Ein Abend in der Schkid * Stille Freuden * Rattenjagd * Das Tanzvergnügen * Alle Macht dem Volke.
Der Abendunterricht war zu Ende.
Zum letztenmal ging der Diensthabende durch die Korridore, das letzte Klingelzeichen verhallte, die Schkider klappten die Bänke hoch und zerstreuten sich — johlend, trampelnd, tanzend — in allen Stockwerken des alten Hauses.
Die Jüngeren verschwanden im Saal, um ein Bockspringen zu veranstalten, andere rasten die Treppe hinauf, um auf dem Geländer herunterzurutschen, und einige zogen in die Küche, weil sie auf Essensreste hofften.
Die Älteren gaben sich kultivierteren Zerstreuungen hin. Spatz hatte sich zum Beispiel einen langen Strick besorgt, knüpfte eine Schlinge und ging in den Eßraum. Dort hockte er sich vor ein Loch im Fußboden, legte die Schlinge aus und warf einen Brocken kalte Grütze hinein. Dann versteckte er sich lauernd hinter einer Bank. Er wollte nämlich eine Ratte fangen. Die Rattenjagd war in letzter Zeit seine Lieblingsbeschäftigung. Die Schiingenmethode hatte er selbst erfunden. Darauf war er äußerst stolz.
Japs saß in der Klasse, zog dauernd den Naseninhalt hoch und übersetzte dabei mit störrischer Hartnäckigkeit ein Gedicht Chamissos aus dem Deutschen ins Russische. Das war eine mühselige Arbeit. Aber er hatte sich die Finger in die Ohren gebohrt und brabbelte unermüdlich die widerspenstigen Verszeilen in allen erdenklichen Variationen vor sich hin:
In meinen Traumen, leicht und wunderbar…
In meinen leichten, wunderbaren Träumen…
In meinen Träumen, wunderbar und leicht…
In meinen wunderbaren, leichten Träumen…
Und so weiter und so fort, bis sich die Zeile anständig anhörte und aufgeschrieben war.
Zigeuner starrte eine Weile gähnend zur Decke empor, verließ dann den Raum, griff sich einen Knirps aus der unteren Abteilung, führte ihn in die Klasse, band ihm einen Strick ums Bein und grinste mit verkniffenen Augen.
„Los, Möpschen, tanze!“ befahl er.
Das „Möpschen“ versuchte, an Zigeuners Barmherzigkeit zu appellieren.
„Au, Zigeuner!“ jammerte es, „mein Bein tut mir so weh!“ Doch Zigeuner lachte nur. „Das macht nichts, Möpschen! Tanze!“
In der Ecke stand der erst kürzlich eingetroffene Bober hinter der Tafel und übte sich im Singen. Er grölte die Schlager, die er irgendwo im Kino gehört hatte, und begleitete sich mit dröhnenden Trommelwirbeln, die er mit den Fäusten auf der Wandtafel vollführte.
Hei, hei, Petrograd!
Allerschönstes Petrograd!
Petro-Petro-Petrograd!
Wunderbare Stadt!
Die Tafel knarrte und krachte in allen Fugen.
Jankel saß an seinem Platz und zeichnete ein Pferd. Als er keine Lust mehr hatte, starrte er die gegenüberliegende Wand an und murmelte gedankenlos in deutscher Sprache vor sich hin: „Der Kater geht nach Hause. Der Kater geht nach Hause.“
Er haßte die deutsche Sprache, und das war der einzige Satz, den er konnte und vorbildlich aussprach. Er operierte damit in allen Stunden, die Elanljum gab.
Daneben hockten der einäugige Mamachen, Brotkanten, Kossar und Goga zusammen.
Sie waren in das Bindfadenspiel vertieft.
Sie hatten sich einen Bindfaden über die Finger gespannt, nahmen ihn sich gegenseitig ab, bildeten daraus kunstreiche Figuren und entwirrten sie wieder mühevoll.
Plötzlich spitzten alle, die in der Klasse saßen, lauschend die Ohren. Im oberen Stockwerk war etwas los. Dutzende von Füßen trampelten über ihren Köpfen. Die Wände ächzten, Kalk rieselte von der Decke. „Sie haben eine Ratte gefangen!“ schrie Mamachen erfreut. „Eine Ratte!“ fielen die anderen ein und rannten nach oben. Im Saal herrschte ein wildes Durcheinander.
