DIE PROPHETEN

Der Mann mit dem Schlapphut * In der Badeanstalt abhanden gekommen * Oper und Operette * Kampf bis zum Sieg * Sirelchholz und Pessimist * Mut der Verzweiflung.


In der Schkid hießen die Erzieher „Propheten“, Im Laufe der Zeit bekamen die Jungen viele zu sehen. Es waren gute und schlechte, böse und sanfte, kluge und dumme, zuweilen auch bloß unerfahrene, die nur ins Kinderheim gekommen waren, um eine Lebensmittelzuteilung und ein Arbeitsbuch zu erhalten. Vom Hunger getrieben, meldeten sich für den pädagogischen Beruf Menschen, die vorher keine Ahnung von dieser Arbeit gehabt hatten. Und dabei ist die Erziehung verwahrloster Jugendlicher eine schwierige Aufgabe. Außer pädagogischem Talent braucht ein guter Erzieher eiserne Nerven, Selbstbeherrschung und eine überdurchschnittliche Willenskraft. Nur jemand, der seinem Beruf wirklich ergeben war, vermochte im Jahre 1919 diese Eigenschaften aufzubringen. Nur solche Leute setzten sich bei der Arbeit in der Schkid durch. Die anderen — Freßpaketaspiranten oder Schwächlinge — nahmen Reißaus, nachdem sie sich den Betrieb ein bis zwei Tage angesehen hatten; denn sie spürten, daß sie der Horde von ausgelassenen frechen Bengeln nicht gewachsen waren. Im Laufe der Zeit bekamen die Jungen viele zu sehen.

Eines Tages trat ein Mann mit einem weichen, breitkrempigen Hut zur schlechtgestrichenen Tür der Schkid herein. Er war klein und schmächtig, hatte ein Vogelgesicht und ein braunes Bärtchen und machte einen gedrückten, schüchternen Eindruck. Bei dem geringsten Geräusch schrak er zusammen. Dann weiteten sich die wässerigen Äuglein entsetzt, und die Lider senkten sich darüber, als erwarte er einen Schlag. Der Mann war überaus ärmlich gekleidet. Ein schmutziggrauer Stoffmantel, der eigentlich schon längst ausgedient hatte, hing ihm wie ein Sack von den schmalen Schultern. Darunter sahen zerknitterte Baumwollhosen hervor. Sie rutschten bis auf die ausgetretenen Soldatenstiefel. Es war ein neuer, bereits festangestellter Erzieher, der sich jetzt im Hause umsehen und die Kinder, mit denen er zu arbeiten hatte, kennenlernen wollte. Wie ein lautloser Schatten glitt er durch die Zimmer und kam dabei auch in den Schlafraum. Dort brannte der Ofen. Japs, Brotkanten und Jankel saßen davor und wärmten sich.

Der kleine Mann betrachtete die Betten.

„Ist dies ein Schlafraum?“ fragte er, obgleich das offensichtlich war. Die Jungen warfen sich einen erstaunten Blick zu. Dann setzte Jankel ein scheinheiliges Gesicht auf. „Ja, dies ist ein Schlafraum“, sagte er zuckersüß. Der Mann räusperte sich leise. „Soso. Hm… Heizt ihr den Ofen?“

„Ja, wir heizen den Ofen. Mit Holzl“ spottete Japs, aber der Mann achtete nicht auf den Spott. „Hm… schlaft ihr hier?“

„Ja, wir schlafen hier.“

Der Mann spazierte ein Weilchen im Zimmer herum, trat dann zur Wand und tippte auf das Porträt Lenins. „Habt ihr das selbst gezeichnet?“ forschte er weiter. Die Jungen witterten einen Jux. Jankel zwinkerte den anderen zu. „Ja, das haben wir selbst gemalt“, gab er zurück. „Wer denn?“

„Ich.“ Jankel ging mit tiefernstem Gesicht zu dem Erzieher hin und baute sich in Erwartung weiterer Fragen vor ihm auf. Der kleine Mann sah sich noch einmal im Zimmer um. Sein Blick blieb auf den Betten hängen. „Sind das eure Betten?“„Ja, das sind unsre Betten.“

„Schlaft ihr darin?“

„Ja, wir schlafen darin.“

„Sie sind übrigens aus Holz“, fügte Jankel harmlos hinzu.

„Wer?“ Der Erzieher hatte nicht verstanden. „Unsere Betten.“


Der Mann räusperte sich leise.


„Ach, sie sind aus Holz! Soso“, murmelte der Mann. Er wußte nicht, was er sonst sagen sollte, aber Jankel war bereits in Fahrt. „Ja, sie sind aus Holz“, fuhr er ebenso harmlos fort. „Obendrauf liegen Decken. Die Betten stehen auf dem Fußboden. Und der Fußboden ist ebenfalls aus Holz.“

„Ja, der Fußboden ist aus Holz“, bestätigte der Prophet mechanisch. Japs kicherte. Das war ein Heidenspaß. „Aufgepaßt!“ sagte er in Vikniksors übermäßig gedehnter Sprechweise voll ernster Würde zu dem Erzieher. „Das hier ist ein Ofen.“ Der Prophet wurde allmählich nervös, aber der Spaß nahm seinen Fortgang.

„Der Ofen ist aus Kacheln. Hier steckt man das Holz rein.“ Endlich begriff das Männlein, daß es auf den Arm genommen wurde, und hastete aus dem Zimmer.

Bald wußten sämtliche Schkider, daß ein Mann durch das Haus ging, der nach allem und jedem fragte.

Eine Schar von Neugierigen heftete sich an seine Fersen, während die Frechsten vorneweg gingen und unter allgemeinem Gelächter verkündeten:

„Dies ist eine Tür!“

„Und das ist eine Klasse.“

„Hier stehen Bänke. Sie sind aus Holz.“

„Und das sind Wände. Rennen Sie nicht dagegen.“ Nach einer halben Stunde flüchtete sich der Neue, zu Tode erschöpft, in die Kanzlei. Vor der Tür johlten die Jungen, die das Opfer des Wissensdurstes verhöhnten.

