DER BRAND

Das Jubiläumsbankett * Das Kohleslückdien * Gespenster * Hände hoch * Das Drama mit der Türklinke * Das verbrannte Lieblingskind * Der neue „Spiegel“.


Heiser schlägt die Uhr die zehnte Abendstunde. Es klingelt. Erschöpft von dem lichtlosen Wintertag, den endlosen Unterrichtsstunden und der Holzschlepperei, gehen die Schkider zu Bett. Das Haus versinkt in Schlaf.

Elanljum, die diensthabende Lehrerin, ist höchst zufrieden. Heute sind die Zöglinge artig. Heute legen sie sich geräuschlos ins Bett und schlafen sofort ein. Kein wildes Geschrei, keine Kissenschlachten, nur friedlicher Gehorsam.

Das kommt selten vor, und Elanljum freut sich, daß es gerade passiert, als sie die Aufsicht führt.

Ihr Assistent, ein dicker, weißblonder, weibischer Lehrer — die Schkider haben ihn wegen seiner rauhen Haut „Reibeisen“ getauft —, schläft ebenfalls schon. Er gehört zu der unerfreulichen Lehrerkategorie der „Schlappschwänze“. Weil er gutmütig, kurzsichtig und langsam in seinen Bewegungen ist, toben sich die Schkider in seiner Gegenwart bis zur Bewußtlosigkeit aus.

Heute ist Reibeisen besonders erschöpft, weil er neben seiner Lehrertätigkeit die Funktionen eines Arztgehilfen, eines Sanitäters, ausüben muß und an diesem Tage eine Reihenuntersuchung angesetzt war. Fünfzig Schkider hat er untersucht und abgeklopft — keine leichte Arbeit!

Reibeisen schläft also, aber Elanljum ärgert sich nicht darüber. Sie wird es schon schaffen, auch ohne seine Hilfe die Jungen ins Bett zu befördern.

Ein Viertel nach zehn ist es, als sie auf die Uhr sieht. Sie beschließt, einen letzten Rundgang durch das Haus zu machen. Dabei kommt sie auch in die vierte Abteilung. Wie angewurzelt bleibt sie auf der Schwelle stehen.

Alle Jungen sitzen mit Verschwörermienen auf ihren Bänken. Beim Eintritt der Lehrerin springen sie auf und stehen stramm. Japs tritt vor. „Ella Andrejewna“, sagt er mit erstaunlicher Schüchternheit, „wir wollen heute ein Jubiläum feiern — das Erscheinen der fünfund-zwanzigsten Ausgabe unseres 'Spiegels'! Dieses wichtige Ereignis möchten wir in Gestalt eines kleinen Banketts festlich begehen. Ella Andrejewna, ich bitte Sie deshalb im Namen der Klasse, uns zu erlauben, daß wir bis zwölf Uhr aufbleiben dürfen. Wir versprechen Ihnen auch, uns ganz ruhig zu verhalten. Ja?“ Die Augen der ganzen Klasse hängen an der Lehrerin. „Gut“, sagt sie gerührt, „bleibt meinetwegen auf. Aber macht keinen Lärm.“

Nach ihrem Weggang werden die Vorbereitungen getroffen. Die Jungen rücken einen runden Tisch in die Mitte. Auf ihm stehen die bescheidenen Genüsse, die von den Jungen in den vergangenen beiden Wochen gesammelt wurden. Mamachen stellt einen Teekessel und Becher hinzu.

„Ich bitte zu Tisch!“ sagt er weltmännisch.

Würdevoll nehmen die Jungen Platz. Jankel setzt zu einer Rede an: „Liebe Freunde, jetzt ist also die fünfundzwanzigste Nummer unseres 'Spiegels' erschienen…“

Er stockt, weil ihm die Worte fehlen. Aber auch ohne Worte ist alles klar. Er holt eine komplette Sammlung der Spiegelausgaben hervor und breitet sie auf den Bänken aus. Wie ein buntes Band liegen die fünf undzwanzig Nummern auf dem schwarzen, zerkratzten Holz. Fünf-undzwanzig Hefte, fünfundzwanzig Wochen angestrengter Arbeit — das spricht deutlicher als Worte vom Erfolg der Redaktion. Die Klasse betrachtet die alten Nummern so respektvoll, als wären es Museumsstücke. Nur Kaufmann interessiert sich nicht für den „Spiegel“.

