Jankel als Diensthabender * Sturm auf die Vorratskammer * Japanischer Tabak * Der Schlafraum feiert ein Fest Das schicksalhafte Mittagessen * Gebt die Mäntel ab! * Jankel als Tierschinder * Auge um Auge Audienz bei Vikniksor * Gogas Verrat * Tod für Jankell * Ein nasses Idyll.
Wie die Ereignisse allmählich bewiesen, hatte Vikniksor recht gehabt, den neuen Zögling als begabten Jungen vorzustellen. Nachdem Jankel mehr als eine Woche in der Schkid verbracht hatte, wurde beschlossen, seine Begabung für die gesellschaftliche Arbeit auf die Probe zu stellen.
Damals gab es nicht besonders viel derartige Arbeit in der Schkid, aber zu den wenigen gesellschaftlichen Pflichten gehörte eine höchst ehrenvolle und wichtige — der Küchendienst.
Der Diensthabende — ein Zögling — war vor allem verpflichtet, Brot und andere Lebensmittel aus der Vorratskammer zu holen. Dort bestimmte ein alter, grauhaariger Wirtschaftsleiter über Wohl und Wehe der ihm anvertrauten Kindermagen.
Der Diensthabende nahm die Tagesrationen in Empfang und brachte sie der majestätischen Köchin in die Küche. Sie teilte die kargen Zuteilungen an Grütze und Heringen mit virtuoser Geschicklichkeit so ein, daß nicht nur ein aus zwei Gängen bestehendes Mittagessen herauskam, sondern außerdem noch die Grütze für das Abendessen. Jankel wurde also zum Diensthabenden ernannt. Da ihm dieses Tätigkeitsfeld jedoch noch unbekannt war, gab man ihm zur Anleitung und Hilfe einen weiteren Zögling bei Kossar.
Als die ersten Strahlen der Wintersonne zaghaft über die Wände des Schlafraums glitten, erhob sich der dicke, melancholische Kossar mürrisch von der Pritsche und zog sich die Stiefel an.
„Jankel, steh auf, du hast Dienst“, krächzte er.
Das Aufstehen war alles andere als ein Vergnügen. Ringsum schnarchten — zusammengerollt, auf dem Rücken ausgestreckt oder die Nase ins Kissen gebohrt — acht junge Strubbelköpfe. Jankel hatte die größte Lust, sich die warme Decke über die Nase zu ziehen und noch ein halbes Stündchen in den Schnarchchor einzustimmen. Hinter der Wand klimperte jemand auf dem Klavier. Das war Kamel, der immer beim ersten Sonnenstrahl erwachte und nun seine Tonleitern übte. Sein Geklimper besagte, daß es acht Uhr war. Jankel gähnte verschlafen. „Nichts zu rauchen?“ fragte er Kossar. „Nee.“
Sie zogen sich flüchtig an und machten sich auf den Weg zur Vorratskammer, die auf dem Boden untergebracht war. Darunter wohnte der Wirtschaftsleiter in einer Einzimmerwohnung, die durch einen ziemlich langen Korridor vom Treppenhaus getrennt war. Die Korridortür wurde immer abgeschlossen, und man mußte lange klopfen, bis der Wirtschaftsleiter es hörte.
Jankel und Kossar blieben vor der Korridortür stehen. Kossar reckte sich faul und schlug mit der Faust an die Tür, um den Wirtschaftsleiter herbeizurufen. Plötzlich riß er die verschlafenen Augen auf. Die Tür hatte sich durch seinen Schlag geöffnet.
„So ein Dussel! Vergißt, die Tür abzuschließen!“ Kossar schüttelte den Kopf, winkte Jankel, ihm zu folgen, und ging in den dunklen Korridor.
Sie tasteten sich bis zur nächsten Tür, öffneten sie und traten in das sonnendurchflutete Vorzimmer.
Hier war es warm und gemütlich, daß die verschlafenen Vertrauensleute unwillkürlich den Schritt verhielten, um einige Augenblicke der Ruhe und des Alleinseins zu genießen, bevor sie zum Zimmer des Wirtschaftsleiters gingen.
In dieser Sekunde vollzog sich das unkomplizierte, aber denkwürdige Ereignis, bei dem Jankel zum erstenmal seine überragende Begabung offenbarte.
In den Kampf mit seiner überwältigenden Schlaftrunkenheit vertieft, stand Kossar da, sämtliche Gedanken auf den Entschluß konzentriert: Wir müssen zum Wirtschaftsleiter hineingehen. Als seine Willenskraft gerade über seine Faulheit siegen und er schon die Türklinke herunterdrücken wollte, hörte er plötzlich Jankels seltsam veränderte Stimme. „Willst du rauchen?“ zischte der Junge.