Das Männlein war von dem Empfang dermaßen verschreckt, daß es die Schkid niemals wieder betrat. Der Mann mit der Melone hatte begriffen, daß er hier nicht am richtigen Platz war, und sich genauso leise entfernt, wie er gekommen war. Mit anderen Propheten ging es nicht so glimpflich ab. Eines Tages stellte Vikniksor den Jungen einen neuen Erzieher vor. Er machte einen ausgezeichneten Eindruck. Selbst die Schkider, die nicht so leicht hinters Licht zu führen waren, hielten den Neuen für kraftvoll und sympathisch.

Er war jung, gut gebaut und verfügte über eine klangvolle Stimme. Schwarze, widerspenstige Locken krönten den stolz erhobenen Kopf, und die Augen hatten löwenhaftes Feuer. Gleich am Tage seines Dienstantritts mußte er eine Probe seiner pädagogischen Fähigkeiten ablegen. Er sollte die Jungen in die Badeanstalt führen.

Aber der junge Mann verzagte nicht.

Schon in der vierten Pause dröhnte seine Stimme gebieterisch durch die Klassen:

„Zöglinge! Zum Wäscheempfang antreten! Ihr geht heute in die Badeanstalt.“

Die Schkider waren schwer in Bewegung zu bringen. Einen Besuch der Badeanstalt schätzten sie sowieso nicht. Sofort stöhnte ein Dutzend von wehleidigen Stimmen:

„Ich kann nicht in die Badeanstalt. Ich hab' Kopfschmerzen.“ „Mein Kreuz tut mir weh.“

„Ich hab' Reißen im Arm.“

„Lassen Sie die Kranken doch in Frieden. Wir gehen nicht!“ Aber das zog nicht. Die Stimme des Neuen donnerte so eindringlich, daß sogar der vorübergehende Vikniksor beeindruckt dachte: Das wird ein guter Erzieher! Die Schkider fügten sich. Brummend zogen sie in die Kleiderkammer, holten sich frische Wäsche, stellten sich dann still und brav im Saal auf und warteten auf den Erzieher.

Dieser nahm inzwischen in der Vorratskammer seine monatliche Lebensmittelzuteilung als Vorschuß in Empfang. Vikniksor stand wartend bei den Jungen. Er wollte den energischen Neuen noch einmal bewundern. Endlich kam der Erzieher, den Sack mit den Lebensmitteln auf dem Rücken. „Angetreten!“ kommandierte er mit schallender Stimme. Dann trat er etwas verlegen zu Vikniksor. „Viktor Nikolajewitsch“, sagte er halblaut. „Sehen Sie, ich wußte nicht, daß die Schüler heute in die Badeanstalt gehen, und deshalb habe ich keine frische Wäsche bei mir.“

„Na, und?“

„Ja, sehen Sie, und deshalb wollte ich fragen, ob ich vielleicht für einen Tag Anstaltswäsche bekommen könnte. Ich bringe sie selbstverständlich sofort zurück, nachdem ich sie gewechselt habe.“ Das wurde sonst nicht gestattet, aber der Erzieher war so sympathisch, er gefiel Vikniksor so gut, daß er nachgab.

Die Wäsche wurde sogleich herbeigeschafft, und die Schar setzte sich in Marsch. Alles ging glatt.

Gesittet zogen die Schüler paarweise durch die Straßen. Selbst die eingefleischten Radaumacher versagten es sich diesmal, Straßenbahnen und Passanten mit Steinen oder Mist zu bewerten. Lärmend zogen sich die Jungen in der Badeanstalt aus. Dann gingen sie in den Waschraum.

Der Erzieher kletterte als erster auf eine Schwitzbank. Er schien in die Reinigungsprozedur so vertieft zu sein, daß er seine Zöglinge vollständig vergaß.

Die Jungen kleideten sich hernach wieder an, schimpften mit dem Bademeister, bettelten den anderen Besuchern Zigaretten ab und merkten dabei gar nicht, daß der Erzieher weg war. Als es ihnen schließlich auffiel, begannen sie, ihn zu suchen. Sie durchstöberten eifrig die ganze Badeanstalt, aber vergebens. Nachdem sie noch eine halbe Stunde gewartet hatten, gingen sie allein zurück.

Die regellose Horde, die in die Schule einzog, machte Vikniksor wütend. Er war entschlossen, dem neuen Erzieher einen Verweis zu geben. Doch der Neue war nicht da. Auch am nächsten Tage kam er nicht. Vikniksor schüttelte ausgiebig den Kopf.

„So ein primitiver Gauner“, seufzte er niedergeschmettert. „Und dabei sah er doch so sympathisch und anständig aus! Schanzt sich einmal Wäsche zu, holt sich Lebensmittel für einen Monat, badet auf Staatskosten und verschwinde!..“

Aber es war eine nützliche Lektion. Von nun ab sah man den neuen Lehrern genauer auf die Finger.

Die Serie der hoffnungslosen Erzieher war mit diesen beiden nicht zu Ende. Es kamen noch mehr.

Sie gaben einander die Klinke in die Hand und hatten samt und sonders nur ein Ziel: etwas zu verdienen. Der eine schlug sich zu den Lehrern, um sich in der Schule halten zu können, der andere zu den Zöglingen. Der junge Pädagoge Pal Wanytsch, ein Riese mit Pferdemähne und schmaler Nase, zeigte hierbei besonders großes Talent. Vom ersten Tag ab hielt er es mit den Schülern. „Na, wir werden schon klarkommen“, sagte er forsch mit einem aufmunternden Lächeln, als ihm die obere Klasse vorgestellt wurde. „Tatsache, das werden wir“, bestätigten die Jungen. Das „Klarkommen“ begann schon in der ersten Unterrichtsstunde. Gleich nach seinem Eintritt in die Klasse fragte der Erzieher die Jungen, die ihn aufmerksam musterten, nach ihrem Leben. Das Gespräch wollte nicht in Fluß kommen. Die älteren Jungen waren sehr vorsichtig. Um eine Brücke zu schlagen, beschloß Pal Wanytsch, etwas zu riskieren.