Er hockt in einer Ecke und beschäftigt sich mit der Vertilgung einer Wurst. Er ist ebenfalls gehobener Stimmung, aber nicht wegen der Zeitung, sondern wegen der „Fresserei“.

Dann setzen sich die Jungen wieder an den Tisch, trinken Tee, knabbern an den Zwiebäcken und verzehren Wurstbrote. Es ist heiß im Raum.

Der Eisenofen, der während der Kälteperiode im Zimmer steht, wird schon seit dem Morgen mit Holz geheizt, das die Jungen beim Pförtner gestohlen haben. Tee und Hitze haben die Jungen müde gemacht. Gedankenlos sitzen sie da und wissen nicht, worüber sie sich unterhalten sollen.

„Biber“, ein Junge aus der dritten Klasse, den es zufällig auf das Bankett verschlagen hat, summt leise das „Äpfelchen“ vor sich hin:

Seht das Äpfelchen am Fenster,

hier in Petrograd, da gibt's Gespenster…

Doch das „Äpfelchen“ paßt nicht recht zu einem Jubiläumsbankett. Die Jungen möchten etwas Feierlicheres, Majestätischeres singen. So stimmt Jankel die Schulhymne an:

Ost und West und Süd und Nord

hat sich hier gefunden.

Eintracht ist das Losungswort,

dem wir treu verbunden.

Alle Jungen fallen ein:

Schluß mit der Vergangenheit!

Lernend nützen wir die Zeit

für das neue Leben,

für das neue Leben!

Nur Kaufmann singt nicht mit. Er findet, daß es weitaus angenehmer ist, sich an dem kleinen Eisenöfchen zu wärmen. Er strahlt über das ganze Gesicht, während er vor dem dickbäuchigen Ofen hockt und mit der Feuerzange in der Glut stochert. „Mamachen, sieh mal nach, wie spät es ist“, sagt Jankel. Doch im selben Augenblick geht die Tür auf, und Elanljum tritt ein. „Schlafenszeit, Jungens. Es ist schon halb eins.“

Widerspruchslos springen die Schkider auf, stellen Tische, Schemel und Stühle lautlos an ihren Platz, räumen die Reste des Jubiläumsbanketts ab und stellen das Geschirr aufs Tablett. Mit liebevoller Sorgfalt packt Jankel die Urheber des Festes — die „Spiegel“ — Nummern — in seine Bank zurück und geht, mit den anderen auf Zehenspitzen zur Tür.

Dort hält ihn Elanljum zurück. Mit dem Kopf weist sie auf den Ofen. Jankel kehrt um. Eilig hantiert er mit dem Feuerhaken und schließt die Klappe, als er sieht, daß keine Glut mehr im Ofen ist. Beim Hinausgehen bemerkt er ein winziges Stück glimmender Kohle. Es ist aus dem Ofen gefallen und liegt nun dicht an der Wand auf dem Fußboden. Jankel müßte es eigentlich aufheben oder austreten, aber er ist zu faul dazu.

Ach, es wird schon nichts passieren. Die Kohle wird gleich ausgehen, denkt er und verläßt die Klasse.

Im Schlafraum ist es still. Alle schlafen. Ihre Atemzüge haben die Luft erwärmt, aber gerade diese stickige Schwüle macht das Zimmer gemütlich. Es riecht so bewohnt.

Die kleine Deckenlampe glimmt so schwach, daß der Schein der Straßenlaterne durch die bereiften Fenster hereinfallen und das Zimmer beleuchten kann. Im Schlafraum ist es still. Manchmal schreckt ein unruhiger Schläfer mit leisem Schrei aus einem bösen Traum hoch und dreht sich erschrocken auf die andere Seite. Dann hebt er den Kopf, setzt sich auf, erkennt, daß er sich weder im Tigerkäfig noch in der Mathematikstunde oder am Rande eines Abgrunds befindet, sondern im vertrauten Schlafraum der Schkid, und beruhigt sich wieder.

Von neuem zieht Stille in den Schlafraum ein.