In der Mitte wirbelte Spatz herum. Er hielt den langen Strick fest, an dessen Ende eine große graue Ratte zuckte. An den Wänden drängten sich die Schkider.
„Jetzt laß ich sie laufen, und ihr müßt sie fangen!“ kommandierte Spatz.
Er bückte sich flink und schnitt dicht über dem Hals der Ratte den Strick durch.
Ein Triumphgeheul brach los.
Von dem fürchterlichen Lärm betäubt, raste die Ratte durch den Saal, aber sie fand kein Versteck.
Johlend und kreischend setzten ihr die Schkider zwischen den Bänken nach, um sie zu zertrampeln. „Hohoho! Fang sie!“ „Hinei-i-in!“
„Haut sie!“
„Drauf treten!“
Der Saal erbebte bei dem Gestampf und Gebrüll. Leise klirrten die Scheiben in den hohen Schulfenstern. „He-he-he-he! Fang sie! Fang sie!“ „Von links ran!“„Mit dem Fuß! Mit dem Fuß!“
„Los!“
Die Saaltüreii waren fest geschlossen, die Löcher verstopft. Jeder Rückzugsweg war dem grauen Vieh abgeschnitten. Vergebens bohrte es die spitze Nase in die Ecken. Überall nichts als Wände. Mamachen fühlte sich als Held des Tages. Er schnitt der gehetzten Ratte den Weg ab und setzte ihrem Leben mit einem energischen Fußtritt ein Ende.
Mit stolzgeschwellter Brust blickte Mamachen auf die Jungen, die ihn umdrängten, denn er rechnete auf Lobpreisungen. Doch er erntete nichts als zorniges Gebrumm, den anderen war das interessante Spiel viel zu früh zu Ende. „Blöder Angeber!“ „Idiot! Warum hast du sie jetzt schon abgemurkst!“
„Du denkst wohl, du hast dich mit Ruhm bekleckert! So was hätte jeder fertiggebracht!“
Mißmutig gingen die Schkider auseinander.
Im Klassenraum hatte Bober unterdessen das flotte „Hei, hei, Petrograd“ zu Ende gesungen und war zu schwermütigeren Tönen übergegangen:
Zärtlich rauscht das Seidenkleid
an dem kühlen Gummimantel…
Dann wollte er die „Trennung“ anstimmen, aber ein Gähnkrampf unterbrach ihn.
„Wollen wir nicht ein bißchen tanzen?“ schlug er gelangweilt vor. „Das könnte man machen!“ Zigeuner nickte. „Ja, los!“ fiel Jankel ein.
„Los! Tanzen!“ Auch die anderen waren Feuer und Flamme. Jankel raste davon, um Alnikpop zu suchen, fand ihn auf dem Korridor und bettelte: „Spielen Sie uns doch einen Walzer, Onkel Serjosha, ja? Und vielleicht noch was!“ Im Weißen Saal hatte sich die gesamte erwachsene Bevölkerung der Republik versammelt. Wie bei einem richtigen Ball wählten die Schkider ihre Tanzpartner, und dann stellten sich die Paare feierlich hintereinander auf.
Alnikpop legte verträumt den Kopf zurück und griff in die Tasten. Unter den Klängen des Donauwalzers drehten sich die Paare im Kreise. Eigentlich konnte nur ein Paar — Zigeuner und Bober — richtig tanzen. Die übrigen trampelten bloß im Kreise und schubsten sich. „Signori! Mesdames! Einen Walzer! Wiegt euch, dreht euch, schaukelt euch rum!“ quietschte Jankel, umschlang graziös seine Dame — Japs — und trat ihr zärtlich auf den Fuß.
Japs verzog schmerzhaft das Gesicht, stampfte aber unverdrossen weiter.
„Verdammt! Eine Viertelstunde drehen wir uns schon auf dem gleichen Fleck!“ stellte er verblüfft fest.
Der Walzer wurde von einem Foxtrott abgelöst, der Foxtrott von einem Tango.