„Eure Pädagogen gefallen mir nicht. Sie sind verdammt streng zu den Zöglingen. Keinerlei Kameradschaftlichkeit.“

Die Klasse beschränkte sich auf stummes Erstaunen. Nur Brotkanten knurrte so etwas wie: „Oho!“

Mit der Unterhaltung klappte es noch immer nicht. Alle Jungen hielten den Mund. Der Erzieher ging im Zimmer auf und ab. „Ich bin übrigens ein guter Sänger“, sagte er plötzlich.

„So?“ forschte Zigeuner verwundert.

„Ja. Arien singe ich einigermaßen. Ich bin sogar schon in Laienkonzerten aufgetreten.“

„Ach nee!“ rief Jankel entzückt.

„Singen Sie uns doch etwas vor!“ empfahl Japs.

„Wahrhaftig, tun Sie das!“ unterstützten ihn die anderen.

Pal Wanytsch grinste.

„Ich soll singen? Hm… und der Unterricht?“ „Den machen wir hinterher. Der läuft uns nicht weg“, meinte Mamachen beruhigend. Er schätzte die Schulstunden sowieso nicht besonders.

„Na gut, meinetwegen“, gab der Erzieher nach. Er wischte sich die Stirn. „Aber was soll ich singen?“ forschte er mit gerunzelter Stirn.

„Egal! Was aus einer Oper!“ drängten ungeduldige Stimmen. „Eine Arie!“

„Eine Arie! Eine Arie!“

„Gut. Dann singe ich die Lenski-Arie aus der Oper 'Eugen Onegin'“.

„Einverstanden?“

„Los!“

„Immer ran!“

Pal Wanytsch räusperte sich und fing halblaut an:

Wohin, wohin bist du entschwunden,

du meiner Jugend goldne Zeit?..

Er sang nicht schlecht. Seine weiche Stimme brachte die Melodie klar heraus, und als die letzten Töne verklungen waren, spendete die Klasse stürmischen Applaus.

Nur Mamachen war mit der Arie nicht zufrieden.

„Lieber Pal Wanytsch! Schmettern Sie mal was Lustigeres.“

„Ja, Pal Wanytsch! Ein Liedchen!“

Der Lehrer versuchte zu protestieren, aber es blieb ihm nichts anderes übrig als nachzugeben.

„Was soll ich mit euch machen, ihr Banditen! Na schön. Ich will euch ein Studentenlied aus meiner Universitätszeit vorsingen.“ Er räusperte sich wieder, schlug mit dem Fuß den Takt und trällerte nach einer ausgelassenen Melodie:

Willst du einen Blaustrumpf lieben,

flieh vor allen runden Rüben,

brauchst du eine nette Frau,

prüf sie vorher ganz genau.

Hei, hei, trulala,

prüf sie vorher ganz genau!..

Die Klasse wieherte vor Vergnügen.

„Das ist prima!“ jauchzte Mamachen begeistert. „Runde Rüben!“ Der feurige Rhythmus des Liedes riß die Zöglinge mit. Brotkanten sprang auf und wirbelte in einem russischen Tanz durch die Klasse. Pal Wanytsch fuhr fort:

Von den Medizinerinnen

sind ganz groß die Streichholzdünnen,

lieben lustig jeden Mann!

Mach dich an 'ne Ärztin ran!

Die Jungen waren außer Rand und Band. Sie klatschten in die Hände, trommelten auf den Bänken den Takt und pfiffen gellend. Dröhnend fielen sie in den Refrain ein:

Hei, hei, trulala!

Mach dich an 'ne Ärztin ran!

Plötzlich schrillte die Klingel. Das Lied brach ab. Der Unterricht war beendet.

Im Triumph wurde Pal Wanytsch aus der Klasse geleitet. „Das ist eine Sache! Das ist unser Mann!“ Hingerissen stellte sich Jankel auf die Zehenspitzen und klopfte dem Lehrer freundschaftlich auf die Schulter.

„Ihre Unterrichtsstunden sollten wir häufiger haben.“ „Wir mögen Sie gerne leiden, Pal Wanytsch!“ machte Japs seinen Gefühlen Luft. „Jetzt sind Sie unser Freund. Unser Blutsbruder, kann man schon sagen.“

Durch diesen Erfolg ermutigt, lächelte Pal Wanytsch herablassend. „Wir werden unser Leben jetzt genießen, Jungens. Ich gehe auch mit euch ins Theater.“

Bald waren Pal Wanytsch und die Klasse tatsächlich dicke Freunde. Er besorgte Eintrittskarten, führte die Schüler ins Theater, unterhielt sich mit ihnen über Schulneuigkeiten, bestrafte niemanden und gab vor allem überhaupt keinen Unterricht. Er organisierte eine sogenannte „freiwillige Lektüre“ oder erklärte ganz einfach, der Unterricht fiele heute aus und jeder könne machen, was er wolle.

Pal Wanytsch hatte seinen festen Entschluß, sich die Sympathie der Jungen zu erobern, so gründlich in die Tat umgesetzt, daß sich die Schkider in offener Rebellion geschlossen hinter ihren Liebling stellten, als schließlich der Augenblick kam, an dem der Pädagogische Rat sein Verhalten für unzulässig erklärte.

Der „Liebling“ ging herum, erzählte überall, daß ihn seine Feinde, mit Vikniksor an der Spitze, aus der Schule jagen wollten, und stachelte dadurch die Leidenschaften immer weiter auf.

Die Empörung schlug hohe Wellen. Die Strolche sagten den übrigen Lehrern einen Kampf auf Tod und Leben an und randalierten eine Woche lang in entfesselter Raserei. Es wurde ein „Verteidigungsstab“ gegründet.