Jankel erwachte, drehte sich auf die andere Seite und schlug gähnend die Augen auf. Es war noch dunkel. Die anderen Jungen schliefen. Die Deckenlampe glimmte immer noch, aber die Straßenlaterne brannte nicht mehr.

Es wird zwei oder drei Uhr sein, dachte Jankel und ließ den Kopf ins Kissen zurücksinken. Da fiel sein Blick auf ein kleines graues Wölkchen, das unter der Lampe hing.

Verdammt, im Schlaf räum darf man doch nicht rauchen! schoß es ihm durch den Kopf.

Aber er hatte keine Lust zu langen Überlegungen, er war müde, wickelte sich in seine Decke und schloß die Augen. Plötzlich rief jemand im Nebenzimmer nach dem Lehrer. Reibeisen wälzte sich ächzend im Bett herum und stand auf. „Wer hat mich da gerufen?“ krächzte er, blinzelte wehleidig und faßte sich an den Kopf.

„Hasenfuß“ war es, der nach ihm gerufen hatte — der längste, dünnste und gleichzeitig feigste aller Schkider.

„Es raucht irgendwo! Sie sind doch Lehrer, Sie müssen mal nachsehen!“ jammerte er.

Jankel wollte jetzt ebenfalls wissen, woher der Rauch kam. „Wahrhaftig, Onkel Wolodja!“ setzte er dem unglücklichen Sanitäter zu. „Sie müssen unbedingt feststellen, wo es raucht!“ „Du siehst doch, daß ich krank bin, Tschornych!“ stöhnte Reibeisen jämmerlich. „Sieh doch selbst nach.“ Jankel wurde wütend.

„Gehen Sie zum Teufel! Ich bin nicht Ihr Lakai!“ Energisch drehte er sich auf die andere Seite und versuchte zum drittenmal einzuschlafen. Da krachte plötzlich die Tür auf, und eine dicke Rauchwolke drang ins Zimmer. Als sie sich lichtete, erblickte Jankel den Direktor. Vikniksor rieb sich keuchend die Augen. „Jungem, steht sofort auf“, sagte er ruhig und laut, nachdem er wieder sehen konnte.

Das hätte er gar nicht erst zu sagen brauchen. Die Hälfte der Schkider war bereits erwacht. Hastig zogen sich die Jungen an. Sie ahnten, daß etwas Schlimmes passiert war. Als Vikniksor sah, daß Jankel schon einigermaßen fertig angekleidet war, rief er ihn zu sich und sagte leise: „Du mußt versuchen, dich zu Semjon Iwanowitsch, zum Lagerverwalter durchzuschlagen. Aber nimm ein Kissen mit — zum Schutz vor dem Rauch.“

Jankel nickte schweigend, griff nach seinem Kissen und ging zur Tür. „Wo willst du hin?“ rief ihm Biber zu. Er war schon fertig angezogen. Als er begriff, was Jankel vorhatte, erklärte er: „Ich komme mit.“ Jankel nickte. „Los!“

Der Schlafraum summte wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm. Die Jungen streiften sich die Sachen über, die Schläfer wurden geweckt. Während Jankel den Raum verließ, hörte er hinter sich Kaufmanns mißmutige Stimme. Die anderen schüttelten ihn und schrien ihm ins Ohr, daß es brenne, aber er lachte nur wütend und hysterisch. „Laßt mich in Ruhe, ihr Schurken. Ohoho! Nicht kitzeln! Haut ab!“ Biber fuhr in seinen eleganten „aus der Freiheit“ mitgebrachten Halbpelz, während er hinter Jankel herrannte. „Auf geht's!“

„Na, komm!“

Sie sahen sich an. Dann riß Jankel entschlossen die Tür auf, preßte das Kissen auf den Mund und duckte sich.

Ekelhafter Brandgeruch drang ihnen in die Nase. Der Rauch umschloß sie wie eine undurchdringliche Wand.

Sie faßten sich an den Händen und tasteten sich zum Saal. Als Jankel einmal die Augen öffnete, sah er über sich die Lampe in den Rauchschwaden flimmern.

Der sonst so helle Saal war jetzt finster, wie mit schwarzen Decken ausgeschlagen.

Die Jungen rannten hindurch und bogen in den Korridor ein. Nur manchmal öffneten sie die Augen, um sich an den Lampen zu orientieren. Der Rauch drang durch die Kissen und biß sie in die Kehle. Ihre Augen tränten. Es war fürchterlich, herumzulaufen, ohne zu wissen, wo es brannte.