Ob Kossar rauchen wollte? Na, und ob! Die gesamte Energie, die er zum Türöffnen gesammelt hatte, brach sich in einer Kehrtwendung Bahn und in dem nachdrücklichen Ruf: „Ich will!“
„Dann rauch doch! Bitte, da ist Tabak.“
Kossar folgte Jankels Blicken. Seine Augen richteten sich auf den Tisch. Er erstarrte.
Dort lagen in schnurgeraden Reihen säuberliche braune Tabakpäckchen von je einem Viertelpfund. Auf der Verpackung erspähte das erfahrene Raucherauge die Aufschrift: „Sonderklasse B“. Vierzig Päckchen I zählten die Vertreter der angewandten Mathematik in Gedanken.
Sie sahen sich an und kamen wortlos zu dem gleichen Ergebnis: 40 — 2 = 38. — Die Differenz wird man kaum bemerken. Genauso wortlos gingen sie zum Tisch, steckten sich je ein Päckchen in die Tasche und schlichen auf Zehenspitzen aus dem Zimmer.
Die Tür knarrte in die Traumstille des Schlafraums, und zwei aufgeregte Strolche stürmten ins Zimmer. „Leute! Tabak!“
Acht Köpfe fuhren unter den Bettdecken hervor, acht Paar Augen blitzten lüstern, als sie in Jankels und Kossars erhobenen Händen die reizvollen Päckchen wahrnahmen. Zigeuner reagierte zuerst. Mit einem Satz sprang er aus dem Bett, nahm die verführerischen Päckchen aus nächster Nähe in Augenschein und forschte gierig: „Wo?“
Die Diensthabenden wiesen schweigend mit dem Kopf nach oben. Zigeuner stürmte los und verschwand hinter der Tür. Der Schlafraum hielt in qualvoller Erwartung den Atem an. „Hurra, Halunken! Ich hab' welchen!“ Zigeuner schoß herein und schwenkte siegestrunken zwei Päckchen.
Beispiele stecken an, und keine Macht der Welt hätte die übrigen zurückhalten können.
Ausnahmslos alle wollten ein Viertelchen Tabak besitzen. Unter Mißachtung jeder Vorsichtsmaßnahme startete der Schlafraum wie im Wettlauf zum Sturm auf das Zimmer — das Ziel seiner Wünsche. Fünf Minuten später triumphierten die Schkider. Jeder betastete, knetete und preßte das unselige Päckchen, das ihm das Schicksal so unerwartet in den Schoß geworfen hatte.
Der pechschwarze Stotterer Goga, der als passionierter Raucher noch mehr als die übrigen am Tabakmangel gelitten und auf der Straße jede Kippe aufgesammelt hatte, wußte sich vor Freude kaum zu lassen. Er saß in der Ecke, das braune Päckchen fest in der Hand, und wiederholte dauernd: „Wir haben T-tabak! Wir haben T-tabak!“ Jankel hockte auf der Pritsche und sang mit dummem Grinsen:
Ein englischer Mantel,
japanischer Tabak,
hüho! Du mein Pferdchen!..
Vor lauter Freude sah niemand, daß ein überzähliges Päckchen auf dem Fensterbrett lag, bis Zigeuner es bemerkte.
„Halunken! Wessen Tabak liegt da auf dem Fensterbrett? Haben alle ein Päckchen?“
„Ja. Jeder hat ein ganzes Päckchen.“ „Es ist also überzählig?“
„Freilich.“
„Oho, prima! Sogar eines zuviel!“
„Dann teilen wir es. Und die vollen Päckchen verstecken wir.“ „Los!“
„Teile es. Alle sind einverstanden.“
Das überzählige Päckchen wurde in zehn Teile zerfleddert. „Den Tabak schleunigst verstecken!“ befahl Zigeuner dann drohend. „Und reinen Mund halten. Kein Wort zu den Externen. Verstanden, Halunken? Und wer ertappt wird, soll sich rauswinden, ohne die anderen zu verpfeifen.“
„Klar. Quatsch nicht. Das wissen wir…“
Als der Erzieher an diesem Morgen in den Schlafraum kam, war er höchst überrascht, daß er niemanden mehr zu wecken brauchte. Die gesamte Mannschaft war bereits auf den Beinen. Väterchen lächelte zufrieden.
„Fein, Kinder!“ sagte er lobend. „Nett von euch, daß ihr heute gemeinsam aufgestanden seid.“
„Oho, Onkel Serjosha, wir können aber auch noch früher aufstehen.“ Zigeuner lachte mit schadenfrohem Gesicht. „Tüchtig, Kinder, tüchtig!“
„Na, Onkel Serjosha, so tüchtig sind wir nun auch wieder nicht.“ Inzwischen waren Jankel und Kossar wieder zur Vorratskammer gegangen.