Der Stab tagte ununterbrochen. Wie gewöhnlich leiteten die Ältesten — Zigeuner, Japs, Jankel und Spatz — den Aufstand. Sie hielten tagelange Sitzungen ab, auf denen sie immer neue Verteidigungsmaßnahmen für ihren Lieblingslehrer ausknobelten.

Agitatoren wurden in die Klassen geschickt. Sie hetzten die übrigen Schkider auf, den Propheten den Gehorsam zu verweigern und den Unterricht zu sprengen.

„Macht keine Schularbeiten! Boykottiert die Lehrer, die unseren Pal Wanytsch wegjagen wollen.“

Der Unterricht wurde tatsächlich unmöglich gemacht. Wenn ein Lehrer die Klasse betrat und mit der Schulstunde beginnen wollte, setzte ein leises Gebrumm ein, das sich allmählich zu ohrenbetäubendem Gebrüll steigerte.

Diese Kampfesmethode hatte den Vorteil, daß kein einzelner Schüler überführt werden konnte.

Die Jungen saßen ruhig, mit zusammengepreßten Lippen, da. Sie brummten durch die Nase.

Wer brummte, war unmöglich festzustellen. Wenn der Lehrer an einen Jungen herantrat, verstummte dieser, ging der Lehrer weg, begann das Gebrumm von neuem.

Die Lehrer kamen nicht mehr zu Worte. Einer nach dem anderen streckte resigniert die Waffen und verließ die Klasse. Allmählich verwandelte sich der Kampf um Pal Wanytsch in einen regelrechten Krieg. Der Stab gab den Befehl zum Gegenangriff. Nachts wurden in der Schule die Türklinken mit Tinte beschmiert, wurde auf die Fensterbretter, auf die Tische und Stühle der Lehrer Asche gestreut. In den Sitzen steckten plötzlich Nägel, und vor der Kanzlei wurde ein Gasangriff veranstaltet — die Jungen holten ein großes Stück gelben Schwefel aus dem Chemieschrank, legten es hinter den Garderobenständer und zündeten es an. Der ätzende Schwefelgestank zwang die Propheten, die Kanzlei zu räumen. In den Unterrichtsstunden weigerten sich die Jungen nun offen, etwas zu lernen.

Eine Woche dauerte die allgemeine Raserei schon an. Die Lehrer waren verwirrt. Einen so gut organisierten Widerstand hatten sie bisher noch nicht erlebt.

Wie die Schmutzfinken liefen sie herum — mit Tinte und Kreide beschmiert und mit Löchern in den Hosen. Sie waren ratlos. Ihre offensichtliche Verwirrung gab den rebellierenden Schkidern weiteren Auftrieb.

Der Stab dachte sich immer neue Mittel zur Niederschlagung der Propheten aus. Die strategischen Beratungen dauerten tagelang. „Wir werden sie zwingen, Pal Wanytsch nicht zu entlassen!“ tobte Japs.

„Richtig!“

„Wir geben Pal Wanytsch nicht her!“

„Wir müssen Plakate abfassen und überall ankleben“, schlug Jankel vor. Er liebte das gedruckte Wort.

Der Vorschlag wurde auf der Stelle angenommen, und der Stab beauftragte Jankel, Plakate anzufertigen. Mit kriegerischem Elan holte er sämtliche Zeichner und Literaten der Schule zusammen. Die Plakate wurden zu Dutzenden gemalt, und flinke Agitatoren beklebten die Wände der Klassen und Korridore mit den furchteinflößenden Parolen:

Zittert, Propheten!

Wir lassen die Vertreibung unseres Lieblingslehrers nicht zu.

Wir protestieren!

Die Lehrer hatten alle Hände voll zu tun, um die Schmähschriften wieder abzureißen.

Die Leitung des Aufstandes lag in erfahrenen Händen. In einigen Klassen wurden bereits die Türen mit Bänken und Stühlen verrammelt, um den Lehrern den Eintritt zu versperren. Das nannten die Jungen „Barrikadenbau“. Unter den Lehrern gärte es.

Die Angsthasen bildeten eine Fraktion, die für das Verbleiben Pal Wanytschs in der Schule eintrat, doch Vikniksor blieb unnachgiebig. Er beschloß, den Lehrer so schnell wie möglich wegzujagen, um dem Aufstand ein Ende zu setzen. Am Ende der Woche wurde Pal Wanytsch entlassen, aber die Hoffnung, daß damit der Aufstand zum Erliegen kommen würde, erfüllte sich nicht.

Pal Wanytsch manövrierte geschickt. Nachdem ihm seine Entlassung mitgeteilt worden war, ging er in die vierte Abteilung und verkündigte sie den Schülern trauervoll.

Ein unwahrscheinlicher Sturm brach los. Die Jungen schworen, daß sie ihn nicht im Stich lassen würden, und versprachen feierlich, einen Krawall zu machen, wie ihn die Schkid noch nicht erlebt habe. Dieser Tag blieb den Schkidern und ihren Lehrern immer im Gedächtnis. Die Schüler der oberen Klasse riefen alle Abteilungen zum Entscheidungskampf auf.

Der Stab legte den Operationsplan fest, und nachdem Pal Wanytsch entschwunden war, prangten an sämtlichen Wänden der Schule Zettel mit der Aufschrift:

Bei Todesstrafe fordern wir das Verbleiben Pal Wanytschs in der Schule!

Daraufhin hielt Vikniksor nach dem Mittagessen eine lange Rede, in der er zu beweisen versuchte, daß Pal Wanytsch durchaus ungeeignet sei und daß er die Schüler nur demoralisiere. Er schloß mit der Erklärung, daß die Entlassung des Lehrers in Kraft bleibe. „Er kommt nicht mehr her, Kinder. Das habe ich gesagt, und dabei bleibt es!“ Grabesschweigen war die Antwort. Doch nach dem Mittagessen brach die Hölle los. So etwas hatte die Schkid seit ihrer Gründung noch nicht erlebt.