„Wenn wir nun ins Feuer hineinrennen?“

Doch da leuchtete ihnen hinter einer Biegung helles Licht entgegen. Die Rauchschwaden nahmen ab. Der Wirtschaftsleiter stand bereits in der Tür. Der Brandgeruch hatte ihn alarmiert.

„Es brennt, Semjon Iwanowitsch!“ schrien Jankel und Biber gleichzeitig und atmeten gierig die frische Luft. „Feuer!“

„Aber Kinder!“ stotterte der Wirtschaftsleiter aufgeregt. „Lauft schnell zur Feuerwehr. Wartet, ich schließe die Hintertreppe auf.“ Die Vorlegekette klirrte. Die Hände des alten Mannes zitterten so, daß er nicht gleich den Schlüssel ins Schloß stecken konnte. „Gehen wir?“ fragte Jankel. Zaudernd sah er Biber an. „Natürlich. Wir müssen.“

Vom Kissen abgesehen, das Jankel in der Hand hielt, trug er nur Unterhemd, Hose und seine Stiefel, die er noch nicht zugeschnürt hatte. Unschlüssig sah er den Kameraden an — Biber trug seinen Halbpelz, er hatte keinen Grund zum Zögern. Sollte Jankel mitgehen oder nicht? Er wollte schon ablehnen, aber dann entschloß er sich doch: „Los!“

Sie rannten die Treppe hinunter, der Hofpförtner Meftachudyn schloß ihnen das Tor auf, und dann standen sie auf der Kurlandstraße. „Wir wollen sehen, wo es brennt!“ keuchte Jankel.

Sie traten auf den Fahrdamm. Als sie zu den Fenstern emporblickten, schrien sie auf.

In vier Fenstern des unteren Stockwerks stand grellrotes Licht, das einen Widerschein auf den Schnee warf.

„UnsereKlasse!“ heulte Jankel. „Alles verbrannt! Der 'Spiegel' auch!“ Ohne ein weiteres Wort stürzten beide in die Dunkelheit. Trotz des Frostes und seiner mehr als dürftigen Bekleidung fror Jankel kaum. Nur seine Ohren schmerzten.

Ringsum war es totenstill, kein Mensch auf der Straße. Tiefe Nacht. Im Dauerlauf rasten sie die pfeilgerade Alt-Petershofer Allee hinunter, vorüber an einer hell beleuchteten Fabrik. Als sie nicht mehr rennen konnten, gingen sie keuchend zu einem schnellen Schritt über. Beide waren von Sorge um die Schkid gequält.

„Sieh mal!“ flüsterte Jankel dem Kameraden plötzlich zu, ohne den Schritt zu verlangsamen. „Da schleicht jemand.“ Sie starrten auf eine Hausruine, aus der ein grauer Schatten huschte, offenbar, um ihnen den Weg abzuschneiden. Biber erblaßte. „Gespenster! Sie wollen mir den Halbpelz wegnehmen.“

„Komm, wir rennen!“ unterbrach Jankel. Er hatte keinen Raub zu fürchten, denn es war unwahrscheinlich, daß ihm ein Bandit das letzte Hemd, noch dazu ein altes Unterhemd, wegnehmen würde. Mit zusammengebissenen Zähnen und ängstlichen Blicken beschleunigten die Schkider ihren Schritt. Sie wollten an dem unheildrohenden Schatten vorüberschlüpfen, aber das Manöver mißlang. Hinter dem Ziegelhaufen tauchte ein Mann in einem grauen Rock auf. Er hielt einen Revolver in der Hand. „Halt! Hände hoch!“

Die Jungen blieben stehen und hoben gehorsam die Hände. Ohne den Revolver sinken zu lassen, musterte der Soldat die Schkider mißtrauisch. „Wohin wollt ihr?“

Biber verlor seine Angst, als er erkannte, daß es kein Bandit war. „Zur Feuerwehr!“ antwortete er munter. „Woher?“

„Aus dem Internat. Bei uns brennt es.“

Der Graurock zögerte einen Augenblick. Dann steckte er den Revolver weg.