Allmählich brandete die Fröhlichkeit über die kühlen, weißen Saaltüren hinaus.
Gerade als die Schkider in fessellosem Feuer einen Krakowiak mit den durchlöcherten Staatsstiefeln aufs Parkett hämmerten, tat sich die Tür auf, und Vikniksor stand auf der Schwelle. „Jungens!“
Erschrocken jaulte der Flügel auf und verstummte mitten im Akkord. Die Paare stutzten, hörten auf zu stampfen und machten halt. Der Direktor machte ein merkwürdig feierliches Gesicht. „Jungens!“ wiederholte Vikniksor, nachdem es vollkommen still geworden war. „Kommt sofort alle in den Eßraum. Wir wollen eine allgemeine Schulversammlung abhalten.“
Aufgeregt summten die Stimmen in dem halbdunklen Eßraum. Es roch nach Seehundstran.
Die kahlrasierten Köpfe drehten sich eifrig hin und her, und auf allen Gesichtern stand die Frage: Was ist geschehen? Eine Schulversammlung war für die Schkider etwas Neues. Das erlebten sie zum erstenmal. Alle warteten ungeduldig auf Vikniksor. Was würde er sagen? Endlich trat der Direktor ein. Minutenlang betrachtete er die Kinder, dann winkte er einen Erzieher heran.
„Sergej Iwanowitsch!“ sagte er laut. „Sie sind heute Schriftführer. Die Jungen wissen mit der Selbstverwaltung noch nicht Bescheid.“ Schweigend nahm der Erzieher Platz, legte ein Blatt Papier vor sich hin und wartete ab. Vikniksor kratzte sich nachdenklich hinter dem Ohr. Dann richtete er sich auf.
„Kinder!“ begann er. „Bisher herrschte in unserer Schule noch kein richtiges Leben…“ Er unterbrach sich. „Moment, ich hab' den Anfang vergessen. Also, hiermit erkläre ich die erste allgemeine Schul-versammlung für eröffnet. Heute werde ich den Vorsitz führen, und Sergej Iwanowitsch schreibt das Protokoll. Auf der Tagesordnung steht mein Vortrag über die Selbstverwaltung der Schule. Ich beginne.“ Die Schkider schwiegen argwöhnisch. Sie warteten ab, was ihr Steuermann ihnen zu sagen hatte.
„Ich bitte um Aufmerksamkeit. Was ist unsere Schule? Sie ist eine kleine Republik.“
„Wohl eher eine Monarchie“, flüsterte Japs ironisch dazwischen. „Unsere Schule ist eine Republik, aber in einer Republik hat das Volk immer die Macht in der Hand. Bei uns war das bisher noch nicht der Fall. Einerseits hatten wir die Zöglinge, andererseits die Erzieher, die ich leitete. Dadurch wurde unsere Verfassung gewissermaßen gestört.“
„Richtig!“ rief eine unterdrückte Stimme aus dem Rudel der Schkider. Vikniksor runzelte drohend die Stirn, beherrschte sich aber.
„Jetzt wird das anders“, fuhr er fort. „Ich möchte euch meinen Plan auseinandersetzen. Die Schule muß mit dem Leben Schritt halten, und darum wollen wir in unserem Kollektiv die Selbstverwaltung einführen.“
„Oho!“
„Prima!“
Die Schkider waren verblüfft.
„Ja, die Selbstverwaltung. Ist euch dieses Wort etwa unbekannt? Ich will euch das System der Selbstverwaltung erläutern. Heute wählen wir die Ältesten aus für die Klassen, die Schlafräume, die Küche und die Garderobe. Sie sind verpflichtet, die Diensthabenden zu bestimmen, und zwar für einen Tag. Heute hat der erste Dienst, morgen der zweite, übermorgen der dritte und so weiter. Auf diese Weise werdet ihr im Laufe der Zeit alle in das gesellschaftliche Leben der Schule einbezogen. Verstanden?“
„Natürlich!“
„Gut. Die Ältesten wählen wir für einen Monat oder für zwei Wochen. Aber damit ist es noch nicht getan. Die Küchen- und Garderobenältesten müssen kontrolliert werden. Hierzu wählen wir drei Revisoren, deren Arbeit ich kontrollieren werde. Einverstanden?“
„Klar! Einverstanden!“ klang es zurück.