In allen Sälen, allen Klassen und allen Schlafräumen wurden die Türen geschlossen. Dahinter wurden aus Bänken, Schrubbern und Stühlen Fallen gebaut. Wenn jemand die Tür öffnete und eintreten wollte, fiel ihm etwas Schweres auf den Kopf und hinterließ einen einprägsamen Denkzettel in Gestalt einer Beule oder eines blauen Flecks.

Solche Scherze mißfielen den Lehrern außerordentlich, aber sie wollten nicht die Waffen strecken. Sie mußten doch den Unterricht abhalten. Die Propheten nahmen also den Kampf auf, und nach langer Belagerung wurden die Barrikaden erstürmt. Zwei Lehrer trugen allerdings blaue Male an Stirn und Kinn davon, aber sie fochten heroisch weiter.

Am gleichen Tage befahl der Stab den Beginn des „heißen“ Krieges. Mehrere Prophetenhosen gingen in Flammen auf, da glühende Kohlen unter dem Stuhl gelegen hatten. Aber man muß den Lehrern Gerechtigkeit widerfahren lassen — sie hielten sich wacker. Von einem Unterricht konnte überhaupt nicht mehr die Rede sein. Es handelte sich jetzt nur noch um die Behauptung der Macht — allein darum ging der wilde, verbissene Kampf. Es wurde Abend. Angesichts der bedrohlichen Situation machte Vikniksor beim Abendessen einen riskanten Gegenangriff: Er verkündete den Belagerungszustand, Urlaubs- und Ausgangssperre so lange, bis die Rebellion ein Ende gefunden hätte. Doch diese Maßnahme war nur öl fürs Feuer. Als die Dämmerung hereinbrach, griff der Stab zum letzten Verzweiflungsmittel. Er gab den Befehl: Schlagt die Propheten, wo ihr sie trefft!

Wie ein Rudel rasender Raubtiere stürzte sich die gesamte Schule auf den Feind. Überall erlosch das elektrische Licht. Eine wilde Prügelei ging los. Brüllende Menschenmassen rasten im Dunkeln durch den Saal. Die überrumpelten Propheten wurden umzingelt.

Sie flogen zu Boden. Messer wurden gezückt. Die Strolche warfen den Lehrern Bücher und Tintenfässer an den Kopf, sie schlugen mit den Fäusten auf sie ein. Es war ein wildes Handgemenge. Alle Anstrengungen, Licht zu machen, waren vergebens. Jemand mußte die Sicherungen herausgeschraubt haben. Ungehindert tobten die Rasenden durch die Schule. Alles ging in Trümmer. In der finsteren Küche stöhnte die Köchin. Die unternehmungslustigsten, besonders praktisch veranlagten Aufrührer benutzten das allgemeine Durcheinander, um die Reste von Mittag- und Abendessen zu rauben. Schließlich traten die Lehrer den Rückzug in die Kanzlei an. Vikniksor erkannte den Ernst der Lage. Da er wußte, wer die Rädelsführer waren, begab er sich unverzüglich in die vierte Abteilung und berief eine außerordentliche Versammlung ein.

Er mußte seine Taktik ändern, um zu siegen, und er tat es. Nachdem die Jungen Platz genommen und sich ein wenig beruhigt hatten, fragte Viknjksor freundlich: „Nun sagt mir einmal offen, Kinder, warum ihr so einen Radau macht?“ „Weshalb haben Sie Pal Wanytsch weggejagt?“ war die empörte Gegenfrage der Strolche.

„Kinder! Ihr müßt doch begreifen, daß Pal Wanytsch kein Lehrer sein kann.“

„Warum nicht?“

„Er ist doch zu jung. Sagt selbst, wollt ihr denn gar nichts lernen?“

„Aber er unterrichtet uns doch!“ riefen aufgeregte Stimmen. Vikniksor hob die Hand.

„In welchem Fach?“ forschte er, nachdem wieder Ruhe eingetreten war. „Was hat er im letzten Monat mit euch durchgenommen?“ Die Jungen machten verlegene Gesichter. „Alles mögliche… fällt einem nur nicht so schnell ein!“

„Er sang prima Lieder! Von runden Rüben!“ ergänzte Mamachen unter allgemeinem Gelächter.

Die Stimmung veränderte sich merklich, und Vikniksor machte sich das zunutze.

„Kinder!“ sagte er traurig. „Daß ihr euch nicht schämt. Ihr geht in die oberste Klasse. Ihr seid schließlich gescheite, aufgeweckte Jungen. Und ihr haltet zu einem Menschen, bloß weil er von 'runden Rüben' singen kann?“

Die Klasse kicherte unentschlossen.

„Pal Wanytsch ist überhaupt kein Lehrer — er ist ein Zirkusclown und nur dadurch interessant, daß er den dummen August spielt.“

„Stimmt!“ rief einer. „Ein richtiger dummer August!“

„Na also“, fuhr Vikniksor fort. „Clowns kann man im Zirkus bewundern, aber sie geben schließlich keinen Literaturunterricht.“ Die Jungen schwiegen. Sie saßen da, das Kinn auf die Fäuste gestützt, und starrten den im Zimmer umhergehenden Vikniksor wortlos an. „Ihr könnt wählen!“ betonte Vikniksor. „Entweder Pal Wanytsch oder die Literatur. Wenn ihr weiter randaliert, bleibt Pal Wanytsch vielleicht in der Schule. Aber dann sind wir gezwungen, den Literaturunterricht vom Lehrplan zu streichen.“

Er hatte einen wunden Punkt berührt. Die Schkider wollten trotz alledem etwas lernen.

„Leute!“ rief Japs. „Ruhe! Was meint ihr dazu?“

„Ruhe!“ wiederholten die übrigen. Und alle schrien durcheinander. Es war ihnen plötzlich so leicht und froh zumute wie nach einem schweren Gewitter.

