines Tages erschien er in der vierten Abteilung und spazierte scheinbar gelangweilt im Zimmer umher.

Die „Großen“ reagierten auf derartige Frechheiten recht empfindlich. Ein Junge aus der ersten Abteilung wagte es, entgegen dem alteingeführten Brauch, sich ohne besonderen Grund in ihrer Klasse herumzutreiben? Er war für sie durchaus noch keine Autorität. Sie warfen ihm böse Blicke zu.

„Was willst du hier?“ fauchte Zigeuner. Slajonow duckte sich erschrocken. „Gar nichts, Zigeuner! Ich bin bloß mal hergekommen.“

„Ach? Und wer hat dir das erlaubt?“

„Niemand.“

„So, niemand! Dann verdufte, da ist die Tür! Und laß dich hier ohne Grund nicht wieder blicken.“

„Ja, aber…“, stotterte Slajonow, „ich… dachte nur… ich… wollte…“

„Was dachtest du?“

„Ich dachte, daß ihr Hunger hättet. Willst du ein Stück Brot, Zigeuner, ja? Ich weiß sowieso nicht, wohin damit.“ Zigeuner starrte Slajonow ungläubig an. „Na, dann zeig mal her.“

Bei dem Wort „Brot“ sahen die anderen auf und spitzten die Ohren. Slajonow zog seelenruhig ein Viertelbrot aus der Tasche und drückte es Zigeuner in die Hand. Japs ging zu Slajonow hin. „Hast du noch mehr?“

Spinne holte mit harmlosem Gesicht ein weiteres Viertel aus derTasche. „Nimm es nur. Ich geh' es gern.“

„Gib mir auch was!“ Spatz lief herbei. Auch Mamachen und Brotkanten waren aufgesprungen. Slajonow gab jedem ein Stück.

Als jedoch Elster und Goga hinzutraten, runzelte er die Stirn. „Das Brot ist alle!“ sagte er verächtlich. Er wußte genau, daß Elster und Goga keinen Einfluß hatten, und hielt es deswegen für überflüssig, sie zu spicken.

Die Jungen behandelten Slajonow nun schon mit herablassender Freundlichkeit.

„Jetzt verschwinde, aber du kannst häufiger kommen“, grinste Zigeuner. Und weil er auf den Geschmack gekommen war, fügte er hinzu: „Wenn wir ein bißchen Süßstoff hätten, könnten wir jetzt Tee trinken.“

„Ich hab' welchen!“ Slajonow war entschlossen, die Großen restlos für sich zu gewinnen. „Wer will was?“

„Das ist ein Ding!“ staunte Japs. „Wir könnten also tatsächlich Tee trinken.“

Slajonow traf bereits seine Anordnungen.

„He, Kusja, Korenew! Holt Tee aus der Küche. Leiht euch die Becher bei Marta. Ihr müßt sagen, daß die Großen darum bitten.“ Kusja und Korenew hatten an der Tür gewartet. Sie rannten spornstreichs in die Küche.

Fünf Minuten später ging es in der vierten Abteilung hoch her. In den Blechbechern dampfte der Tee, auf den Bänken lagen Brot und Süßstoff. Die Jungen schmatzten hingebungsvoll, während Slajonow in der Klasse umherspazierte.

„Laßt es euch schmecken, Leute“, schwatzte er händereibend.

„Für gute Kameraden ist mir nichts zu schade. Euch helfe ich immer. Wenn ihr mal Hunger kriegt, könnt ihr nach mir schicken. Ich habe immer was da. Und geizig bin ich auch nicht.“

„Klar. Nur keine Sorge, wir vergessen dich jetzt nicht!“ Japs nickte ihm zu und stopfte sich den Mund voll. So wurde die vierte Abteilung überrumpelt. Nun konnte sich Slajonow endgültig beruhigen. Zwar war die Versorgung nahezu der ganzen Klasse anfangs ein großes Verlustgeschäft für ihn, aber dafür gewöhnte er die Großen allmählich an sich. Zu jener Zeit stellte das Brot eine Macht dar. Slajonow besaß Brot, deshalb gehorchte man ihm.

Unmerklich brachte er es fertig, die Großen in seine Leibgarde zu verwandeln, sich ein neues mächtiges Gefolge zu verschaffen. Anfangs wurde das den Großen überhaupt nicht bewußt. Sie gewöhnten sich daran, daß Slajonow zu ihnen gehörte. Sie glaubten, Slajonow gehorche ihnen und nicht umgekehrt. Doch eines Tages belauschte Zigeuner ein Gespräch zwischen zwei Jungen aus der ersten Klasse. Es hatte einen so verächtlichen Ton, daß er stutzig wurde. „Weißt du“, verriet er Japs am gleichen Tage, „wie uns die Kleinen nennen? Lakaien! Wir dienen Slajonow, sagen sie.“