Der Wirtschaftsleiter hatte noch nichts gemerkt. Mit dem gewohnten freundlichen Lächeln wog er die Lebensmittel ab. Er erkundigte sich dabei nach Schulneuigkeiten, sprach über das Wetter, über den beginnenden Frost und gab jedem der beiden Strolche ein Butterbrot. Jankel schwieg dazu, Kossar murmelte einen mürrischen Dank, aber beide atmeten erleichtert auf, als sie die Vorratskammer verlassen hatten.
Sie blieben hinter der Tür stehen und wechselten einen vielsagenden Blick. Dann schüttelte Jankel niedergeschlagen den Kopf. „Wir rasseln rein!“ zischelte er. „Glaub' ich auch“, knurrte Kossar.
Der Tag nahm seinen üblichen Verlauf. Dem Frühstück folgten die Unterrichtsstunden, dazwischen kamen die Pausen. Alles war wie immer. Höchstens, daß sich die Externen wunderten: Die Internatsschüler bettelten sie heute nicht um Kippen an, sondern rauchten in gelassenem Triumph ihre duftenden Selbstgedrehten. In der vierten Pause, kurz vor dem Mittagessen, wurde Jankel unruhig. Der Verlust konnte jeden Augenblick entdeckt werden, und sein Tabak lag immer noch unter seinem Kopfkissen. Die anderen, die ihre Beute bereits in Sicherheit gebracht hatten, schürten seine Aufregung.
Atemlos rannte er die Treppe hinauf in den Schlafraum, holte den Tabak hervor, blieb dann aber ratlos stehen.
Wo sollte er ihn verstecken? Hinter den Ofen werfen? Unmöglich — beim Reinemachen würde man ihn finden. Im Ofen? Da würde er verbrennen. Im Ofenrohr? Würde er in den Ofen rutschen. Jankel flitzte auf den Korridor, rannte zum Badezimmer und stürmte hinein. Erleichtert wollte er den Tabak unter die Badewanne schieben. Aber mit einem Fluch zog er die Hand zurück — jemand war ihm zuvorgekommen.
In panischer Erregung stürzte er in den leeren Saal, der als Abstellraum diente und mit Schulmöbeln vollgestellt war. Mit verzweifelter Entschlossenheit steckte er den Tabak unter ein beschädigtes Katheder. Nun konnte er endlich beruhigt sein. Während er die Treppe hinunterging, hörte er die Klingel schrillen. Das war das Zeichen zum Mittagessen. Er besann sich darauf, daß er ja Dienst hatte, und rannte Hals über Kopf in die Küche.
Zu seinem Amt gehörte es, zehn Achtelbrote zu schneiden — die Portionen für die Internatsschüler.
In der Schkid war das Mittagessen eine Art religiöser Zeremonie, deren Regeln sich jeder Neue erst einprägen mußte. Zuerst betraten die Internatsschüler den Eßraum. Schweigend setzten sie sich an ihren Tisch. An einem anderen Tisch nahmen die Externen Platz.
Eine Minute lang saßen alle wortlos da, die Hände auf den Rücken gelegt, und starrten aus hungrigen Augen auf die Tür, die zur Küche führte.
Dann erschien der Direktor, ein Heft in der Hand. Der zweite Akt — der Namensaufruf — begann.
Morgens und abends, beim Mittagessen und beim Abendbrot, wurden sämtliche Zöglinge aufgerufen, und jeder mußte antworten: „Hier!“ Er erhielt das Recht zum Essen erst dann, wenn sein Name abgehakt, wenn er also tatsächlich im Eßraum anwesend war und seine Lebensmittelzuteilung an die richtige Adresse kam. Danach brachte der Diensthabende die Achtelbrote auf einem Holztablett herein und legte jedem sein Stück hin. Anschließend erschien die schlitzäugige, blatternarbige Marta. Sie verteilte die ewige Hirsesuppe mit Heringsbrühe und die ewige Hirsegrütze — die Vorratskammer enthielt nichts als Hirse und Heringe. Die Margarine, mit der die Grütze gewürzt war, wurde zuweilen durch Seehundstran ersetzt.