„Kommt mit, ich bringe euch hin“, brummte er sehr viel freundlicher als zuvor.

Unterwegs kamen sie ins Gespräch. Die Jungen erfuhren, daß der Mann mit dem Revolver ein Tschekist war. „Ich habe euch für Banditen gehalten, ihr Bengels“, er lachte. „Wir Sie auch“, gestand Jankel mit wiedergewonnener Keckheit. „Mich?“

„Ja. Wir glaubten, Sie seien ein Gespenst.“

„Na, von dieser Gilde ist in Petrograd niemand mehr übriggeblieben. Die haben wir alle weggefangen“, erklärte der Tschekist. Da merkte er, wie dürftig Jankel gekleidet war, zog seinen Mantel aus und sagte: „Los, leg ihn um, sonst erkältest du dich.“

Sie langten in der Wache an. Kaum waren die Jungen in den ersten Stock gegangen und hatten den Brand gemeldet, als sie schon wieder nach unten gerufen wurden.

Dort brannten bereits rote Fackeln. Die Kupferhelme der Feuerwehrleute blitzten, und zottige Pferde schnaubten.

Die Feuerwehrleute setzten die Jungen auf den Wagen, und das Kommando raste davon. Geklingel, Sirenengeheul, Hufgeklapper und Pferdegewieher zerrissen die nächtliche Stille.

Als sie vor der Schule anlangten, hatte sich dort schon eine ziemlich große Menge von Gaffern gesammelt. Fast gleichzeitig traf ein zweiter Feuerlöschzug ein. Jankel und Biber wollten über die Hintertreppe hinauflaufen, aber der Wirtschaftsleiter jagte sie trotz ihrer hitzigen Proteste zurück. Zur gleichen Zeit spielten sich im Schlafraum Tragödien ab. Eine lange Zeit verging, bevor es gelungen war, alle Schlafenden aus-den Betten zu holen. Als sie schließlich wach waren, hatte sich das Zimmer mit dicken Rauchwolken gefüllt. Es qualmte aus allen Ritzen.

Eine Panik brach aus. Ein kleiner Junge fing an zu weinen. Fensterscheiben klirrten.

Schreiend rannten die Jungen durcheinander. Die Tür sprang auf, und Elanljum stürzte in den Schlafraum. „Kinder! Nehmt euch ein Kiasen. Kommt her!“

Wie eine Hammelherde um den Hirten, drängten sich die Jungen um die Lehrerin, als könne sie Wunder tun. Selbst Kaufmann, der sich unentschlossen den Nacken gekratzt und friedlich seine Zigarette aufgeraucht hatte, rückte näher an sie heran.

„Haltet euch das Kissen vor den Mund!“ überschrie Elanljum die aufgestörte Schar. „Folgt mir! Faßt euch an den Händen, damit keiner abhanden kommt.“

Der Brand hatte inzwischen weiter um sich gegriffen, wie die Rauchwolken verrieten, die immer dichter und schwärzer wurden. Elanljum riß die Tür wieder auf und schritt mutig in die undurchdringlichen Schwaden hinein.

Die Jungen folgten ihr auf dem Fuße.

Sie hatten nicht weit zu gehen. Sie brauchten nur rechts abzubiegen, drei Schritte über den Treppenabsatz zu machen und die Tür zur Direktorwohnung zu öffnen. Dort war ein Ausgang zur Hintertreppe. Die ganze Schule drängte sich bereits auf dem Treppenabsatz, in der ungeduldigen Erwartung, daß die erlösende Tür bereits geöffnet wurde. Doch bei den vorderen gab es eine Stockung.

Sie konnten die Messingklinke nicht finden. Dutzende von Händen tasteten über Wände und Türrahmen, störten sich gegenseitig beim Suchen, fanden aber die Klinke nicht.

Sehen konnten sie nichts — rußschwarzer Rauch verklebte ihnen die Augen und ließ sie tränen.

„Schnell!“ stöhnten die Jungen gepreßt. „Wir ersticken!“ Einer bekam Rauch in die Kehle, mußte husten und stieß einen gellenden Schrei aus. Es wurde immer fürchterlicher.