Der Skandal war vorbei. Pal Wanytsch blieb entlassen. Der Rebellenstab löste sich auf.

„Wir haben ganz schönen Wind gemacht“, sagte Japs nach dem Abendtee zu seinen Kameraden. „Aber eigentlich nicht wegen Pal Wanytsch, findet ihr nicht auch?“

„Das stimmt“, bestätigte Zigeuner. „Wir haben bloß so randaliert — zum Spaß. Aber Pal Wanytsch war eine tolle Marke.“

„Tatsache!“ brummte Jankel zustimmend. „Solche Leute wie Pal Wanytsch müßte man verwichsen.“

„Auf ihn mit Gebrüll!“ schrie Spatz empört. Aber dafür war es zu spät. Pal Wanytsch hatte die Schule verlassen. Zurück blieb nichts als eine wirre Erinnerung.

Einer anderen Taktik bediente sich ein Lehrer, der wegen seiner außergewöhnlichen Magerkeit den Spitznamen „Streichholz“ bekommen hatte. Es war ein unglücklicher Mensch. Als aktiver Offizier hatte er zwei Kriege mitgemacht, war an der Front verwundet worden und litt seitdem an Schwerhörigkeit. Das hatte ihn boshaft und reizbar gemacht. Er wurde als Turnlehrer angestellt und schlug sich von Anfang an auf die Seite der Direktion. Jede Anweisung Vikniksors und des Pädagogischen Rates befolgte er mit peinlicher Genauigkeit. Er bestrafte die Schüler erbarmungslos, schrieb ellenlange Tadel ins Klassenbuch oder entzog ihnen den Urlaub.

Ein guter Pädagoge ist gewöhnlich auch ein guter Diplomat. Er überlegt es sich genau, bevor er einen Tadel einschreibt oder den Schüler auf andere Art bestraft.

Streichholz machte sich darüber keinerlei Gedanken. Er warf mit den Strafen nur so um sich. Seine einzige Sorge war, sich an die Vorschriften zu halten.

Mit finsteren Blicken stelzte er auf seinen langen, mageren Beinen durch die Schkid.

„Stell dich in die Ecke“, knurrte er gleichgültig. „Und du gehst in den Karzer… Du kriegst kein Mittagessen… Du darfst heute nicht Spazierengehen… und dir entziehe ich den Urlaub…“ Er wurde ingrimmig gehaßt. Ein Kampf entbrannte, der mit dem Sieg der Schkider endete.

Der Schulrat stellte fest, daß Streichholz unpädagogisch arbeitete, und er mußte gehen.

Genauso erging es dem „Pessimisten“, einem halbverhungerten Studenten, der weder pädagogische Praxis noch pädagogisches Talent besaß und mit den Schkidern nicht fertig wurde. Im Laufe der Zeit bekamen die Schkider viele Propheten zu sehen; an die sechzig tauchten innerhalb von zwei Jahren in der Schule auf. Sie kamen und gingen.

Langsam schied sich die Spreu vom Weizen, und allmählich kristallisierten sich die wirklichen, talentierten, ihrem Beruf verschworenen Pädagogen heraus. Von den sechzig Leuten brachte es nur ein Dutzend fertig, den Weg zu den Herzen der verwahrlosten Strolche zu finden, ohne sich mit ihnen auf eine Stufe zu stellen. Dieses Dutzend trug das schwere Schkid-Boot auf den Schultern ans Ufer, machte es seetüchtig und schickte es auf große Fahrt — in das weite Meer des Lebens.


Olga Afanassjewna war sanft, still und gutmütig, scheinbar allzu gutmütig. Als sie sich dem Direktor als Anatomielehrerin vorstellte, musterte er sie ungläubig und unfreundlich. Sie würde wohl kaum mit seinen wilden Zöglingen fertig werden, glaubte er. Aber im Laufe der Zeit stellte sich das Gegenteil heraus. Was anderen Lehrern nur durch Drohungen und Strafen gelang, erreichte sie mühelos — ohne den geringsten Druck.

Sie sah zwar gebrechlich und kränklich aus, besaß jedoch einen unerschöpflichen Vorrat an Kaltblütigkeit. Sie schimpfte niemals, sie bedrohte niemanden. Trotzdem wurde sie schon nach einem Monat von allen Klassen geliebt, und überall erzielte sie gute Unterrichtserfolge.

Selbst die größten Faulpelze kamen voran.

Mamachen, Jankel und Spatz — eingefleischte Drückeberger — legten plötzlich großes Interesse für das menschliche Skelett an den Tag und zeichneten Wadenknochen und Scheitelbeine in ihre Hefte. Olga Afanassjewna verstand es, ihren Schülern die Liebe zum Wissen einzuflößen. Sie hätte viel erreicht, wenn nicht eine schwere Krankheit sie gezwungen hätte, die Schkid für einige Zeit zu verlassen.


Und blut'ge Knabendecken stehn vor mir…


Der Bürgerkrieg ging zu Ende. Ein Leben in Frieden begann. Überall in der Stadt wurden neue Klubs und Bildungshäuser eröffnet.

Auch im Kinderheim trug man sich mit diesem Gedanken. Die Jungen hatten reichlich freie Zeit, die vernünftig ausgenutzt werden konnte. Da tauchte Mirra Borissowna auf, eine rundliche, lebenslustige Jüdin. Sie kam an einem trüben, langweiligen Herbstabend in die Klasse und brachte gleich Leben in die Bude.

„Da bin ich, Jungens. Wir werden zusammen arbeiten.“

„Herzlich willkommen!“ Mamachen quittierte ihr Erscheinen mit einem mürrischen Gesicht. „Doch die Arbeit schlagen Sie sich aus dem Kopf. Damit kommen Sie nicht bei uns durch.“

„Weshalb nicht?“ Die Lehrerin war aufrichtig erstaunt. „Ist es denn so schlimm, ein nettes Stück einzuüben und es aufzuführen? Euch macht es Spaß und den anderen auch.“

„Oho! Ein Theaterstück? Haste dir gedacht!“

„Halt die Klappe, Mamachen! Das ist doch 'ne Wucht!“ widersprachen die anderen. Mit Feuereifer gingen sie an die Arbeit. Die Feiertage standen vor der Tür, und Mirra Boris — sownamußte sich mächtig beeilen. Sie verbrachte sogar all ihre freie Zeit in der Schkid.