„Sie haben recht, die Halunken!“ Japs runzelte niedergeschlagen die Stirn. „So sieht es jetzt aus. Wir sind zu Lakaien geworden, ohne es zu merken. Eine ekelhafte Situation, aber wie wollen wir damit Schluß machen? Das Reptil hat uns an das satte Leben gewöhnt!“ Bald hatten sich die Großen mit ihrer neuen Rolle abgefunden. Jetzt unterdrückten sie bewußt jeden Gedanken an ihre Erniedrigung. Jankel war der einzige, der seine Unabhängigkeit bewahrt hatte. Er stand mit dem Wucherer auf Kriegsfuß. Das Brot gab ihm die Kraft zum Widerstand. Er war Küchenältester und vermochte dem Reichtum Slajonows seinen eigenen entgegenzustellen. Aber insgeheim empfand er so etwas wie Achtung vor der Wucherspinne. Ihm imponierte die Klugheit, mit der sich Slajonow die Schkid unterworfen hatte. Er erkannte, wie geschickt der Bursche war, er beneidete ihn sogar ein wenig, verschwieg das aber sorgfältig. Slajonow rüstete sich inzwischen zum letzten Sturmangriff. Er wollte seine Macht endgültig sichern. Unbesiegt war bisher noch die dritte Abteilung, die er ebenfalls in die Hand bekommen mußte. Sie wie die vierte zu füttern, würde verlustreich und daher unvorteilhaft sein, sie wie die erste in Schulden zu verstricken, würde nicht gelingen. Die Jungen von der dritten waren nicht so dumm, daß sie ein Viertelbrot für ein Achtel hergaben.

Aus diesem Grunde fuhr er ein ganz neues Geschütz gegen die dritte Abteilung auf.

Nach dem Unterricht versammelten sich die Schkider gewöhnlich in ihrem „Klub“, um zu plaudern und zu rauchen.

Sie besaßen zwei „Klubs“-dieToilette im ersten Stock und die im Erdgeschoß. Aber die obere war besser — geräumig, ziemlich hell und einigermaßen sauber.

Die Badewanne, die früher darin gestanden hatte, war inzwischen verschwunden. Nur die Korkwände und die Fußbodenkacheln waren noch da. Hier konnte man die Zeit gemütlich verbringen, solange man wollte, und hier konnte man auch rauchen — meistens, ohne erwischt zu werden. Deshalb herrschte in den Toiletten immer ein munteres Leben und Treiben.

Im Schein des Ecklämpchens wölkte sich der Rauch. Es war verdächtig warm. In ihre angeregten Unterhaltungen vertieft, achteten die Schkider nicht auf den Geruch.

Das Herumstehen in den Toiletten kam dermaßen in Mode, daß die Propheten trotz aller Bemühungen mit diesem Übel nicht fertig wurden. Wenn ein Erzieher die Jungen hinausjagte und sich nur einen Augenblick entfernte, strömten sie wieder hinein, bis alles proppenvoll war.

In der oberen Toilette setzte Slajonow nun zum Angriff auf die unabhängige dritte Abteilung an.

Er trat ein, als gerade Hochbetrieb war, und schwenkte harmlos ein Kartenspiel in der Luft. „Wer will mit mir Siebzehn-und-vier spielen?“ Niemand reagierte.

„Wer spielt mit? Um das Brot vom Abendessen“, wiederholte Slajonow.

„Türke“, ein waghalsiger, magerer Junge aus der dritten Abteilung, nahm die Herausforderung an. „Ich mach' mit. Fang an.“

Eilfertig mischte Slajonow die verschmierten Karten. Die anderen Jungen sammelten sich um die Spieler. Jeder sah Türke erwartungsvoll an. Alle wünschten Slajonow eine Niederlage. Türke nahm die Karten auf, bis er achtzehn Punkte beisammen hatte. Dann hielt er inne.

„Ich hab' genug. Jetzt du“, murmelte er. Slajonow griff nach den Karten. Die erste war ein König, die zweite ein As. „Fünfzehn Punkte!“ flüsterten die Zuschauer aufgeregt.

„Kaufst du weiter?“ erkundigte sich der Türke besorgt. „Natürlich!“

Ein König!

„Neunzehn Punkte. Das reicht.“

Türke hatte verloren.

„Noch ein Spiel um das Frühstücksbrot von morgen!“ schlug Slajonow wieder vor.

„Laß das, Türke!“ griff der dicke Ustinowitsch, der Vernünftigste aus der dritten Abteilung, ein. „Spiel nicht weiter.“ Doch Türke war bereits von der Spielleidenschaft gepackt. „Geh zum Teufel! Ich spiele ja nicht um dein Brot,“ Türke verlor wiederum.

Die nächsten Spiele hatten ein fieberhaftes Tempo. Das Glück wechselte von einem zum ändern.

Türke hatte zuviel Temperament, um jetzt noch aufhören zu können, und so ging das Spiel weiter — nur unterbrochen von den Unterrichtsstunden und dem Abendessen.

Danach spielten sie und spielten. In der dritten Abteilung herrschte wilde Erregung. Immer wieder stürzten Boten in die Klasse und verkündeten den letzten Stand der Dinge. Es hatte bereits zum Schlafengehen geklingelt, aber das Spiel ging weiter. In den Schlafräumen bauten die Kameraden vorsorglich die Decken und Kissen der Spieler so zurecht, daß es aussah, als lägen sie darin.


Alle wünschten Slajonow eine Niederlage.


Am nächsten Morgen wurde bekannt, daß Türke Kopf und Kragen verspielt halte: In der einen Nacht hatte er seine Brotportionen für zwei Wochen an Slajonow verloren!

Kurz danach passierte Ustinowitsch dasselbe. Und nun brach eine zügellose Spielsucht aus. Wie eine ansteckende Krankheit verbreitete sich die Spielleidenschaft in der Schule, und zwar hauptsächlich in der dritten Abteilung. Zuweilen konnten sich kleine „Könige des Spiels“ einen Tag oder zwei Tage gegen Slajonow halten, aber zuletzt überwältigte er sie immer. Ob er bloß Glück im Spiel hatte, oder ob er mogelte? Jedenfalls gewann er dauernd. Es dauerte nicht lange, und er hatte die dritte Abteilung fast ausnahmslos in der Hand.