Auf Vikniksors Signal begann ein allgemeines Schnaufen, Prusten und Schmatzen, das übrigens nicht allzulange dauerte, weil die Portionen an Suppe und Grütze dem Appetit der Schkider nicht entsprachen. Zum Schluß, als Nachtisch, hielt Vikniksor eine Rede. Er sprach von den letzten Ereignissen außerhalb der Schule, von seinen neuen Plänen und Maßnahmen, oder er berichtete nur, daß es ihm gelungen sei, einige Kubikmeter Holz für die Schule zu ergattern. Das wiederholte sich Punkt für Punkt auch an dem Tage, an dem Jankel Dienst hatte, nur daß Vikniksors Rede diesmal ethischen Fragen gewidmet war. Voller Zorn und Verachtung wetterte der Direktor über jene verantwortungslosen Schüler, die dem abscheulichen Laster der Gefräßigkeit frönten, die versuchten, ihre Portion schneller oder außerhalb der Reihe zu erhalten.
Die Rede ging zu Ende. Ob das Auditorium mit ihr einverstanden war, blieb unbekannt. Der Schulleiter war jedenfalls befriedigt. Er wollte gerade in sein Zimmer gehen, um sich seine Portion Heringsbrühe und Hirsegrütze einzuverleiben, als der Wirtschaftsleiter in das reibungslos durchgeführte Programm einbrach.
Er wankte zur Tür herein, trippelte mit zittrigen Greisenschritten auf den Direktor zu und redete leise auf ihn ein. Die Strolche witterten Unheil. Ihre Gesichter zogen sich in die Länge. Während die gute Hirsegrütze, die Nahrung der Soldaten und der Kinderheimzöglinge im und nach dem Bürgerkrieg, sonst in sie hineinrutschte, blieb sie jetzt in zehn Kehlen stecken und verlor jeden Geschmack. Es roch nach Pulver.
Lange redete der Wirtschaftsleiter — länger, als es den Schkidern paßte.
Zehn Augenpaare beobachteten, wie sich Vikniksors Gesicht allmählich veränderte. Zuerst schoben sich die Augenbrauen erstaunt in die Höhe, und die Nasenspitze senkte sich. Dann verzogen sich die schmalen Lippen zu einer entrüsteten Grimasse. Der Zwicker erzitterte gramvoll auf dem Nasenrücken, und die Nasenspitze rötete sich. Schließlich stand Vikniksor auf.
„Kinder!“ sagte er. „Bei uns ist eine große Gemeinheit passiert.“ Sorglos studierten die Externen sein zornglühendes Gesicht. Sie erwarteten, als zweiten Nachtisch eine Zusatzrede zu hören. Den Internatsschülern dagegen erbebte das Herz und stockte der Atem. „In unserer Schule ist ein Diebstahl begangen worden. Einige Kanaillen haben aus dem Vorzimmer des Wirtschaftsleiters elf Tabak-päckchen, die für die Erzieher bestimmt waren, gestohlen. Jungen, ich wiederhole: Das ist eine Gemeinheit. Wenn die Schuldigen in einer halben Stunde nicht gefunden sind, werde ich entsprechende Maßnahmen ergreifen. Merkt euch das!“
Es war die kürzeste und inhaltsreichste Rede, die Vikniksor seit Gründung der Schkid gehalten hatte, und die erste, die einen gewaltigen Sturm entfesselte.
Seinen Worten folgte allgemeine Entrüstung. Besonders empört zeigten sich die Externen, für die das alles eine Überraschung war. Den Internatsschülern blieb nichts anderes übrig, als in die Entrüstung einzustimmen.
Der Sturm pflanzte sich aus dem Eßraum in die Klassenzimmer fort, aber die halbe Stunde verstrich, ohne daß die Diebe gefunden wurden. Folglich traten automatisch die „Maßnahmen“ des Direktors in Kraft, und sie offenbarten sich sehr bald.
Nach Unterrichtsschluß wurden den Internatsschülern die Mäntel weggenommen. Das bedeutete Ausgehverbot. Ein schwerer Schlag!
Das Stimmungsbarometer fiel auf den Nullpunkt, und obgleich die aktiven Elemente — Zigeuner, Spatz, Jankel und Kossar — den Widerstandsgeist aufrechtzuerhalten suchten, hatten ihre Reden kaum noch Erfolg.
Vergeblich rollte Zigeuner die wilden schwarzen Augen und sagte zähneknirschend mit furchteinflößender Stimme: „Seht euch vor, Halunken, bleibt eisern! Keine Geständnisse!“ Man hörte ihm nicht mehr zu.
In qualvoller Langeweile zog sich der endlose Winterabend hin. Hinter den grauen Eisblumen am Fenster klingelten munter die Straßenbahnen. Die Kutscher schrien. Hier aber, in dem halbdunklen Schlafraum, lungerten zehn Strolche tatenlos herum. Jankel hatte sich in eine Ecke verkrochen und die Katze gefangen. Erbarmungslos zerrte er sie am Schwanz. In verzweifeltem Selbstbehauptungstrieb versuchte sie sich loszureißen und miaute kläglich, als ihr das mißlang. „Laß doch, Jankel! Was quälst du das Vieh“, verteidigte Spatz gelangweilt das „Vieh“, aber Jankel ließ sich in seiner Beschäftigung nicht stören.