Schnell waren die Stücke gewählt — der „Geizige Ritter“ und Auszüge aus „Boris Godunow“ von Puschkin. Abends kamen sie in der Klasse zusammen und probten.

Japs hatte zwei Monologe des Zaren Boris auswendig gelernt. Er trat mitten in die Klasse und eröffnete die Tragödie. Wenn er aber an die Stelle kam „Und blutbedeckte Knaben stehn vor mir…“, stockte er verwirrt. Sein schauspielerisches Temperament entschwand, und er schloß stotternd: „Und blut'ge Knabendecken stehn vor mir…“

„Jeonin! Wieder falsch!“ unterbrach ihn Mirra Borissownas sanfte Stimme nachdrücklich.

Japs weinte beinahe vor Wut und fing wieder von vorn an. Aber schließlich schaffte er es trotz alledem. Schnell vergingen die langen Schkid-Abende bei den Proben. Die Strolche liebten die lustige Lehrerin bald so, daß sie sich richtig nach ihr sehnten, wenn sie keinen Dienst hatte.

„Mirra ist da!“ klang es durch die ganze Schule, sobald ihr Halbpelz und ihr weicher Orenburger Schal auftauchten. Der Tag der Aufführung war für sie ein Triumph. Die Jungen spielten mit hinreißendem Schwung. Es war der schönste Abend, den die Schule je erlebt hatte, und nach der Vorstellung hatten die Schkider sogar eine Überraschung parat. Jankel, der einstimmig zum Ansager gewählt worden war, kam auf die Bühne und verkündete, daß die Darbietungen noch nicht zu Ende seien. Die Schüler hätten aus eigenem Antrieb ein Gedicht verfaßt, um ihre Lehrerin zu ehren. Dann las er vor:

Das grandiose Stück ist aus,

doch bitte geht noch nicht nach Haus!

Stimmt alle ein in unsern Ruf:

Mirra Borissowna soll leben,

weil sie die Schkider Bühne schuf!

Seit diesem Tage waren die Schkider und ihre Lehrerin noch unzertrennlicher als zuvor. Aber eines Tages — es war mitten im Winter — kam Mirra in die Schule und teilte verlegen mit, sie wolle heiraten und Leningrad verlassen. Die Trennung fiel den Jungen schwer, doch sie mußten sich damit abfinden. Die lustige Lehrerin in dem Soldatenhalbpelz verschwand für immer aus der Schkider Republik. Als Erinnerung hinterließ sie die Beziehung zu einer Bekannten, die in einem Filmtheater angestellt war und Mirras Schülern, Jankel und Japs, wöchentlich einmal Kinokarten verschaffte.

Das waren die Erlebnisse mit den beiden Erzieherinnen, die es verstanden hatten, in den schwererziehbaren Jugendlichen Anhänglichkeit und Wissensdurst zu erwecken. Die ganze Schule hatte sie geliebt. „Amöbe“ dagegen wurde verabscheut, obgleich er wohl sein Fach beherrschte.

Er war ein Mann in mittleren Jahren, häßlich von Gestalt und mit einer niedrigen Affenstirn. Er unterrichtete in Naturkunde, liebte sein Fach sehr und versuchte auf alle erdenkliche Weise, auch seinen Schülern diese Liebe einzuimpfen. Aber das gelang ihm kaum. Die Jungen haßten die Naturkunde genauso wie den Lehrer. Amöbes mürrische Pedanterie mißfiel ihnen besonders. In einer Unterrichtsstunde erzählte er zum Beispiel eifrig von den Mikroorganismen. Plötzlich bemerkte er, daß die letzte Bank, auf der Japs saß, mit anderen Dingen beschäftigt war. „Jeonin! Setz dich auf die vorderste Bank!“ befahl er ärgerlich. „Warum denn?“ fragte Japs erstaunt. „Jeonin, setz dich auf die vorderste Bank!“

„Ich sitze doch hier sehr gut.“

„Setz dich auf die vorderste Bank.“

„Was schikanieren Sie mich!“ quengelte Japs. „Setz dich auf die erste Bank!“ war die monotone Antwort. „Nein! Verdammter Prophet!“ schrie Japs wütend.

Amöbe überlegte eine Weile. Dann fing er wieder von vorn an. „Jeonin, geh aus der Klasse.“

„Warum?“

„Geh aus der Klasse.“

„Ja, wozu denn?“

„Geh aus der Klasse.“

Außer sich vor Wut stampfte Japs mit dem Fuß. Seine Knopfnase rötete sich. Die Augen quollen heraus.

„Jeonin, geh aus der Klasse!“ wiederholte Amöbe ungerührt.

Japs entlud sich in einem wilden Schwall von Schimpfworten.


He! Alnikpop!


„Amöbe! Dreimal verfluchter Prophet! Immer mußt du mich schikanieren, du Holzkopf!“ Amöbe hörte sich das gelassen an. „Jeonin!“ bestimmte er dann, „du reinigst heute die Toilette.“ Und damit gaben sich beide Parteien zufrieden.

Wegen dieser unheimlichen Ruhe war Amöbe bei den Schkidern so unbeliebt. Aber niemand bezweifelte seine Ehrenhaftigkeit; er wurde gefürchtet und geachtet.

Doch die ausgeprägtesten Charaktere, die besten Erzieher, auf die sich die Schule stützen konnte, waren die beiden Propheten Alexander Nikolajewitsch Popin und Konstantin Alexandrowitsch Medowitsch, abgekürzt Alnikpop und Kostalmed genannt.