Jetzt bezahlten ihm Dreiviertel der Schüler Brotschulden. Slajonows Einfluß wuchs unaufhaltsam. Er wurde der mächtigste Mann der Schkid. Dauernd war er von einer Eskorte der Großen begleitet, und sein breites Gesicht strahlte vor Wohlbehagen. Für die Schkid war es eine denkwürdige Zeit. Täglich veranstaltete Slajonow Feste in der vierten Abteilung, bei denen er seine Leibgarde abfütterte.

Der Bausch seiner hemmungslosen Baffgier vergrößerte nur noch seine Macht. Die Schkider stöhnten vor Hunger, aber die von Freßgier besessenen Großen kümmerten sich nicht darum. Jeden Tag lieferte die halbe Schule ihr Brot an die kleine, fette Spinne ab, die dafür Geld, Wurst, Butter und Bonbons eintauschte. Dazu hielt sich Spinne ein Heer von Agenten.

Der Hunger produzierte in der Schkid einen neuen Stand — die Knechte.

Die ersten „Knechte“ waren Kusja und Korenow. Sie hungerten dauernd und waren für ein Stück Brot bereit, alles zu tun, was man ihnen befahl. Und Slajonow konnte befehlen.

Er tat nichts mehr allein. Wenn er Holz sägen sollte, mietete er sich einen Ersatzmann, der für ein Stück Brot seine Arbeit verrichtete. Bei anderen Gelegenheiten machte er es ebenso.

Bald führte die gesamte vierte Abteilung ein reaktionäres Schmarotzerdasein.

Ihre Arbeit wurde von den Kleinen, die Slajonow bezahlte, verrichtet. Wenn Slajonow abends in die vierte Abteilung kam, sprang Japs auf. „Kniet nieder!“ schrie er. „Es erscheint seine Majestät der Brotkönig!“

„Hurra! Hurra! Hurra!“ fielen die anderen ein.

Slajonow verbeugte sich mit einem Lächeln und gab Kusja, der ihn begleitete, ein Zeichen. Eilig holte Kusja die Lebensmittel, die er mitgebracht hatte, aus der Tasche und legte sie auf eine Klassenbank.

„Es lebe der Brotkönig!“ grölte Japs. „Gesegnet sei der Abendfraß! Rückt die Tische zusammen, um den Speisen und Getränken unseres Gebieters die Ehre zu erweisen, die ihnen gebührt!“ Auf den zusammengerückten Klassenbänken häuften sich Bonbons, Kuchen, Kondensmilch, Wurst, Schinken und Süßstoff zu Bergen. Ein ohrenbetäubender Lärm brach los. Der gemeinsame „Abendfraß“ begann.

Mit vollem Mund, dick belegte Butterbrote schwenkend, überschütteten die Großen Slajonow mit Lob. Japs klopfte ihm auf die fette Schulter.

„Du bist unser Gott!“ kreischte Japs. „Unser kleiner Gott! Unser goldenes, rosiges, rundliches Kalb!“ Er ließ sich auf ein Knie nieder, hielt Slajonow unter allgemeinem hysterischem Gelächter einen Wurstzipfel hin und flehte: „Gebieter! Segne unser Mahl!“ Slajonow zwinkerte mit den unsteten listigen Augen, grinste und bekreuzigte die Wurst flüchtig.

„Teufel!“ quietschte Zigeuner begeistert. „Singt ihm ein Ruhmeslied!“

„Eine Sänfte für den König! Tragt den König auf Händen!“ Die Kleinen, die auch dabei waren, nahmen Slajonow auf die Arme und schleppten ihn durch die Klasse; die Großen schwenkten Schrubber als Palmwedel über dem Kopf des Wucherers, gingen hinterdrein und brüllten aus voller Kehle:

Slajonow, unser König,

sei uns allen gnädig!

Du bist unser goldnes Kalb,

mit Ruhm und Ehr' bist du gesalbt!

Die Zeremonie schloß mit der feierlichen Krönung durch einen Kranz, den man in aller Eile aus Papierstreifen zusammengedreht hatte. Nachdem der letzte Kuchenkrümel verzehrt war, hielt Japs eine Dankesrede.

Bei einem der regelmäßigen Abendgelage war Slajonow besonders außer Rand und Band.

Sie aßen, sie schrien, sie sangen Lobeshymnen. An der Tür drängte sich ein Häuflein hungernder Schuldner. Slajonow war wie trunken von den Lobpreisungen. „Ich kann alle ernähren!“ schrie er. „Ich habe genug.“ Sein Blick fiel auf Kusja, der niedergeschlagen in der Ecke stand, und er hatte einen Einfall. „Kusja!“ brüllte er. „Komm mal her, Kusja!“ Kusja trat hinzu. „Knie nieder!“

Kusja schrak zusammen. Verwirrt stand er da. Etwas wie Stolz wehrte sich in ihm. Aber Slajonow ließ nicht locker. „Auf die Knie! Hörst du? Ich gebe dir auch ein Stück Kuchen.“ Und Kusja sank in die Knie — so ruckartig, als würde er durchgebrochen. Tief senkte er den Kopf, damit die Kameraden nicht seine Augen sahen. Slajonow verzog den Mund zu einem befriedigten Lächeln.

„Da, Kusja, friß! Ich geb's gerne!“ sagte er und schmiß dem knienden Jungen ein Stück Kuchen hin. Plötzlich kam ihm eine glänzende neue Idee.

