Sara Solomonowna * Papier und „Eier“ * Altpapier für den Reisefonds * Gesetzbuch des Russischen Imperiums * Schiebung * Sklavenkarawane * Eingehandelle Tscherwonzen.
Sara Solomonownas Stand war eigentlich ein regelrechter Konditorladen. Den ganzen Tag stand sie hinter dem Ladentisch, von Büchsen mit Bonbons, Kandiszucker, Pfefferkuchen und Schokolade umgeben.
„Madame!“ pflegte Sara Solomonowna zu rufen. „Madamchen, haben Sie auch nicht vergessen, für Ihren reizenden Knaben Bonbons zu kaufen?“
Sara Solomonowna machte gute Geschäfte. Tag für Tag fuhr ihr Bruder Jascha auf einem kleinen Karren die gefüllten Bonbonbüchsen an, und abends holte er sie fast leer wieder ab. Sara Solomonowna hatte deshalb immer ein zufriedenes Gesicht. Winters und sommers stand sie von früh bis spät hinter dem Ladentisch und rief: „Bürger, warum wollen Sie Ihrer sympathischen Gattin keine Tafel Schokolade mitbringen?“
Ljonka und Jankel machten Sara Solomonownas Bekanntschaft, als sie einmal bei ihr ein Viertelpfund Streuzucker erstanden. „Bringen Sie eigentlich Ihren Stand über Nacht nach Hause?“ fragte Jankel plötzlich.
Sara Solomonowna fuhr unwillkürlich zusammen. Sie fand die Frage seltsam, ja unheimlich. Das sind wahrscheinlich Einbrecher, dachte sie. Ob sie meinen Stand aufs Korn genommen haben? „Nein“, sagte sie laut. „Ein sehr starker und ehrlicher Mann bewahrt mir den Stand auf. Er fährt ihn auf seinem eigenen Karren weg.“ „Und wieviel bezahlen Sie ihm dafür?“ forschte Ljonka. Sara Solomonowna seufzte. „Ach, fragen Sie nicht! Fünfzig Millionen muß ich ihm jeden Monat zahlen.“
„Allerhand!“ entfuhr es Jankel. „So ein Gauner!“ knurrte Ljonka. „Warum wollt ihr das wissen?“ fragte Sara.
„Wir würden Ihnen den Stand für zwanzig Millionen wegbringen“, erklärte Ljonka.
Sara Solomonowna warf den Jungen einen ungläubigen Blick zu, willigte jedoch sofort ein.
„Gut! Es ist zwar sehr verdächtig, aber ihr macht es billiger, und außerdem ist der Karren in meiner eigenen Wohnung sicherer. Der Rothaarige hat mir neulich das Verdeck zerbrochen.“ Seitdem gingen Ljonka und Jankel täglich um sieben Uhr abends auf den Markt und brachten mit einer einzigen Fuhre sämtliche Teile des verhältnismäßig leichten Verkaufsstandes von Sara Solomonowna weg. Als sie später ihr Vertrauen gewonnen hatten, halfen sie außerdem ihrem Bruder Jascha, die Ware zu holen.
„Oh, wenn ihr wüßtet, Jungens“, sagte Sara Solomonowna eines Tages, „wie schwer es ein Händler heutzutage hat. Alles ist teurer — der Gewerbeschein und die Steuern… selbst das Einwickelpapier. Das kostet mehr als die Ware.“
„Was kostet das Papier jetzt?“ erkundigte sich Jankel aus reiner Höflichkeit.
„Ach, fragt mich nicht!“ Sara seufzte. „Dreißig Millionen kostet das Pud.“
Als die Freunde den Stand in Saras Wohnung am Jekaterina-Kanal geschafft hatten und in die Schule zurückkehrten, sagte Ljonka: „Weißt du was? Ich hab' eine Idee. Wir wollen Papier sammeln.“
„Wie?“ rief Jankel.