Sie kamen fast gleichzeitig in die Schkid und arbeiteten sich schnell aufeinander ein.

Alnikpop war nicht mehr jung, klein, munter und dick, hatte eine hohe Stirn und einen Ansatz zur Glatze, ein schwarzes Darlehen und eine wendige Gestalt. Auf seiner Nase saß ein Zwicker mit zersprungenen Gläsern. Außerdem besaß er einen wahrhaft unerschöpflichen Vorrat an Energie, Kraft, Wissen und Erfahrung. In der ersten Zeit war er recht unbeliebt. Wenn seine untersetzte Gestalt in der alten Lederjacke irgendwo auftauchte, stürzten sich die Schkider auf ihn, um ihn zu piesacken. In den Pausen heftete sich eine ganze Horde von Banditen an seine Fersen und schmetterte alle möglichen Spottverse, die von den älteren Schülern verfaßt worden waren.

In der Schkid, da gibt's 'nen Clown,

sehr possierlich anzuschaun.

Ist kein Floh und macht nicht hopp —

unser krummer Alnikpop…

„He! Alnikpop!“ grölten die Bengel und zerrten ihn an der Jacke, aber der Lehrer schien das überhaupt nicht zu hören. Sie bauten sich direkt vor seiner Nase auf, starrten unverschämt auf seine zerrissenen, nachlässig geflickten Stiefel und improvisierten:

Alnikpops geflickte Schuh

kriegen's Maul nicht wieder zu!

Zuweilen riß dem neuen Erzieher die Geduld. Dann wandte er sich schroff dem schlimmsten Quälgeist zu, überwand aber seinen Zorn und drohte ihm nur mit dem Finger.

„Sieh dich vor, du Gänserich!“

Daraufhin wurde er prompt „Gänserich“ getauft.

Aber die Piesackerei hörte sehr bald auf. Der Neue hatte die-Probe bestanden — er war stärker als die Zöglinge. Seine Haltung imponierte ihnen.

Er wurde als Prophet von Format anerkannt.

In seiner pädagogischen Strenge wußte er Maß zu halten. Er ließ den Jungen kernen dummen Streich durchgehen, bestrafte sie jedoch nicht sofort. Erst wenn er das Vergehen gründlich untersucht hatte, diktierte er dem Schuldigen eine Strafe zu oder las ihm nur die Leviten.

Bloß in seinem Spezialfach — der russischen Geschichte — ließ er keine Gnade walten. Hier ging er gegen alle, die ihre Aufgaben schlecht gelernt hatten, mit schonungsloser Härte vor. Die Faulpelze mußten ihren Wissensmangel schwer büßen.

Die Zeit verging. Die Jungen gewöhnten sich an Alnikpop, und bald stellte sich heraus, daß er nicht nur ein ausgezeichneter Erzieher, sondern auch ein guter Kamerad war.

Abends holten die älteren Jungen Alnikpop mit Vorliebe zu sich, denn sie konnten sich mit ihm über viele Dinge gut unterhalten. Oft ging er nach dem Abendtee zu ihnen, setzte sich mit krummem Rücken auf die Bank — dabei blitzte sein zersprungener Zwicker immer auf — und erzählte eine Anekdote, etwas von den letzten internationalen Ereignissen, eine Episode aus seiner Schulzeit oder eine Geschichte aus seinem Studentenleben. Manchmal diskutierte er auch mit den Jungen über Majakowski oder Block, berichtete von der illegalen Zeitschrift, die er im Gymnasium herausgegeben hatte, oder von seinen Erlebnissen als Rezensent eines zweitrangigen Verlages. Die Unterhaltung zog sich in die Länge und endete erst, wenn es zum Schlafengehen klingelte.

So verwandelte sich der neue Erzieher allmählich in einen älteren Kameraden der Schkider, blieb jedoch dabei ein strenger, anspruchsvoller und gerechter Prophet. Kostalmed kam einen Monat später.

Er war aus dem Kloster in die Schkid versetzt worden. Dort hatte er mehrere Monate lang als Aufseher gearbeitet. Diese Tatsache genügte, um jede Neigung zum Spott im Keim zu ersticken. Sein Äußeres flößte selbst dem berüchtigtsten Raufbold eine unwillkürliche Achtung ein. Seine Löwenmähne, sein rotbrauner Bart und seine Reckengestalt im Verein mit seiner furchtbaren Donnerstimme erschreckten die Schkider dermaßen, daß sie ihn in ihrer Angst für einen Schlächter aus der Abdeckerei hielten und ihn „Abdecker“ tauften. Doch sie mußten diesen Spitznamen schon nach wenigen Tagen fallenlassen.

Der Abdecker war nämlich in Wirklichkeit ein ziemlich nachsichtiger, gutmütiger Mann, der nur so donnerte und mit den Augen rollte, um sich Respekt zu verschaffen.

Bald hatten sich die Jungen an sein Löwengebrüll gewöhnt. Wenn er jemanden beim Schlafittchen kriegte, nahmen sie das nicht ernst. Und der Junge, der von der gewaltigen Faust gepackt war, kniff bloß die Augen zusammen und grinste, als würde er gekitzelt. Trotzdem erzielte das furchteinflößende Aussehen eine gewisse Wirkung.

Kostalmed gab ausgezeichneten Gymnastikunterricht. Eifrig machten die Jungen die vorgeschriebenen Übungen. Nur die vierte Abteilung stand mit ihm auf dauerndem Kriegsfuß und schwänzte seinen Unterricht, wo sie nur konnte.

Nach kurzer Zeit freundeten sich Kostalmed und Alnikpop an, weil sie die gleichen pädagogischen Ansichten hatten. Der Hüne Kostalmed und der kleine dicke Alnikpop gehörten zu den wenigen Propheten, die sich in der Schule halten konnten. Sie setzten all ihre Kräfte ein im Kampf gegen die Jugendkriminalität, und ihre Leistungen sind in der Geschichte der Schkid-Republik mit goldenen Lettern verzeichnet.

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