„He, Leute, hört mal her!“ Er sprang auf die Bank. Als es still geworden war, fuhr er fort: „Kusja wird mein Sklave sein. Verstanden, Kusja? Du bist mein Sklave. Und ich bin dein Herr. Du wirst für mich arbeiten, und ich werde dich füttern. Steh auf, Sklave, und nimm eine Wurst!“ Kusja war totenblaß geworden. Er erhob sich folgsam, nahm das Almosen und ging in die Ecke. Einen Augenblick lang herrschte peinliche Stille in der Klasse. Japs ekelte das erniedrigende Schauspiel an. Das gleiche empfanden auch Zigeuner und Spatz. „Du bist doch ein Schwein, Slajonow!“ Mamachen gab seiner Empörung offenen Ausdruck.

Slajonow stutzte. Er spürte, daß er zu weit gegangen war. Aber seine Geistesgegenwart verließ ihn nicht. Er begann ein Lied zu grölen, um Mamachens Gebrumm zu übertönen.

Die von Slajonow eingeführte Sklaverei bürgerte sich ein, vor allem unter den Großen aus der vierten Abteilung, die sich auf Kosten des Wucherers ebenfalls Sklaven zulegten. Allen war das Abscheuliche dieses Vorgehens bewußt, doch jeder suchte die eigene Schuld vor seinem Gewissen zu verkleinern und sie auf die anderen abzuwälzen. Die Sklaverei wurde zur gesellschaftlichen Erscheinung. Morgens machten die Sklaven ihren Herren die Betten. Sie schrubbten für sie die Fußböden, sie holten Holz und führten sämtliche anderen Befehle aus. Slajonows Macht überstieg alle Begriffe.

Er war Herr über Leben und Tod — nach dem Direktor der zweite Leiter der Schule, Als er feststellte, daß er mehr Brot besaß, als er ausgeben konnte, bekam er extravagante Launen. Er zwang seine Sklaven, ihm etwas vorzusingen und vorzutanzen.

Diesen Szenen wohnten auch die Großen bei. Beklommenen Herzens rangen sie sich ein Lächeln ab, wenn sie den Faxen der Kleinen zusehen mußten.

Ihnen war speiübel zumute, aber sie hatten sich schon zu tief in die Freundschaft mit Slajonow verstrickt. Und der große Wucherer trieb es immer toller.

Wenn alle schon im Bett lagen, pflegte er häufig sein fettglänzendes Gesicht zu heben.

„He, Kusja! Sklave!“ schrie er dann.

Gehorsam sprang Kusja aus dem Bett und wartete, zitternd vor Kälte, auf weitere Befehle.

„Kusja, kratz mir die Fersen!“ sagte Slajonow dann mit einem stolzen Blick auf seine Nachbarn.

Kusja tat es.

„So nicht… Verdammt! Weiter unten! Nicht so heftig! Sanfter!“ kommandierte Slajonow. Er rekelte sich wie ein sibirischer Kater und kicherte vor Behagen.

Täglich engagierte er sich für Brot Märchenerzähler, die so lange reden mußten, bis er eingeschlafen war.

Slajonows Einkünfte vergrößerten sich mit jedem Tage. Er bekam bereits fast die ganze Brotzuteilung der Schule — anderthalb bis zwei Pud Brot. Die Großen fütterte er weiter.

Sie brachten dem „Brotkönig“, dem „Goldenen Kalb“, dafür geräuschvolle Ovationen.

Slajonow war der erste Neureiche der Schkid, ja vielleicht in ganz Leningrad.

Während er seine Ausschweifungen fortsetzte, wuchs die Unzufriedenheit.

Immer häufiger versammelten sich drei Verschwörer bei Jankel in der Küche.

Hinter verschlossener Tür, bei Tee, Brot und Süßstoff, wurden Slajonows Taten erörtert.

„Slajonow ist ein gemeiner Schuft!“ rief Mamachen empört, und sein einziges Auge funkelte. „Ich möchte ihn auf der Stelle verprügeln, obgleich er stärker ist als ich.“

„D-das hat er v-verdient! W-wahrhaftig!“ stotterte Goga. Aber Jankel mahnte zur Vernunft.

„Wartet noch ab, Leute. Wenn die Zeit reif ist, nehmen wir ihn uns vor.“

Das Terzett zeigte Slajonow die Zähne. Als er Mamachen eines Tages in eine Unterhaltung verwickeln wollte und ihm liebenswürdig Süßstoff anbot, platzte dem gradlinigen, hitzigen Jungen der Kragen, und er überschüttete ihn mit einem Schwall von Schimpfworten. „Du unglückseliger Halunke!“ putzte er Spinne herunter. „Ich vertrimme dich mit dem Feuerhaken! Die ganze Schule beklaust du, du verdammter Wucherer! Laß mich in Frieden, du Mistvieh, sonst schlage ich dir die Fresse zu Brei!“

Es war ein unerwarteter Angriff. Mamachen hatte schon längst nach so einem Vorwand gesucht, während Slajonow gar nicht auf den Gedanken gekommen war, daß er dermaßen standhafte, wütende Gegner hatte.

Der Skandal spielte sich an einem belebten Ort ab. Ringsum standen lauschend einige Sklaven und kicherten beifällig, wenn auch furchtsam. Slajonow war so verdutzt, daß ihm keine Erwiderung einfiel. Schmachbedeckt rannte er in die vierte Abteilung. Dort setzte er sich mit weinerlichem Gesicht in die Ecke.

„Was läßt du die Ohren hängen?“ fragte Zigeuner. Slajonow packte aus.