„Jankel, schinde die Katze nicht. Ihr ist wahrscheinlich genauso miserabel zumute wie uns!“ Kossar war einer Meinung mit Spatz. Auch die übrigen nahmen für die Katze Partei. Zuerst hatten sie teilnahmslos zugeschaut, aber als sie sahen, daß das arme Tier nicht mehr aus noch ein wußte, griffen sie ein. „Wahrhaftig, was machst du denn mit ihr!“
„Das tut ihr doch weh! Laß sie los!“
„Dich sollte man mal am Schwanz ziehen, dann würdest du es merken.“
Ein Erzieher kam in den Schlafraum.
„Oh, Onkel Serjosha ist da! Onkel Serjosha, erzählen Sie uns was!“ schmeichelte Zigeuner, aber das Wort blieb ihm im Halse stecken. Der Erzieher warf ihm einen strengen Blick zu. „Gromonoszew, vergessen Sie nicht, wen Sie vor sich haben!“ sagte er scharf. „Für Sie bin ich weder Onkel noch Serjosha. Gehen Sie gefälligst ohne langes Gerede ins Bett.“ Die Tür knallte zu.
Lange wälzten sich die sorgenbeschwerten Schkider auf ihren knarrenden Pritschen herum, und jeder überdachte den Vorfall auf seine Weise, bis der allmächtige tiefe Schlaf ihren Kummer überwand und sie unter den Klängen von Kamels Tonleitern weit fort aus dem stickigen Schlafraum trug.
Früh am Morgen wurde Jankel durch die Sorge geweckt: Ob der Tabak noch da ist?
Er versuchte, sich von diesem Gedanken frei zu machen, aber die böse Ahnung verließ ihn nicht. Er stand auf, zog sich notdürftig an und schlich in den Saal.
Da war das Katheder. Unter Anspannung aller Kräfte hob Jankel es hoch, hielt das schwere Möbel mühsam im Gleichgewicht und spähte darunter. Der Tabak war nicht zu sehen.
Schwitzend vor Aufregung, suchte er sich ein dickes Brett, schob es unter eine Kante des Katheders, legte sich auf den Bauch und tastete. Der Tabak war weg. Jankel versuchte es von der anderen Seite. Seine Hand stieß nur auf glattes, staubiges Parkett. Ihm wurde eiskalt vor Schreck.
„Wahrscheinlich unter dem anderen Katheder!“ sagte er zur Beruhigung laut vor sich hin.
Neue Anstrengungen, neues Herumkriechen, neue Enttäuschung. Auch unter dem dritten Katheder war der Tabak nicht zu entdecken. „Die Teufel haben mir den Tabak geklaut!“ schrie Jankel zornig. EP hatte jede Vorsicht vergessen. „Einen Kameraden zu bestehlen! Feine Sitten!“
Wütend drohte er dem Schlafraum mit der Faust. Dann schlich er aus dem Saal und ging ins Badezimmer.
Als er wieder in der Tür stand, lächelte er. In der Hand hielt er ein nagelneues Tabakpäckchen.
„Ella Andrejewna! Heißt es auf deutsch 'die Fenster' oder,das Fenster'?“
„Das Fenster!“
Elanljum liebte ihre Muttersprache über alles; sie bemühte sich deshalb, auch ihren Schülern diese Liebe einzupflanzen. Das eintönige Geleier der Klasse, die eine neue Geschichte von irgendwelchen Gärtnern auswendig lernte, klang daher wie Musik in ihren Ohren. „Sorokin? Woran denkst du? Beschäftige dich mit deinen Aufgaben.“
„Worobjow, du liest ja ein Buch, das nicht zum Unterricht gehört. Gib es sofort her.“
„Ella Andrejewna, ich lese gar nicht.“
„Gib das Buch her.“
Spatzens Buch landete auf dem Tisch, und Elanljum beruhigte sich wieder.
„Jetzt kommen wir zum Nacherzählen!“ verkündete die Deutschlehrerin, nachdem die Frist für das Auswendiglernen verstrichen war. „Gromonoszew, sage die erste Zeile auf.“ Zigeuner rasselte auf deutsch den ersten Satz herunter: „Am Fluß war das Ufer, am Ufer stand ein Haus.“
„Tschornych, fahre fort.“
„Vor dem Haus stand ein Apfelbaum, auf dem Apfelbaum wuchsen Äpfel.“
Plötzlich platzte Kamel in den Unterricht.
„Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Ella Andrejewna“, brummte er mit böser Stimme. „Die Schüler Tschornych, Gromonoszew und Worobjow sollen zum Direktor kommen. Ich möchte sie hinbringen, wenn Sie gestatten.“
Auf dem Wege zu Vikniksor schwiegen die Strolche beharrlich. Kamel, sonst so freundlich und sanft, zupfte mürrisch an seiner Pickelnase und rückte seinen Kneifer zurecht.
Vor der Tür des Direktorenzimmers zögerten die Schkider unwillkürlich und sahen sich an. In ihren Augen stand ein und dieselbe Frage: Warum bestellt er uns zu sich? Ob er schon?.. Vikniksor saß am Schreibtisch und sah ein Schriftstück durch. Die Strolche blieben stehen, traten abwartend von einem Fuß auf den anderen und blickten den Direktor unsicher an. Schließlich unterbrach Jankel schüchtern die qualvolle Stille: „Viktor Nikolajewitsch, wir sind da.“ Der Direktor wandte sich um und stand auf.
„Ausgezeichnet, daß ihr da seid“, versetzte er gedehnt. „Nun bringt auch den Tabak her.“
Wenn der Direktor auf den Tisch geklettert wäre und ihnen einen Bauchtanz vorgeführt hätte, wären die drei nicht so verblüfft gewesen wie jetzt.
Wir haben keine Ahnung!
„Viktor Nikolajewitsch! Wir haben keine Ahnung! Das ist eine Beleidigung!“ klang es einträchtig aus drei Kehlen. „Bringt den Tabak her!“ wiederholte der Direktor, ohne die Stimme zu heben.
„Wir haben ihn doch nicht weggenommen.“
„Bringt den Tabak her.“
„ViktorNikolajewitsch! Bei Gott! Wir haben ihn nicht!“ schwor Jankel. Das klang so aufrichtig, daß er, über sich selbst erschrocken, staunte. „Ihr habt ihn nicht genommen? Nein?“ forschte der Direktor böse „Wirklich nicht?“
Den Jungen sank der Mut, aber noch hielten sie stand. „Nein! Wirklich nicht!“
„So? Und warum haben eure Kameraden ein Geständnis abgelegt und dabei eure Namen genannt?“
„Welche Kameraden?“
„Alle — samt und sonders.“
„Das wissen wir nicht.“
„Das wißt ihr nicht? Aber den Tabak erkennt ihr wieder?“ Vikniksor wies auf den Tisch. Den Jungen entschwand die letzte Hoffnung. Auf dem Tisch lagen sieben Päckchen des gestohlenen Tabaks — angerissen, zerdrückt, zerfetzt.
„Na, wie ist es jetzt? Habt ihr den Tabak genommen?“
„Ja, Viktor Nikolajewitsch.“
„Dann bringt ihn schleunigst her“, befahl der Direktor. Vor der Tür blieben die drei stehen. Jankel spuckte aus.
„Reingerasselt!“ brummte er giftig. „Jetzt bringen wir den Tabak, und dann geht es uns an den Kragen. Fragt sich bloß, welcher Teufel uns geritten hat, daß wir den Tabak klauten!“ „Aber wer hat uns verpfiffen, Halunken?“ Zigeuner war aufrichtig empört.
„Ja, wer hat uns verpfiffen?“
Diese unglückselige Frage hing in der Luft. Ohne sie gelöst zu haben, trotteten die drei davon, um ihr Diebesgut zu holen.
Jankel kam als erster zurück. Er schnupfte auf, legte dem Direktor das Päckchen auf den Tisch und trat zurück. Dann erschien Spatz. Zigeuner blieb aus.
Es vergingen eine Minute, zwei, drei, zehn Minuten. Von Zigeuner keine Spur.
Vikniksor verlor allmählich die Geduld. Da stürzte Zigeuner herein und machte fassungslos mitten im Zimmer halt. „Na?“ brummte der Direktor. „Wo ist der Tabak?“ Zigeuner antwortete nicht. „Ich frage dich, wo der Tabak ist?“
„Viktor Nikolajewitsch, mein Tabak… er ist weg! Man hat ihn mir geklaut… gestohlen…“ Zigeuners Stimme klang sehr leise. Jankel durchfuhr es. Jetzt wußte er, wessen Tabak er in seiner Wut weggenommen hatte, und nun mußte der arme Zigeuner das ausbaden. Außer sich vor Zorn, sprang Vikniksor auf Zigeuner zu, packte ihn am Kragen und schüttelte ihn wie einen Sack hin und her. „Lügen willst du, Bandit? Lügen?“ fauchte er. „Bring den Tabak her! Los!“
Jankel kam es vor, als würde er selbst geschüttelt. Aber er brachte nicht den Mut auf, ein Geständnis abzulegen. Plötzlich fand er einen Ausweg.