Kaufmann hatte finster an der Wand gestanden. Er hielt die Untätigkeit nicht länger aus, stieß die Kameraden, die sich auf dem Treppenabsatz drängten, beiseite, fuhr langsam mit der Hand über die Wand, ertastete die Türfüllung und fühlte so lange weiter, bis er auf die Klinke stieß.


Sie suchten ihre Habseligkeiten.


Blendendhelles Licht strömte aus der geöffneten Tür, und die halberstickten Jungen taumelten in den Korridor. Elanljum zählte sie durch. Keiner fehlte. Erleichtert atmete sie auf, dann bekam sie einen neuen Schreck. „Kinder! Wo ist der Lehrer?“ Totenstille war die Antwort. „Wo ist der Lehrer?“ wiederholte sie alarmiert. „Er liegt noch immer im Schlafraum, der Dummkopf“, gab Kaufmann gutmütig lächelnd Auskunft. „Er stöhnt, steht aber nicht auf, zum Piepen!“

Elanljum schrie auf, griff sich an den Kopf und stürzte durch den verqualmten Korridor zum Schlafraum zurück. Fünf Minuten später donnerten Schläge an die Tür.

Als die Schkider eilig öffneten, bot sich ihnen ein merkwürdiges Bild. Elanljum zerrte Reibeisen an der Hand hinter sich her. Er kroch in Unterhose und Unterhemd hilflos über den Fußboden, keuchend, mit heraushängender Zunge, mit halbirrem Blick.

Den vereinten Anstrengungen der Jungen gelang es, beide in den Korridor zu ziehen. Dort sank Reibeisen ohnmächtig zu Boden. Keuchend lehnte sich Elanljum an die Wand. Doch kurz darauf hatte sie sich bereits wieder erholt, und ihre Stimme schallte über den Korridor: „Alle gehen die Treppe hinunter, aber nicht auf die Straße, sondern zu Meftachudyn in die Pförtnerwohnung!“

Die Jungen strömten in den Hof und rannten trotz des Verbotes auf die Straße. Niemand mochte zum Pförtner gehen. Zitternd vor Kälte, starrten sie auf die brennenden Fenster. Ihre Angst verflog, und allmählich machte ihnen die Sache Spaß. Jankel und Japs standen am Zaun und blickten ebenfalls zum Hause empor. Aber sie kämpften mit den Tränen.

Klirrend platzte eine Scheibe, eine Feuerzunge schoß aus der Öffnung und leckte über die reifbedeckte Hausmauer.

An der Ecke schnaufte eine Dampfpumpe. Die im Schnee liegenden Wasserschläuche schwollen an.

Feuerwehrleute mit Äxten rannten vorbei. Auf der Feuerleiter, die links aufgestellt wurde, kletterte bereits ein flinker Bursche mit blitzendem Helm empor. Kläglich klirrten die letzten Fensterscheiben in dem brennenden Stockwerk; fauchend zischten dicke Wasserstrahlen aus den Schläuchen.

„Unsere Klasse brennt! Halunken!“ schimpfte Zigeuner. Er war zu Jankel und Japs getreten.

Sie schienen ihn nicht zu hören. Zähneklappernd vor Kälte und Aufregung, stammelten sie immer wieder: „Der 'Spiegel'! Der 'Spiegel'!“

„Mein Papier! Meine Farben!“ ergänzte Jankel zuweilen verzweifelt. „Marsch in die Pförtnerwohnung!“ donnerte Vikniksor sie an. Nach einem letzten schmerzlichen Blick auf die brennende Klasse schlüpften die Jungen ins Tor.

In der Pförtnerwohnung drängten sich bereits viele halbbekleidete, vor Kälte zitternde Schkider.

Die Wohnung war klein, und deshalb saßen sie sogar auf den Fensterbrettern und dem Fußboden. Von der Straße drang der Lärm der Löscharbeiten herein, die Jungen zog es unwiderstehlich hinaus, aber Meflachudyn, dem es allerstrengstens verboten war, sie vor das Tor zu lassen, stand an der Tür.

Er war ein gutmütiger Tatare mit verstümmelten Händen. Er stammte aus Samara, war vor dem Hunger nach Petrograd geflohen und hatte in der Schkid eine Unterkunft gefunden. Die Jungen mochten ihn gern, aber heute haßten sie ihn.