„Weißt du, Mamachen hat mir Prügel angedroht“, schloß er und tastete mit den Augen seine muskulöse Leibgarde ab. Doch die Großen schwiegen verlegen.

Da merkte Slajonow zum erstenmal, daß er einen großen Fehler gemacht hatte.

Er hatte sich für stark genug gehalten, um Zigeuner und seine übrigen Anhänger zwingen zu können, daß sie ihrem Klassenkameraden die Leviten lasen. Aber er hatte sich geirrt. Er sah, daß niemand Mamachen ein Haar krümmen würde, und das war für ihn ein Strich durch die Rechnung.

Er ahnte, was für Ausmaße dieser kleine Oppositionskern annehmenkönne, und beschloß, ihn im Keim zu ersticken.

Aber Mamachen ließ er dabei zunächst ungeschoren.

Jankel war gerade in den Klassenraum gekommen. In der Hand hielt er ein ansehnliches Stück Brot, das wie gewöhnlich beim Abwiegen übriggeblieben war.

Er wollte anfangen zu futtern, runzelte aber die Stirn, als sein Blick auf Slajonow fiel. Es wurde totenstill.

„Willst du dich hier noch lange herumtreiben?“ knurrte er den Wucherer an. Da sah er, daß Slajonow Karten in der Hand hatte, und verstummte.

Ein Gedanke schoß ihm durch den Kopf: Soll ich versuchen, ihm sein Brot abzugewinnen?

Slajonow hatte richtig kalkuliert — Jankel schlug ihm vor, Siebzehn-und-vier zu spielen.

Das Spiel begann.

Eine Stunde später hatte Jankel nach hartnäckigem Kampf seinen gesamten Brotvorrat verloren. Jetzt spielte er um seine künftigen Einnahmen.

Es war ein erbittertes Duell. Die ganze Klasse spürte, daß es sich nicht um ein bloßes Spiel handelte, sondern um einen Kampf zweier Großmächte.

Doch Jankel hatte an diesem Tag besonderes Pech. In den nächsten beiden Stunden verlor er fünfunddreißig Pfund Brot — die Zuteilung von zwei Monaten. Slajonow schlug ihm vor aufzuhören, doch Jankel bestand auf der Fortsetzung.

Nur mit Mühe gelang es den anderen, seine Spielleidenschaft zu dämpfen und ihn in den Schlafraum zu bringen. Der kleine, stille, fettige Spinnerich hatte noch einmal gesiegt. Am nächsten Morgen erhob sich Jankel mit brummendem Schädel. Voller Verzweiflung dachte er an seinen gestrigen Verlust. In der Küche betrachtete er prüfend sein Heft und beschloß dann, auf alle Fälle Mamachen außer der Reihe zum Küchendienst zu bestimmen. Das tat er auch.

Sie gingen in die Vorratskammer, nahmen die Tagesration Brot in Empfang und kehrten in die Küche zurück. Jankel schob die Waage heran, legte ein Viertelpfundgewicht auf die Waagschale und wollte mit dem Abwiegen beginnen. Da sah er verblüfft, daß Mamachen irgendwelche Manipulationen mit der Waage vornahm — er schob etwas unter die Wiegeschale für das Brot. „Was machst du da?“

„Siehst du das nicht?“ fragte Mamachen ärgerlich zurück. „Ich mach' sie schwerer.“

„Wollen wir etwa die Jungen betrügen? Die werden dir doch aufs Dach kommen.“

„Die Jungen betrügen wir nicht, bloß Slajonow — er kriegt ja alles.“ Jankel überlegte und erhob dann keinen Widerspruch mehr. Abends hatten sie fünf Pfund zusammengespart, die unverzüglich in Slajonows Vorratsschrank wanderten.

Jankel wurde leichter ums Herz. Wenner täglich soviel abgab, war er seiner Schulden bald ledig.

Am nächsten Tage schob er aus eigener Initiative einen dicken Nagel unter die Wiegeschale. Abends hatte er sechs Pfund ergattert. Er war tief befriedigt.

Leise vor sich hin pfeifend, saß er am Tisch und prüfte im Heft an Hand der Häkchen die Menge des ausgegebenen Brotes nach. Die Namen der anwesenden Schüler wurden bekanntlich immer auf der Liste abgehakt.

Ausgerechnet heute fehlten etwa zehn Externe, und Jankel hatte sich schon ausgerechnet, daß er dadurch etwa ein Pfund Verlust einkalkulieren müßte: Er konnte nur den anwesenden Schülern Brot abzwacken.

Plötzlich sprang er erleichtert auf, als hätte er eine komplizierte Rechenaufgabe gelöst.

„Prima Gedanke! Wer kann mir etwas nachweisen, wenn ich vier Namen mehr abhake!“

Es war eine lächerlich einfache Entdeckung mit schwerwiegenden Folgen.

Die erfreuliche Entdeckung setzte Jankel gleich am kommenden Tage in die Tat um.

Es ging alles wie geschmiert, und bald ließ die Opposition den Kopf hängen.

Von Jankels riesengroßer Schuld waren nur noch fünf Pfünd übrig, die er Slajonow am folgenden Tage bezahlen wollte. Doch an diesem Tage brach ein Unglück über ihn herein. Nach dem Mittagessen ging er glänzend gelaunt spazieren, und als er zurückkam, trat ihm in der Küche ein neuer Ältester entgegen. Während seiner Abwesenheit war etwas passiert, das er sich niemals hätte träumen lassen.