„Viktor Nikolajewitsch! Gromonoszew hat keinen Tabak mehr, das summt!“
Vikniksor ließ Zigeuner los und starrte dessen Verteidiger wütend an. Jankel sank der Mut, aber er war entschlossen, seinen Plan durchzuführen.
„Sehen Sie, Viktor Nikolajewitsch, ein Päckchen haben wir gemeinsam aufgeraucht. Es war überzählig. Und eines… eines haben Sie wahrscheinlich gefunden, nicht? Das muß Gromonoszews Päckchen gewesen sein.“
„Richtig. Eins hat mir ein Erzieher gebracht“, murmelte der Direktor nachdenklich.
„Aus dem Badezimmer?“ fragte Zigeuner. „Nein, nicht aus dem Badezimmer.“ Jankel durchfuhr es wieder.
„Na gut“, knurrte Vikniksor. „Ihr könnt jetzt gehen. Über euer abscheuliches Verhalten werden wir später beraten.“
Der Unterricht war beendet. Lärmend und lachend gingen die Externen heim. Die Haustür schlug zu.
Betrübt beobachtete Jankel, wie die Tür hinter dem letzten zufiel, wie der Diensthabende sie verschloß und die Kette vorlegte. Die sturen Böcke können herumspazieren und nach Hause gehen! dachte er niedergeschlagen und trottete in den Schlafraum. Dort empfing ihn ohrenbetäubender Lärm. Der Schlafraum war außer sich.
Als er in der Tür stand, fuhr Zigeuner auf ihn los. „Jankel, weißt du, wer uns verpfiffen hat?“
„Na?“
„Goga, der Halunke.“
Goga stand in der Ecke, von der rasenden Menge an die Wand gedrückt. Erschrocken und kraftlos wehrte er die Fäuste von seiner Nase ab. Jankel stürmte zu Goga hin.
„Du Schuft! Wie konntest du das tun, he?“
„A-a-aber, i-ich hab' es d-doch nicht absichtlich g-getan, Jungens!“ jammerte Goga. Flehend hob er die braunen Augen in dem Bestreben, sich zu rechtfertigen. „V-vikniksor hat mich z-zu sich g-geholt und g-gesagt: 'I-ich hörte, d-daß d-du den T-tabak gestohlen hast.' Und d-da d-dachte ich, ihr hättet es gesagt, und hab' es z-zugegeben. Und d-dann fragte er, w-wie wir den T-tabak gestohlen hätten. Und d-da hab' ich gesagt:,Z-zuerst sind Tschornych und K-kossorow hingegangen, d-dann Gromonoszew und z-zuletzt alle anderen.“
„Und z-zuletzt alle anderen!“ äffte Jankel den Stotterer nach. Aber es widerstrebte ihm, den Jungen zu verprügeln — erstens, weil er so dämlich hereingefallen war, und zweitens, weil er sowieso immer Mitleid erweckte.
Jankel spuckte aus, ging weg und warf sich auf seine Pritsche. Auch die anderen zerstreuten sich. Nur Goga blieb weiter in der Ecke stehen — als habe man ihn zur Strafe dahin gestellt. „Was soll nun werden?“ seufzte einer. Jankel wurde von Wut gepackt.
„Jetzt jault ihr mir die Ohren voll, ihr Trantüten! Was werden soll? Was wird, das wird, da gibt es nichts zu jammern. Wenn ihr hinterher flennt, hättet ihr vorher den Tabak nicht klauen sollen!“
„Wer hat ihn denn geklaut?“
„Ihr!“
„Nein, du!“
Jankel blieb die Spucke weg.
„Wieso ich? Ich hab' ihn für mich geklaut, das ging euch nichts an. Was hackt ihr jetzt auf mir herum?“
„Du bist der Anstifter.“ Es wurde still.
Am meisten quälte die Strolche das Bewußtsein, daß ihnen Strafe drohte. Sie barsten beinahe vor Wut. Bei dem geringsten Anlaß würden sie explodieren, sich auf den ersten besten stürzen und ihn verprügeln.
Hätten die Jungen die Strafe schon gekannt, wäre ihnen wohler zumute gewesen — Ungewißheit quält mehr als Erwartung. Zuweilen unterbrach ein trauriger Seufzer die Stille. Dann herrschte wieder nachdenkliches Schweigen.