„Auf diese Weise haben wir die Möglichkeit, Diebstähle und sonstige Unredlichkeiten zu verhindern.“
„Aha! Richtig!“
Vikniksor fühlte sich äußerst wohl in seiner Haut. Es kam ihm vor, als hätte er eine richtige Heldentat, eine diplomatische Meisterleistung vollbracht. Es drängte ihn zu weiteren Verkündigungen. „Außerdem wird der Pädagogische Rat den Ältestenrat einberufen, damit die von euch gewählten Schülervertreter alle wesentlichen Maßnahmen für die Schule und ihre weitere Arbeit gemeinsam mit uns erörtern können.“
Die Schkider waren tief beeindruckt. Rufe und Antworten verschmolzen zu einem wilden Gebrüll. „Hurraaa!“
Vikniksor schritt bereits zum Wahlgang. Wie bei einer Versteigerung rief er die zu vergebenden Posten aus, und die Jungen antworteten in vielstimmigem Geschrei mit den Namen der Kandidaten. „Küchenältester. Wen schlagt ihr vor?“ rief Vikniksor. „Jankel!.. Zigeuner!“
„Jankel Tschornych!“
„Tschornych soll Ältester werden!“
„Wer ist für Tschornych? Gebt das Handzeichen! Wer ist dagegen? Niemand. Also einstimmig angenommen. Tschornych — du bist Küchenältester.“
Es hatte bereits zum Schlafengehen geklingelt, aber die Versammlung schlug weiter hohe Wellen der Erregung. Mitternacht war schon längst vorüber, als Vikniksor endlich aufstand. „Alle Posten sind vergeben“, erklärte er. „Es ist schon lange Schlafenszeit.“ Er ging zur Tür, aber da fiel ihm etwas ein, und er wandte sich noch einmal zurück. „Hiermit schließe ich die Versammlung. Übrigens habt ihr in der letzten Zeit reichlich viel Skandal gemacht, Kinder, und deshalb habe ich beschlossen, für die unverbesserlichen Sünder den Karzer einzuführen. Verstanden? Und jetzt marsch ins Bett.“
„Da habt ihr eure Verfassung!“ hetzte Japs hinter Vikniksor her. Doch der Direktor hörte ihn nicht mehr.
„Hoch Vikniksor! Er ist doch ein feiner Kerl!“ meinte Jankel begeistert. Er witterte allerhand Annehmlichkeiten in seinem Amt als Küchenältester. „Ja, großartig!“
„Jetzt sind wir gleichberechtigte Bürger.“
„He, Bürger Vikniksor, Platz gemachtl Ein Bürger der Schkid kommt!“ Japs blieb bei seiner Skepsis.
Vikniksors neues Gesetz wurde überall diskutiert — im Schlafraum, in den Klassenzimmern, in der Toilette.
Vergebens rackerte sich der arme Alnikpop ab, um seine aufgeregten Zöglinge zu beruhigen und ins Bett zu expedieren. Die Schkider jubelten. Nur Japs spuckte Gift und Galle.
„Ihr Dummköpfe!“ schrie er mit dem beleidigten Gesicht eines verkannten Wahrsagers. „Ihr laßt euch übers Ohr hauen! Ja, ein Parlament habt ihr bekommen, aber gleichzeitig auch das Zuchthaus!“ Er meinte die Ältesten und den Karzer.
„Stänker doch nicht immer!“ widersprachen seine Kameraden empört, aber Japs ließ sich nicht beirren.
„Oh, großes Volk der Schkider!“ Mit dramatischer Geste hob er die Arme. „Du bist verblendet! Man hat dich verhext! Ich beschwöre euch, ihr Schkider, traut Vikniksors Worten nicht, denn auch er kann euch betrügen!“
Japs hatte bisher gegen jeden neuen Einfall Vikniksors opponiert und war stets ein erbitterter Gegner aller Lehrer gewesen. Früher hatte er die meisten Jungen auf seiner Seite gehabt, aber jetzt hörte kaum jemand auf ihn. Die Schkider nahmen die Verfassung als beglückendes Geschenk.