Vikniksor hatte eine Versammlung einberufen, darauf hingewiesen, daß Tschornych bereits anderthalb Monate als Küchenältester arbeitete, und vorgeschlagen, ihn abzulösen. Dabei hatte der Direktor jedoch festgestellt, daß Jankel sein Amt vorbildlich und korrekt verwaltet habe.

Unter Slajonows Druck war Sawuschka — sein Dauerschuldner — zum Küchenältesten gewählt worden.

Der Schlag saß — Vikniksor hatte Slajonow unbewußt im Kampf gegen seine Gegner beigestanden.

Jankels sorgloses Leben wandelte sich in bittere Not. Ihm, der niemals gehungert hatte, fiel es schwer, mit knurrendem Magen herumzulaufen, aber er mußte seine Schulden bezahlen. Slajonow fühlte sich nun vollständig sicher. Er glaubte nicht, daß seine Macht noch irgendwie bedroht sei.

So schwelgte er mit den Großen, ohne zu bemerken, daß die hungrigen, erschöpften Schkider immer bedrohlicher hinter seinem Rücken murrten.

Er wurde von Tag zu Tag frecher. Er regierte über die Küche, kontrollierte Sawuschka und zwang ihn, auf jede Vorsichtsmaßnahme zu verzichten und die Namen der Abwesenden abzuhaken.

Täglich wurden zehn Pfund schwere Brote außerhalb der Schkid im Laden einer Estin verkauft. Slajonow begab sich abends ins Kino. Er hatte ja Geld genug.

Aber der Mißbrauch der Häkchen kam dennoch heraus. Eines Tages entdeckte Vikniksor beim Namensaufruf die Fälschung. Sein Gesicht verfinsterte sich, und er rief den Erzieher. „Alexander Nikolajewitsch, war Sorokin heute hier?“

„Nein, Viktor Nikolajewitsch“, erwiderte Alnikpop prompt. „Merkwürdig. Wieso ist er dann abgehakt?“ Vikniksor vertiefte sich ins Studium der Häkchen. „War Somorow da?“

„Auch nicht.“

„Und Danilow?“

„Nein.“

„Andrijanow?“

„Nein.“

„Rufen Sie bitte den Küchenältesten.“ Der erschrockene Sawuschka erschien. Er war bleich. „Sie haben mich holen lassen, Viktor Nikolajewitsch?“

„Ja.“ Vikniksor warf Sawuschka einen strengen Blick zu und wies auf das Heft. „Warum sind die Namen der Abwesenden abgehakt?“ fragte er mit unheilverkündender Stimme. Sawuschka wurde verlegen. „Das weiß ich nicht, Viktor Nikolajewitsch.“

„Wer hat für sie das Brot in Empfang genommen?“

„Ich… ich hab' es niemandem gegeben.“

Sein Gesicht verriet ihn. Er wurde abwechselnd blaß und rot, seine Augen irrten durch den Raum.

„Ich weiß nicht, ich hab' nichts ausgegeben, ich weiß nicht…“, stammelte er fassungslos und gehetzt. „Sawin wird abgesetzt!“ Vikniksors Stimme hatte einen metallischen Klang. „Er kommt in den Karzer. Alexander Nikolajewitsch, bringen Sie ihn bitte hin.“

Wortlos holte Alnikpop den Schlüssel aus der Tasche, gab Sawuschka einen leichten Stoß und führte ihn nach oben. Im Eßraum war es totenstill geworden.

Alle wußten, daß Sawuschka für nichts und wieder nichts in der Tinte saß. Die Schuld trug ausschließlich Slajonow. Ihnen tat der stille, fügsame Sawuschka leid.

Vikniksor ging empört im Zimmer auf und ab.

„Unerhört ist das!“ sagte er. „Ein gemeines, niederträchtiges Verbrechen! Die eigenen Kameraden zu bestehlen! Ihnen das letzte Stück Brot abzugaunern! Eine Schurkerei!“ Unmenschliches Gebrüll unterbrach seine Rede. Es kam von der Treppe. Vikniksor rannte hin. Im Treppenhaus tobte eine wilde Keilerei. Der sonst so fügsame Sawuschka rebellierte. „Ich geh' nicht in den Karzer! Verdammte Propheten! Pack dich, Alnikpop, sonst kriegst du was in die Fresse!“

Alnikpop machte heroische Versuche, Sawuschka zu überwältigen. Er packte ihn bei den Hüften, um ihn zum Karzer zu zerren, aber Sawuschka stemmte sich dagegen.

Außer sich vor Wut schlug er dem Erzieher mit den Fäusten ins Gesicht. Alnikpop ließ ihn los und wich zurück. Mit gellendem Geschrei raste Sawuschka die Treppe hinunter. In diesem Augenblick erschien Vikniksor unten in der Tür, sprang aber zurück, als er den Jungen wie einen Orkan herbeibrausen sah. Es war die höchste Zeit gewesen. Sa-wuschkas Faust fuhr dicht an seiner Nase vorbei. „Vikniksor! Ich bring dich um, du Schwein! Ein Messer her!“

„Sawin, in den Karzer!“ donnerte der Direktor; doch das brachte den Jungen nur noch mehr außer sich. „Ich in den Karzer?“ kreischte er und raste in die Küche.

Mit dem Feuerhaken in der Hand kam er wieder zum Vorschein. „Wo ist Vikniksor? Wo ist Vikniksor?“ Er sah furchteinflößend aus. Vikniksor wurde höchst unbehaglich zumute, als der Junge, wütend den Feuerhaken schwingend, auf ihn zustürzte.