„Laß mich doch hinaus, Meftachudyn, ich möchte zugucken!“ flehte Spatz. Doch der Pförtner schob ihn freundlich zurück. „Bleib sitzen, du Brandstifter“, sagte er gedehnt. „Was gibt es draußen zu sehen? Gar nichts! Setz dich hin!“

Zuweilen schoben Elanljum oder Vikniksor weitere Schüler, die sie auf der Straße erwischt hatten, hinein und verschwanden dann wieder, um sich erneut auf die Suche zu machen.

Eng zusammengedrückt, niedergeschlagen und verzweifelt saßen die Jungen da — eine endlose Zeit. Schon graute der Morgen. Jeder Schkider machte sich seine Gedanken über die Ursache des Brandes.

„In der vierten Abteilung haben sie den Eisenofen überheizt, dabei muß der Fußboden angebrannt sein.“

„Vielleicht ist die elektrische Schnur brüchig gewesen.“

„Oder jemand hat geraucht und den Stummel weggeworfen.“ Doch nur Jankel kannte den wirklichen Grund: Unablässig stand ihm die kleine rote Kohle — aufglühend und verlöschend — vor Augen.

Der Morgen kam.

Die Feuerwehrleute fuhren ab. Im Schnee blieben schmutzige Pfützen und Haufen von verkohlten Brettern zurück.

Traurig starrten sechs leere Fensterhöhlen. Ruß, Rauch und Brandgeruch stiegen den ersten Passanten in die Nase. Zwei Klassen und der Fußboden im Schlafraum waren ausgebrannt. Am Morgen gingen die Großen auf die Brandstätte und betrachteten kummervoll die verkohlten Balken, die geschwärzten Fensterrahmen und die verrußten Wände. Sie suchten ihre Habseligkeiten; sie hofften, noch irgend etwas aus dem Schutt zu wühlen. Auch Jankel und Japs waren dabei. Sie suchten nach dem „Spiegel“; doch wie sehr sie auch forschten, sie konnten keine Spur entdecken.

Als sie den Raum wieder verlassen wollten, bückte sich Jankel noch einmal über einen Haufen von verbranntem Zeug, steckte die Hand hinein und zog etwas Formloses, Nasses, Zerfledertes heraus. Es waren die wohlbekannten, mit Druckbuchstaben beschriebenen Blätter.

„Hurra! Er ist heil!“

Mit allergrößter Vorsicht, unter Beteiligung beinahe der ganzen Klasse förderten sie ihr Lieblingskind zutage. Aber wie sah es aus! Die Ränder waren angesengt, das Papier vergilbt. Das Wasser hatte die vollständige Vernichtung des „Spiegels“ verhindert. Dann war anscheinend Putz darauf gefallen und hatte ihn unter Trümmern am Leben erhalten.

Die Redakteure jubelten.

Anschließend hielt Vikniksor eine Versammlung ab und fragte die Schüler nach ihrer Meinung über die Brandursache. „Der Eisenofen ist schuld!“ war die allgemeine Ansicht. Daraufhin wurden die kleinen Eisenöfen sofort in einem feierlichen Akt aus der Schule verbannt.


Zwei Tage später nahmen die dritte und die vierte Klasse den Unterricht wieder auf. Sie waren in die inzwischen renovierten Klassen eingezogen. Sie sahen nicht schlechter aus als früher, aber den Jungen kamen die neuen Wände kalt und unfreundlich vor, und sie konnten sich nur langsam daran gewöhnen.

Jankel und Japs war die Liebe zu dem alten „Spiegel“ vergangen. Er war in ihren Augen jetzt nicht mehr als ein abscheulicher Krüppel. Lange Zeit konnten sie sich nicht entschließen, die sechsundzwanzigste Nummer der Zeitung herauszugeben. Aber dann setzten sie sich doch zusammen und beschlossen: „Mit dem alten 'Spiegel' wird jetzt Schluß gemacht!“

Zwei Wochen später erschien die erste Nummer der elegant ausgestatteten bunten Zeitschrift „Der Spiegel“, die sich von ihrem zwar ehrwürdigen, aber farblosen Vorgänger wesentlich unterschied. Doch es dauerte lange, bis sich die Republik Schkid von ihren Brandwunden erholt hatte — genauso, wie ein kleines Land nach einem großen Kriege erst langsam wieder gesundet.

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