Jankel lag da und starrte stumpfsinnig zur Decke empor. Er hatte keine Lust zum Nachdenken, außerdem fiel ihm auch nichts ein. Das Geseufze und Gestöhne machte ihn kribblig. „Weshalb haben wir bloß auf den verdammten Jankel gehört!“ brach Spatz schließlich das Schweigen. Seine Stimme klang so verzweifelt, daß Jankel es nicht mehr ertragen konnte. Er hatte das Bedürfnis, Spatz mit gehässigen, bösen Worten zum Weinen zu bringen. Aber er beschränkte sich auf die spöttische Bemerkung: „Setz dich Vikniksor doch auf den Schoß, Spätzchen, und bettle um Verzeihung!“ „Das würde ich auch tun, wenn du nicht wärst!“
„Dussel!“
„Selber einer! Stiftest alle an und liegst jetzt gleichgültig da.“ Jankel wurde wütend.
„Ach, du kurzbeiniger Halunke! Hab' ich dich vielleicht angestiftet?“
„Alle hast du angestiftet!“
„Tatsache, das hat er“, klang es von den anderen Betten. „Ihr seid Halunken, aber keine Kameraden!“ Jankel wußte nicht mehr, was er sonst sagen sollte.
„Mach mal halblang! Von wegen Halunken! Dafür kriegst du eins in die Fresse!“
„Haut mich doch!“
„Das machen wir auch! Du Katzenschinder!“
„Auf ihn mit Gebrüll!“ Das war die Stimme von Spatz. Jankel hörte sie dicht über sich. Er sprang aus dem Bett. „Gib es ihm, Spatz! Feste! Keine Angst, wir helfen dir!“
Die Sache nahm eine gefährliche Wendung. Und wer weiß, was die wütenden Schkider mit Jankel angestellt hätten, wenn der Direktor nicht in diesem Augenblick hereingekommen wäre. Die Jungen sprangen aus den Betten, setzten sich hin und senkten den Kopf. Grabesstille.
Vikniksor ging quer durch das Zimmer, blickte aus dem Fenster, trat dann mitten in den Raum, blieb stehen und sah die Zöglinge prüfend an. Niemand sagte ein Wort.
Ungewißheit quält mehr als Erwartung.
„Jungens!“ Seine Stimme klang ungewöhnlich laut. „Jungens, wir haben euer Vergehen eben im Pädagogischen Rat erörtert. Es ist abscheulich, niedrig, schurkisch — eine Tat, um derentwillen man euch samt und sonders wegjagen, ins Kloster, in die Besserungsanstalt, bringen müßte. Ja, ins Kloster, in die Besserungsanstalt!“ wiederholte Vikniksor, und die Schkider senkten noch tiefer den Kopf. „Aber so einfach haben wir uns die Entscheidung nicht gemacht. Wir haben das Problem gründlich erörtert und erst dann einen Beschluß gefaßt. Wir beschlossen…“
Die Schkider hielten den Atem an. Eine so gespannte Stille trat ein, daß ein zu Boden fallendes Streichholz wie ein Donnergetöse geklungen hätte. Die qualvolle Pause dauerte unerträglich lange. „Und wir beschlossen“, fuhr der Direktor endlich fort, „wir beschlossen… euch überhaupt nicht zu bestrafen…“
Die angstgeladene Stille hielt noch einen Augenblick an. Dann War sie wie abgeschnitten.
„Viktor Nikolajewitsch! Tausend Dank!“
„Wahrhaftig, Viktor Nikolajewitsch?“
„Allerherzlichsten Dank! Es wird nie wieder vorkommen!“ „Bestimmt nicht! Wir danken Ihnen!“
Die Jungen drängten sich um den Direktor, der ihnen plötzlich so gütig, so väterlich vorkam. Lächelnd stand er da und streichelte die gesenkten Köpfe.
Im Überschwang der Gefühle schluchzte plötzlich einer auf, ein zweiter, ein dritter taten es ihm nach, und dann brachen alle in Tränen aus.
Nur Jankel bewahrte noch die Fassung. Aber dann spürte er, daß auch ihm die Tränen kamen. Und es war ganz merkwürdig — er schämte sich ihrer nicht, im Gegenteil, sie schienen die drückende Angst vor der Strafe wegzuschwemmen, und ihm wurde auf einmal leicht ums Herz. Vikniksor schwieg.
Jankel wollte dem Direktor sein Gesicht zeigen, er wollte ihm vorweisen, daß er weinte und daß es richtige Tränen in wirklicher Reue waren.
Doch als er den Kopf hochriß, verlor er gänzlich die Fassung. Vikniksor, der Schrecken der Schkider, Vikniksor, der strenge Schuldirektor, weinte genauso wie er, der Zögling Jankel… So einfach und unerwartet endete die einfach und überraschend entstandene Geschichte von dem japanischen Tabak, das erste schwerwiegende Ereignis in der Entwicklung der Republik Schkid…