Der Direktor raffte seine letzte Würde zusammen, während er sich hastig in seine Wohnung zurückzog. Aber im letzten Augenblick blieb ihm nichts anderes übrig, als einen großen Satz hinter die rettende Tür zu machen und sie schleunigst zuzuknallen. Der Feuerhaken krachte an die hohe weiße Tür. Rasend vor Wut, weil der Überfall mißlungen war, wollte sich Sawuschka auf Alnikpop stürzen, doch allmählich kam er wieder zu sich. Er warf den Feuerhaken weg und lief davon. Eine Viertelstunde später fand ihn Alnikpop mit Hilfe des Pförtners im Klassenzimmer. Er hockte in der Ecke auf dem Fußboden und weinte leise vor sich hin.

Demütig, erschöpft, geschlagen ließ er sich in den Karzer führen. Die Lehrer wußten nicht, was in ihn gefahren war. Sie standen vor einem Rätsel. Es waren doch schon viele in den Karzer gesteckt worden, aber kein einziger hatte solche Wutanfälle bekommen wie Sawuschka. Doch die Schkider kannten die Wahrheit. Sie wußten genau, wer die Schuld an Sawuschkas Verbrechen trug, und Slajonow spürte, daß ihn immer häufiger wütende Blicke trafen.

Er bekam es mit der Angst zu tun. Jetzt würde er sicherlich nicht ungeschoren davonkommen.

Deshalb beschloß er, seine Leibgarde noch einmal zu korrumpieren. Am gleichen Abend veranstaltete er ein prunkvolles Fest: Er stellte eine Cremetorte, ein Dutzend Limonadeflaschen und eine ganze Leberwurst auf den Tisch. Doch die Stimmung blieb kalt und unfreundlich. Die Großen machten finstere Gesichter.

Im oberen Stockwerk wallfahrteten die hungernden Schkider zum Karzer und trösteten Sawuschka durch die Türritze.

„Sitzt du drin, Sawuschka?“

„Ja.“

„Macht nichts. Einmal kommst du auch wieder raus. Slajonow, das Mistvieh, ist an allem schuld.“

Wie ein kleines Raubtier trottete Sawuschka in dem kleinen quadratischen Zimmer umher.

„Ich hau Slajonow in die Fresse, wenn ich rauskomme!“ drohte er. In der oberen Toilette hatten sich die Schkider versammelt, um die letzten Ereignisse zu besprechen. Sie machten finstere Gesichter. Türke hielt sein Viertelbrot in der Hand und betrachtete es gedankenversunken. Es war seine Morgenportion, die er Slajonow schuldete, aber in erster Linie hungerte ihn, und außerdem kochte er vor Wut. Er zögerte noch eine Weile unschlüssig. Dann gruben sich seine Zähne erbittert hinein.

„Was machst du da?“ fragte Ustinowitsch erstaunt. „Und deine Schulden?“

„Bezahl ich nicht“, war die brummige Antwort. „Wieso nicht? Und die Großen?“

Ja, die Großen konnten ihn dazu zwingen. Das ernüchterte Türke augenblicklich. Nicht von Slajonow drohte ihm Gefahr, sondern von dessen Leibgarde. Nachdenklich hielt er das angebissene Brot in der Hand.

„Ach, hol's der Teufel!“ sagte da Jankel. „Ich esse mein Viertelbrot auch. Slajonow soll seine Schulden eintreiben, bei wem er will!“ Es wurde totenstill.

Slajonow stand in der Tür. Er war erhitzt. Sein sowieso schon gerötetes Gesicht brannte knallrot. Er war mitten aus dem Festgelage weggelaufen — an seinem cremeverschmierten Mund klebten noch Tortenkrümel.

Er witterte Unheil und erschrak insgeheim, zwang sich jedoch zur Ruhe.

Von vielen Blicken durchbohrt, ging er zu Türke hin.

„Bezahl deine Schulden, Türke. Von heute morgen“, sagte er ruhig. Türke antwortete nicht. Auch die übrigen schwiegen. „Los, bezahl deine Schulden!“ beharrte Slajonow. „Hol dir die Schulden, von wem du willst. Ich hab' kein Brot“, versetzte Türke entschlossen.

„Wieso nicht? Und deine Morgenportion?“

„Die hab' ich gegessen.“

„Und deine Schulden?“ „Willst du das dafür?“ Türke machte eine unanständige Geste. „Ich zahl' dir keine Schulden mehr — basta!“

„Wieso nicht?“ fragte Slajonow verdutzt. „Ich mach's nicht, und damit basta.“

„Aha.“

Stille. Alle beobachteten Slajonow. Es war ein kritischer Moment, aber Slajonow zwinkerte nur ratlos mit den Augen. „Ein neues Manifest in Sicht! Der Schkider zahlt die Schulden nicht!“ deklamierte Jankel in der drückenden Stille. Seine letzten Worte wurden von schallendem Gelächter übertönt. „Aha! So bezahlt ihr also eure Schulden! Nun gut!“ Damit huschte Slajonow aus der Toilette. Die Jungen ließen wieder den Kopf hängen. „Er ist zu den Großen gerannt, um Zigeuner zu holen.“ Jedem war bewußt, daß jetzt alles von Zigeuner abhing. Er war eine Macht, und wenn er für Slajonow eintrat, würde Türke morgen wieder gehorsam seinen Tribut an den großen Wucherer entrichten, und mit ihm auch die übrigen. „Vielleicht kommt er nicht“, gab Ustinowitsch inmitten der allgemeinen Niedergeschlagenheit seinen Hoffnungen Ausdruck. Alle wußten, daß er mit „er“ den Zigeuner meinte, und hofften insgeheim, Zigeuner würde sich von Slajonow nicht herbringen lassen.