„Ja, Papier sammeln. Ein Pud haben wir schnell, wenn wir alle alten Hefte und Zeitungen zusammensuchen. Das Pud bringt zwei Goldrubel, das ist ein netter Zuschuß zu unserem Fonds.“ „Stimmt!“ Jankel machte ein nachdenkliches Gesicht. „Wir können es ja versuchen — vielleicht bringt uns das der Verwirklichung unserer Idee näher…“ Er lächelte. „Baku…“, murmelte Ljonka verträumt.
Von diesem Tage an sammelten sie Papier. Zuerst alte, vollgeschriebene Hefte und Zeitungen. Das ergab nicht viel — je Stück ein Viertelpfund. In einer Woche hatten sie zwölf Pfund beisammen. „Puh, ist das 'ne mühselige Klauberei“, stöhnte Jankel. Trotzdem hatten sie in einem knappen Monat bereits ein Pud und sechs Pfund gesammelt. Dieses Papier verkauften sie Sara Solomonowna für fünfundzwanzig „Eier“. Außerdem bekamen sie von ihr den Monatslohn für den Standtransport. Ihr „Fonds“ enthielt schon ungefähr fünf Goldrubel.
Und dann kam noch etwas hinzu…
Eines Tages wollte sich Jankel aus der Schulbibliothek ein neues Buch holen. Er suchte in den verstaubten Regalen nach Knut Hamsuns „Hunger“. Die Bibliothekarin Maria Fjodorowna saß am Tisch und tauschte anderen Hooliganiern die Bücher ein. Durch die Schränke war Jankel ihren Blicken entzogen. Er kletterte auf der Leiter zum obersten Regal, in der Hoffnung, dort sein Buch zu finden. Statt dessen stieß er auf gänzlich verstaubte Schwarten, die als Lektüre für die heutige Jugend völlig ungeeignet waren.
Es handelte sich um das „Gesetzbuch des Russischen Imperiums“ und den „Regierungsboten“ von 1869. Etwa hundert derartige Bücher standen auf dem Regal.
Jankel zog einen Band des „Gesetzbuches“ hervor. Er war zwar nicht sehr dick, mochte jedoch mindestens zehn Pfund wiegen. Ohne lange zu überlegen, steckte sich Jankel nach einem vorsichtigen Rundblick das „Gesetzbuch“ unter die Jacke in den Gürtel, verließ unbemerkt die Bibliothek und ging in die Klasse.
„Ein Zuschuß zu unserem Fonds!“ sagte er zu Ljonka, der auf seinem Platz saß und mit großem Eifer einen miserablen Cowboy malte.
Ljonka griff nach dem Buch und blätterte darin. „Wo hast du dieses Gerumpel ausgegraben?“ erkundigte er sich. „Ja, Gerumpel ist es, bringt aber allerhand Geld“, entgegnete Jankel. „Ich hab's in der Bibliothek geklaut. Da gibt's 'nen Haufen von solchen Büchern, die kann man alle ohne weiteres mitgehen lassen.“ Ljonka überlegte.
„Eigentlich brauchen wir gar nicht zu klauen. Ich hab' einen Einfall, wie wir auf die allerehrlichste Weise reich werden können.“
„Auf ehrliche Weise?“ wiederholte Jankel verblüfft. „Ja. Das heißt, äußerlich ehrlich. In Wirklichkeit ist es 'ne Schiebung.“ „Schieß los!“ Jankel war ganz Ohr. Ljonka blätterte das Buch noch einmal durch.
„Guck, hier sind viele leere Seiten. Du gehst zu Vikniksor, zeigst ihm das Buch…“
„Vikniksor zeigen? Hast du 'n Knall?“
„Halt die Schnauze… zeigst es Vikniksor und bittest ihn um die Erlaubnis, dies 'nutzlose Gerumpel' für die Zeitung benutzen zu können.“
Jankel überlegte. Dann strahlte er. „Kapiert!“
Kurz darauf kam Vikniksor in die Klasse. Er unterhielt sich mit den Jungen, versprach einem eine Eintragung in die „Chronik“ und befahl einem anderen, seinen Mantel in der Kleiderkammer abzugeben. Als er die Klasse verlassen wollte, trat Jankel auf ihn zu. „Viktor Nikolajewitsch“, stieß er verlegen hervor. „Ich hab' eine Bitte an Sie.“
„Um was handelt es sich?“ Jankel zeigte das Buch vor.