Doch er kam — zusammen mit Slajonow.

Stolz erhobenen Hauptes sah Slajonow die Jungen an und wies dann zornig mit dem Finger auf Türke.

„Der weigert sich, die Schulden zu bezahlen, Zigeuner!“ Die Jungen hielten den Atem an. Ihre Augen bohrten sich in Zigeuners finsteres Gesicht. Jetzt mußte die Entscheidung fallen. Ja oder nein? Für oder wider?

„Ich bin zu ihm gegangen“, jammerte Slajonow, „und hab' ihm gesagt, daß er seine Schulden bezahlen soll, aber er lacht bloß, der Bandit, und verhöhnt mich.“

Zigeuner antwortete nicht. Sein Gesicht verfinsterte sich, und die feinen Nasenflügel bebten. Plötzlich wandte er sich zu Slajonow um und brach in einen Schwall von Schimpfworten aus.

„Was fällt dir ein? Willst du mich zu deinem Totschläger oder deinem Prügelknaben machen? Ich bin überhaupt nicht verpflichtet, hinzugehen und deine widerliche Fresse zu schützen! Laß mich in Frieden, sonst kriegst du die Keile! Du schmieriger Jammerlappen!“ Die Tür knallte hinter ihm zu, und Slajonow blieb allein inmitten seiner Feinde zurück — hilflos und kläglich.

Die Jungen schwiegen böse. Slajonow erkannte die Gefahr und raste zur Tür, doch Jankel vertrat ihm den Weg und stieß ihn zurück. „Reingefallen, mein Junge!“ kreischte Türke, und eine wuchtige Ohrfeige klatschte auf Slajonows fette Wange. Slajonow ächzte. Ein Schlag auf den Hinterkopf ließ ihn in die Knie gehen.

Einer boxte ihn mit aller Kraft auf die Nase, noch einmal und noch einmal…

Hilflos versuchte sich der fette Wucherer mit den Händen zu schützen, doch der nächste Schlag streckte ihn zu Boden.

„Au! Jungens! Warum haut ihr mich?“ jaulte er, aber die Hiebe prasselten weiter.

Sie verprügelten ihn lange, mit einer Erbitterung, in der sich ihr ganzes Hungerdasein Luft machte. Endlich kamen sie zur Besinnung. „Schluß. Zum Teufel mit der Drecksau!“ keuchte Türke. „Schluß! Laßt ihn. Kommt.“

Jämmerlich zerschunden hockte Slajonow neben dem Abort in der Ecke und wischte sich schluchzend mit dem Ärmel das Blut ab, das ihm aus der Nase lief. Die Jungen gingen hinaus. Mit Windeseile verbreitete sich die Nachricht von dem Fall in der ganzen Schkid.

Die Großen hielten in der unteren Toilette eine Versammlung ab, in der sie die Resolution faßten, alle Schulden für liquidiert, die Sklaverei für aufgehoben zu erklären und in Zukunft derartige Dinge zu verhindern.

Die Schkid, die sechs Wochen lang gehungert hatte, atmete befreit und glücklich auf.

Die Sklaven von gestern waren wie erlöst, aber auch die Großen fühlten sich erleichtert.

Der Druck, der auf allen gelastet hatte, war verschwunden. Sie erkannten, daß sie großenteils die Schuld daran getragen hatten, und freuten sich nun um so mehr, daß das Unrecht durch ihre Mitwirkung wiedergutgemacht war.

Slajonows Sturz hatte sich schnell und überraschend vollzogen, als eine Katastrophe, die er niemals erwartet hatte. Mit einem Schlage hörten seine sämtlichen Einkünfte auf, mit einem Schlage wurde er ein hilfloses Häufchen Unglück. Und was das schlimmste war — er hatte keinen einzigen Freund. Alle gingen ihm aus dem Wege. Selbst Kusja, der noch gestern vor ihm auf den Knien gelegen hatte, sah ihn jetzt bloß verächtlich über die Schulter an.

Zwei Tage später wurde Sawuschka aus dem Karzer entlassen und von jeder Schuld freigesprochen.

Die Schkider waren wie ein Mann für ihn eingetreten, und die Großen hatten Vikniksor von den Untaten des großen Wucherers berichtet.

Als Sawuschka frei war, verprügelte er Slajonow noch einmal, und am nächsten Tage wurde der einstmals allmächtige Wucherer selbst in den Karzer gesteckt. Doch zu ihm kam niemand, um ihn in seiner Haft zu trösten.

Ein paar Tage danach war Slajonow verschwunden. Die Tür zum Karzer stand offen, das Schloß war erbrochen und Slajonow aus der Schkid entflohen.

Einige behaupteten, er sei nach Sewastopol gefahren, andere meinten, er wohne in Ligowka bei seinen alten Kumpanen, den Taschendieben.

Aber das waren nur Gerüchte.

Slajonow blieb endgültig verschwunden.

So endeten die Untaten des großen Wucherers — eines der schwersten, schmutzigsten Kapitel aus der Geschichte der Republik Schkid.

Noch lange dachten die Schkider an ihn zurück, und wenn sie abends am Ofen saßen, erzählten die „Alteingesessenen“ den „Neuen“ maßlos übertriebene Geschichten von den Taten des großen, legendären Wucherers Slajonow.

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