„Hier… das ist ein 'Gesetzbuch des Russischen Imperiums'. In der Bibliothek hab' ich solche alten Bücher gefunden, die jetzt niemand mehr braucht. Darf ich sie zum Zeichnen nehmen? Es sind mehrere.“ „Hm… Zum Zeichnen, sagst du? Nimm sie dir nur. Der alte Kram ist tatsächlich zu nichts mehr nütze.“
Kaum hatte Vikniksor die Klasse verlassen, als Jankel und Ljonka in die Bibliothek stürzten, ein Dutzend Bücher vom Regal nahmen und sie zum Ausgang schleppten.
„Wohin, Jungem?“ rief Maria Fjodorowna.
„In die Klasse“, sagte Jankel nachlässig. „Viktor Nikolajewitsch hat es uns erlaubt.“
Erstaunt sah ihnen die Erzieherin nach. Abends erkundigte sie sich bei Vikniksor, der ihr Jankels Worte bestätigte. Innerhalb einer Woche schleppten Jankel und Ljonka etwa zehn Pud Papier aus der Bibliothek in den Hof und verstauten es unter der Treppe des Seitenflügels.
Als sie schließlich fanden, daß sie genügend beisammen hatten, stellten sie den „ehrlichen Raub“ ein und überlegten, wie sie die Last auf den Pokrowker Trödelmarkt transportieren sollten. „Mieten wir uns ein paar Jungens“, schlug Ljonka vor.
Sie suchten sich in den unteren Klassen ein paar Jungen, die bereit waren, gegen ein kleines Entgelt das Papier auf den Markt zu tragen.
Die Bürger, die an diesem Abend die Alt-Petershofer Allee passierten, wichen entsetzt beiseite, als sie einen Zug von Jungen erblickten, die gelassen auf den kahlgeschorenen Köpfen Papierpacken trugen.
„Himmel!“ rief einer. „Sind das etwa Neger? Eine Sklavenkarawane mit Elfenbein?“
„Keine Sorge!“ versetzte Jankel äußerst würdevoll. „Das sind keine Neger. Neger haben schwarze Gesichter, diese Genossen sehen jedoch ganz normal aus.“
„Nur keine Panik!“ ergänzte Ljonka.
Das sind keine Neger.
Er und Jankel marschierten an der Spitze der Karawane und nahmen zuweilen einem erschöpften „Sklaven“ hilfreich die Last ab.
Ohne besondere Zwischenfälle erreichte die Karawane den Pokrowker Markt. Dort befahlen die „Lastenbesitzer“ ihren „Sklaven“, das Papier auf der Kirchenmauer abzuladen und es „scharf im Auge“ zu behalten, während sie sich auf die Suche nach Käufern machten. Die fanden sich sehr schnell. Sara Solomonowna kaufte drei Pud, die anderen sieben wurden im Umsehen bei den Fleischständen des Marktes losgeschlagen. Eine so große Summe — zweihundertsechzig „Eier“ — hatten die Blutsbrüder noch niemals in der Hand gehabt. Davon verteilten sie sechzig Eier großzügig an ihre Lastträger und entließen sie. Nun mußten sie noch T scherwonzen kaufen.
Sie gingen zu den Valutahändlern, die zu jener Zeit alle Ein-und Ausgänge des Marktes buchstäblich versperrten. Der Tscherwonzenkurs stand gerade eins zu achtzig Millionen Papierrubel. Sie erstanden also zwei Tscherwonzen — zwei kostbare weiße Scheine. Das übrige Geld verjubelten sie noch am gleichen Tage — sie gingen ins Kino und kauften sich Zigaretten, Wurst und Brot. Die beiden Tscherwonzen wurden einstweilen an einem sicheren Ort „gehortet“. Die „Idee“ konnte nun zu jeder Zeit verwirklicht werden.